BMCR 2023.11.24

Tragik oder Traktat? Zum Wechselspiel von Tragödie und Philosophie in der Antike

, , , Tragik oder Traktat? Zum Wechselspiel von Tragödie und Philosophie in der Antike. Philosophie und Literatur, 1. Baden-Baden: Nomos, 2022. Pp. 270. ISBN 9783896659941.

[Autoren und Titel werden unten aufgeführt]

 

Das vorliegende Buch ist das erste einer vielversprechenden Serie. Mit großer Freude erfuhr ich, dass Büttner, Schmidt und Simonis eine neue Serie unter dem Titel Philosophie und Literatur in dem Academia-Verlag begründeten. Diese Serie hat sich zum Ziel gesetzt, die Grenzgebiete zwischen Philosophie und Literatur zu erkunden. Diese zwei Domänen des menschlichen Geistes können entlang der Demarkationslinien zwischen Vernunft und Emotion oder Wirklichkeit und Fiktion getrennt werden, so die Herausgeber im Vorwort. Sie betonen jedoch, dass sich diese Unterscheidung auf viele Werke nicht ohne Schwierigkeiten anwenden lasse, und es daher ein Desiderat sei, die Grenzgebiete gründlich zu untersuchen. In der Serie sollen sowohl Monografien als auch Sammelbände erscheinen.[1]

Das vorliegende Buch ist das erste in dieser Serie. Es ist ein Sammelband, der die Wechselwirkung zwischen Philosophie und Tragödie erforscht.

Die Herausgeber (Büttner, Diez und Kircher) erwähnen gleich im Vorwort den alten Streit zwischen Philosophie und Dichtung, welchen Plato in seiner Politeia bekannterweise darlegte. Die Dialoge Platons, die doch so viele Merkmale eines Dramas (einer Tragödie?) tragen, sind ein dankbarer Anfang, um sich mit der Dynamik zwischen Philosophie und Tragödie zu beschäftigen.

In dem ersten Beitrag analysiert Erker das Wechselspiel von Tragödie und Komödie im platonischen Symposion. Sie beleuchtet die Lobreden auf Eros aus zwei Perspektiven: auf der einen Seite aus der Perspektive des Autors der jeweiligen Lobrede, und auf der anderen Seite im Hinblick auf die Position der Rede innerhalb des Dialogs. Sie beweist, dass Platon seinen Dialog in einer solchen Weise konstruiert, dass der Eindruck entstehen soll, dass man sich auf einem fortschreitenden Pfad Richtung Philosophie befindet. Die Reden des Phaidros, Pausanias und letztendlich auch des Arztes Eryximachos stehen den Reden der beiden Dramaturgen – des Gastgebers und Tragödiendichters Agathon und des Komödiendichters Aristophanes – voran (wobei man nicht vergessen sollte, dass Aristophanes früher hätte sprechen sollen, aber aufgrund eines Schluckaufs um Aufschub bat). Erker betont, dass diese kleine Episode Platon erlaubt, den Aufstieg zur Philosophie klarer auszuleuchten.  Die Autorin zeigt auf, dass nach Platon ein Philosoph sowohl ein Komödien- als auch ein Tragödiendichter sein müsste. Die Analyse des Symposion ist ein gelungener Anfang dieses Bandes.

Im folgenden Essay zeigt Panno, wie Plato in den Nomoi überlegt, ob er dramatische Dichtung in seinem philosophischen Staat einführen sollte. Die Einführung der Komödie wurde bereits akzeptiert und nun eröffnet sich die Frage nach der Tragödie. Es scheint, dass sie durch ein Drama ersetzt werden könnte, das das beste und schönste Leben porträtieren sollte. Der Athener, der Hauptsprecher des Dialogs, spricht sich für die Einführung der dionysischen Elemente der Tragödie aus (der Chor bekommt Wein, um sich in Selbstbeherrschung zu üben bzw. um gegen das Schamgefühl anzukämpfen), aber zugleich möchte er keine emotional geprägten Szenen vorgeführt wissen, die zu einer sogenannten katharsis hätten führen können. Panno zeigt auf, dass auf diese Weise die Nomoi selbst eine antitragische Tragödie werden. Der Autor macht sich Brechts Theatertheorie zunutze, um die recht komplizierte Situation der Tragödie innerhalb der Stadt Magnesia zu verstehen.

