BMCR 2023.11.02

La justice du dialogue et ses limites: étude de Gorgias de Platon

, La justice du dialogue et ses limites: étude de Gorgias de Platon. Études anciennes: série grecque, 162. Paris: Les Belles Lettres, 2022. Pp. 340. ISBN 9782251453774.

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Platons Gorgias hat in den zurückliegenden Jahren wieder zunehmend die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen und trat damit erfreulicherweise etwas aus dem Schatten der Politeia. Die Vielzahl der Arbeiten hat das Verständnis des Textes nachhaltig gefördert. Zugleich hat sich der Großteil der Beiträge jeweils auf einzelne Aspekte dieses vielschichtigen Werkes konzentriert, was angesichts der Länge des Textes, seiner außerordentlichen thematischen Vielfalt und der zahlreichen Friktionen auf der Handlungsebene nicht zu verwundern ist. Vor diesem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, dass sich François Renaud der besonderen Herausforderung gestellt hat, eine integrierende und kohärente Gesamtinterpretation vorzulegen. Er kann dabei auf eine ganze Reihe einschlägiger Vorarbeiten verweisen, die in unterschiedlichem Umfang Eingang in das Buch gefunden haben, das davon spürbar profitiert. Darüber hinaus baut er auf einer Vielzahl von Arbeiten aus der Fachwissenschaft auf, denen er sich auch ausdrücklich verpflichtet fühlt.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile unterschiedlicher Länge, denen zudem noch eine recht umfangreiche Einleitung vorangestellt ist. Im ersten Teil wird den Präliminarien des gewählten Interpretationsansatzes vergleichsweise breiter Raum gegeben, ehe im längeren zweiten Teil des Buches die eigentliche Textanalyse vorgenommen wird. Im Registerteil am Ende des Buches findet sich neben dem Literaturverzeichnis auch ein Inhaltsverzeichnis sowie ein Stellenregister, welches jedoch nur eine Auswahl der wichtigsten zitierten Passagen beinhaltet. Ein Stichwortregister fehlt, wäre aber angesichts der zahlreichen Querverweise im Buch wünschenswert gewesen.

In der Einleitung werden gleich zu Beginn die wichtigsten Spezifika des Gorgias benannt, an denen sich die Interpretation auszurichten habe: zum einen der eminent agonistische Charakter des Dialogs, wie er besonders in der scharfen Opposition zwischen Rhetorik und Philosophie zu fassen sei, zum anderen der offenkundige Befund der Erfolglosigkeit aller dialektischen Bemühungen. Ausgehend davon wird unter Berücksichtigung des zeithistorischen Hintergrunds und Einbettung in Platons Gesamtwerk ein erster Aufriss der zentralen Problemstellungen der Gorgias-Interpretation geboten nebst der Skizzierung möglicher Lösungsansätze. Außerdem enthält die Einleitung auch Referat und Diskussion einiger jüngerer Monographien und Kommentare zum Gorgias, die vornehmlich in der Interpretationstradition von Leo Strauss stehen, ohne dass diese Auswahl jedoch näher begründet wird. Ein Forschungsstand im engeren Sinn findet sich hingegen nicht. Renaud verweist hier ausdrücklich auf die Diskussion in den beiden Hauptteilen. Einige Bemerkungen zu den verfochtenen Hauptthesen, zur Methodik und zum Aufbau leiten schließlich zum ersten Teil über.

Dieser besteht aus zwei Kapiteln, von denen das erste eine wirkliche Besonderheit darstellt, insofern es gänzlich der Gorgias-Interpretation des antiken Kommentators Olympiodor gewidmet ist. Renaud weiß dabei der Gefahr zu begegnen, dass das Buch eine neuplatonische Schlagseite bekommt, indem er sich im Wesentlichen auf die Aspekte konzentriert, die für eine moderne Interpretation von Nutzen sein können. Hierzu zählen unter anderem die Überzeugung, dass die dramatische Handlung des Dialogs und der dogmatische Inhalt als Einheit zu begreifen sind und daher bei der Analyse gleichermaßen Berücksichtigung erfahren müssen, sowie die Forderung, die pädagogischen Absichten Platons, die hinter der dramatischen Struktur stehen, gesondert zu betrachten. Weiterhin entnimmt Renaud der Lektüre Olympiodors, dass das Prinzip der moralischen Kohärenz, verstanden als einer Übereinstimmung von Worten und Taten, im Gorgias entscheidende Bedeutung habe und dass der elenchos nicht nur der Widerlegung diene, sondern weitere Funktionen übernehmen könne. In Anbetracht der Tatsache, dass die rezipierten Prinzipien in modernen Interpretationen zumal jüngerer Zeit nach dem wiedererstarkten Interesse an der Funktion der Dialogform bereits verstärkt Beachtung finden, mag der Erkenntniswert dieses Kapitels vielleicht begrenzt erscheinen. Gleichwohl bietet die kurze und prägnante Darstellung einen interessanten Einblick in die frühe Auslegungsgeschichte des Dialogs und kann als gelungener Auftakt für die weitere Untersuchung bezeichnet werden.

Im folgenden Kapitel finden sich allgemeine Beobachtungen sowohl zu den literarischen Strategien Platons als auch zu den dialoginternen dialektischen Strategien, mit denen Sokrates operiert. Über einen partiellen Vergleich mit Xenophons Memorabilien werden die Besonderheiten der platonischen Dialogkonzeption noch stärker konturiert. Den Kern des Kapitels bildet eine aufschlussreiche, wenngleich provisorische Auflistung von allgemeinen und speziellen dialektischen Regeln und sonstigen Bedingungen, wie sie zumeist implizit aus den Dialogen (größtenteils aus dem Gorgias) erschlossen werden können. Dieser Aspekt ist besser erforscht, als von Renaud angenommen wird. Die einschlägige Studie von Stemmer scheint nicht bekannt zu sein.[1] Die Zuordnung der aufgeführten Gesichtspunkte und ihr Status als Regel ist teilweise diskutabel. So wird die für die platonische Dialektik typische geschlossene Form der Fragestellung nicht unter den speziellen Regeln angeführt, sondern im Folgenden den dialektischen Strategien zugeordnet. Hier hätte man stattdessen die häufig zu beobachtende suggestive Form der Fragestellung erwartet. Entscheidend ist jedoch, dass Renaud mit einem platonischen Sokrates rechnet, der die Diskussion auch vermittels rhetorischer Strategien zu lenken weiß und hierfür über ein methodisches Wissen verfügen muss. Die sokratische Ironie wird in dem Zusammenhang relativ eng als Taktik verstanden, die es ermöglicht, die Rolle des Antwortenden nicht übernehmen zu müssen. Am Schluss des Kapitels verteidigt Renaud die Prämissen seiner Interpretation gegen durchaus gewichtige Einwände und diskutiert etwa das Verhältnis des strategischen Vorgehens zum impersonalen Charakter des Logos und zur sokratischen Leugnung des Wissens oder den Wert einer Erkenntnis, die aus einer polemisch verkürzten Gesprächsführung erwächst. Da das Kapitel weit mehr als die Beschreibung der literarischen und dialektischen Strategien enthält, fällt die Orientierung nicht immer leicht.

Die eigentliche Textanalyse im zweiten Hauptteil gliedert sich in sieben Kapitel, die jeweils den wichtigsten Abschnitten des Dialogs gewidmet sind, wobei sie sich im Wesentlichen am Gang der dramatischen Handlung des Dialogs sowie an der Bedeutung der Partien für die Gesamtaussage des Dialogs orientieren. Dabei wird den drei Gesprächspartnern des Sokrates eine zunehmende Zahl an Kapiteln zugedacht, so dass das Gespräch zwischen Sokrates und Gorgias in einem Kapitel, das Gespräch mit Polos in zwei und das Gespräch mit Kallikles in drei Kapiteln behandelt wird. Die Analyse des Schlussmythos bleibt schließlich einem weiteren Kapitel vorbehalten. Diese Aufteilung entspricht den wachsenden Umfängen der Gesprächsabschnitte und hat den Vorteil, die Vielschichtigkeit auf Diskurs- und Handlungsebene in thematischen Blöcken behandeln zu können.