Karanasiou untersucht im folgenden Beitrag die intertextuellen Irrwege des Euripidesfragments aus dem Chrysippos. Die 14 erhaltenen Verse scheinen Gaia und Aether als den Anfang von allem zu beschreiben. Der Inhalt ähnelt demnach den Überlegungen der Naturphilosophen und wurde mehrfach in diesem Zusammenhang interpretiert. Karanasiou zeigt überzeugend auf, wie die unterschiedlichen Autoren (Theophrast, Heraklit der Grammatiker, Philo aus Alexandrien, Plutarch, Clemens aus Alexandrien, Galen, Marc Aurel, Sextus Empiricus und Diogenes Laertius) dieses isolierte Fragment des Euripides so auslegen, als ob Euripides Philosoph gewesen sei, auch wenn die Verse mehrdeutig sind. Karanasiou untersucht die unterschiedlichen Zitationen und leuchtet ihre Benutzung aus. Die Autorin betont, dass für Euripides religiöser und philosophischer Inhalt unzertrennlich waren. Euripides scheint die Grenzen zwischen den zwei Domänen des menschlichen Geistes nicht zu trennen (wenn sie überhaupt für ihn als zwei Domänen wahrnehmbar waren). Karanasiou untersucht die Interpretationen und zeigt, dass Euripides einen Text verfasst hat, der zwei Bereiche – Religion und Philosophie – gleichzeitig anspricht, die späteren Autoren die Passage jedoch vordergründig als einen philosophischen Text ausgelegt  haben.

Der folgende Beitrag behandelt ebenfalls Zitationen. Riedl untersucht, wie Chrysipp den Text von Euripides’ Medea benutzt und wie Galen wiederum Chrysipp’s Interpretation für seine Zwecke verwendet, um eine Aussage über die Natur der Seele zu machen. Der Autor analysiert Chrysipps Argumentationswege und zeigt überzeugend, dass Galen kein Recht hatte, Chrysipp zu kritisieren. Galen nahm an, dass der Letztere Medea 1078ff in seinem Werk Über die Seele zitierte.  Medea spricht darin den Kampf zwischen Zorn und Vernunft in ihrer Seele an, der zur Entscheidung über das Schicksal ihrer Kinder führen soll. Galen behauptet, dass Chrysipp die Passage falsch verstanden habe. Riedl zeigt überzeugend auf, dass Chrysipp vielmehr an Medea 1042f für seine Darlegung gedacht haben muss. Riedls Analyse ist klar und überzeugend.

Im nächsten Essay diskutiert Schierl die Benutzung der griechischen und römischen Tragödie in Cicero’s Tuskulanern. Cicero zitiert in diesem Werk ausgiebig aus griechischen und römischen Autoren, beide auf Latein, in eigener Übersetzung. Cicero analysiert die Klagen in griechischen und römischen Tragödien. Er bemerkt, dass die römischen Tragödiendichter (Ennius, Pacuvius und Accius) deutlich weniger Trauergesänge und Klagelieder als die griechischen geschrieben haben. Schierl zeigt auf, dass Cicero die Zitationen nicht als Ornamente ansieht, sondern vielmehr, dass er damit eine Aussage über die römische Lebensweise anstrebt. Die römische Besonnenheit wiegelt demnach den Mangel an Philosophie auf. Die römischen Autoren können demnach ihr Publikum auf das Leid des Lebens ohne weiteres vorbereiten.

Drei Beiträge über Seneca stellen das Kernstück des Bandes dar. Seneca als Philosoph sowie Tragödiendichter ist prädestiniert dazu, in einem solchen Band eine zentrale Stellung einzunehmen. Gärtner, Heil und Fischer diskutieren unterschiedliche Aspekte der Tragödien Senecas. Gärtner untersucht die Populärphilosophie in den Chorliedern. Er zeigt auf, dass das Ideal des einfachen Lebens in fast allen Tragödien erwähnt wird. Zugleich jedoch verdammt Seneca das politische Leben nicht. Er spricht vielmehr eine Warnung vor einem zu starken Engagement in der Öffentlichkeit aus.

Heil analysiert die wundersamen Ereignisse in Senecas Tragödien. In der römischen Religion wurden alle natürlichen Phänomene wie Erdbeben oder plötzliche Dunkelheit als Zeichen einer gestörten Beziehung zwischen Menschen und Göttern gedeutet. Die Stoiker interpretierten diese Wahrnehmung erneut in ihrer Sympatheia-Theorie. Heil argumentiert, dass einige dieser Phänomene keine tatsächlichen Ereignisse sind, sondern vielmehr Wahrnehmungsstörungen der Protagonisten. Heil zeigt dies überzeugend am Beispiel des Thyestes auf.

Fischer untersucht die Verwendung des Labdakidenmythos in den Tragödien Senecas, da im Zusammenhang dieses Mythos das stoische Konzept von freiem Willen und fatum besonders klar zum Vorschein kommt. Fischer beweist, dass die Tragödien nicht nur eine Wiederholung der philosophischen Schriften darstellen, sondern vielmehr eigenständige Literaturwerke sind, in denen Philosophie einen recht großen Raum einnimmt, jedoch nicht ihr einziges Ziel ist.

Als den letzten Essay in dem Band haben sich die Herausgeber entschieden, Pirros Beitrag zur politischen Theorie von Hannah Arendt aufzunehmen. Arendt diskutiert die amerikanische Geschichte in On Revolution und verwendet dabei römische Beispiele. Am Ende jedoch wendet sie sich dem sophokleischen Theseus aus dem Ödipus in Kolonos zu. Pirro stellt klar, dass Theseus für die politische Freiheit steht. In seiner Interpretation legt Arendt den Amerikanern nahe, dass sie ihre Bewunderung den Gründungsvätern gegenüber ablegen und sich vielmehr um reife politische Freiheit bemühen sollten. Er betont, Arendt sei auf diese Weise eine Dramaturgin und Gründungsmutter zugleich.

Der Band ist gut durchdacht. Die Beiträge bauen sehr überzeugend aufeinander auf und die besondere Stellung Senecas ist wohl überlegt. Es gibt ein paar Kleinigkeiten, die bei der nächsten Auflage korrigiert werden könnten (in Pannos Beitrag finden sich bedauerlicherweise ein paar Tippfehler im Griechischen – p. 71 oder ein fehlender spiritus – p. 80) und eine Inkonsequenz: nur der Beitrag von Pannos ist mit einem Abstract und Schlüsselwörtern versehen, die anderen nicht.

Die Herausgeber haben gute Arbeit geleistet und wir können mit Freude die nächsten Bände in der Serie erwarten.

 

Authors and Titles

Sandra Erker, Komödie, Tragödie und der Aufstieg des Philosophen zum Schönen Selbst in Platons Symposion

Giovanni Panno, Die wahrste Tragödie als Metatheater: ein Verfremdungsprozess in Platons Nomoi?

Argyri G. Karanasiou, Euripides’ (φυσικὸς λόγος in Chrysippos frg. 839K zwischen Religion und Naturphilosophie: eine intertextuelle Interpretation

Tobias Riedl, Das Leitorgan der Seele: Galen, Chrysipp und die Medea des Euripides

Petra Schierl, Griechische und römische Tragödien in Ciceros Tusculanae disputationes

Thomas Gärtner, Das populärphilosophische Motiv des einfachen Lebens’ in den Chorliedern der Senecatragödien

Andreas Heil, Prodigien in Senecas Tragödien. Gestörte kosmische Ordnung oder Wahrnehmungsstörung?

Susanna Fischer, Ιam iam aliquid in nos fata moliri parant. Der Oedipus-Mythos in der stoischen Philosophie und in Senecas Tragödie

Robert C. Pirro, Die griechische Tragödie in Hannah Arendts politischer Theorie

 

Notes

[1] Viele werden die Serie Oxford Studies in Philosophy and Literature kennen. Aus dem Bereich der antiken Literatur ist bereits der Band The Oedipus Plays of Sophocles 2018 erschienen (herausgegeben von Woodruff). Die anderen Bänder  sind  bisher moderner  Literatur  gewidmet  Die Pest Camus’, Shakespeare’s Hamlet, Kafka’s Prozess und Emma Austen).