Bei der Interpretation nimmt sich Renaud die Freiheit, nicht sklavisch jeder Biegung des Textes nachzuspüren, sondern sich auf die für seine Deutungshypothese entscheidenden Passagen zu fokussieren, so dass weniger wichtige Partien außer Betracht bleiben, ohne dass jedoch der Bezug zum Text je verloren ginge. Das hat nicht zuletzt auch positive Auswirkungen auf die Lektüre, insofern dem Leser beispielsweise ermüdende Textparaphrasen erspart bleiben. Stattdessen wird der Horizont des Öfteren geweitet, indem bei passender Gelegenheit Probleme bei der Deutung einer einzelnen Passage in einen größeren Zusammenhang gestellt und diskutiert werden. Dabei wird regelmäßig auch auf Parallelstellen in anderen Platondialogen verwiesen und zumal der zeitgenössische Diskurs einbezogen, auch hier ohne sich zu viel an Details zu verschwenden. Ein außerordentlich hilfreiches Asset stellen die regelmäßigen stichpunktartigen Zusammenfassungen der zentralen Argumente des Dialogs dar. Sie können sowohl zur Rekapitulation der Argumentation als auch zur schnellen Orientierung innerhalb des Platontexts dienen.

Die Textinterpretation nimmt ihren Ausgang von der verbreiteten Ansicht, dass im Gorgias mit der Rhetorik und der Dialektik (bzw. Philosophie) nicht nur zwei Arten der sprachlichen Interaktion, sondern auch zwei Lebensformen einander gegenübergestellt werden, die nicht miteinander zu vermitteln sind, insofern als die Entscheidung für eine der beiden Formen der Kommunikation auf lange Sicht immer eine entsprechende Lebensführung impliziert. Während die Rhetorik bestrebt sei, Macht über andere zu erlangen, sei die Dialektik dem Prinzip der Kohärenz verpflichtet und ganz auf die Gerechtigkeit ausgerichtet. Dementsprechend werde von Sokrates mit Hilfe des philosophischen elenchos dafür argumentiert, dass das größte Übel darin bestehe, Unrecht zu tun (und nicht bestraft zu werden). Neben der Widerlegung der Gegenthese des Polos erfülle der dialektische elenchos zusätzlich auch die Funktion einer (moralischen) Korrektur seines Gesprächspartners. Diese Dimension werde im Dialog zum einen über die Doppelanalogie zur medizinischen Behandlung und zur gerichtlichen Strafe, zum anderen durch die Entsprechung auf der dramatischen Ebene des Dialogs herausgestellt.

Im Anschluss an diese Beobachtungen wird der Schlusspassage des Gesprächs mit Polos entgegen der üblichen Interpretation, die darin nur eine nicht ernstzunehmende ironische Verdrehung erkennen will, eine Schlüsselfunktion für die Deutung des gesamten Dialogs zuerkannt. Im Gegensatz zur vorherigen scharfen Kritik an der konventionellen Rhetorik, werde ihr hier ein begrenzter Nutzen zugesprochen, sofern sie zur Anklage und Korrektur verwendet wird. Im Zuge dessen bediene sich Sokrates derselben Bildsprache, die bereits bei der Beschreibung der korrigierenden Seite der Dialektik begegnete. Die Nähe der beiden Verfahrensweisen wird anhand der Untersuchung des anschließenden Gesprächs mit Kallikles weiter untermauert, so dass davon auszugehen sei, dass die Dialektik und die sogenannte wahre Rhetorik als identisch anzusehen sind, auch wenn Sokrates diese Form der Rhetorik nirgendwo im Dialog explizit für sich reklamiere. Anders stehe es hingegen mit seinem Bekenntnis, sich als Einziger um die wahre Politik zu bemühen, welches sich gegen Ende des Dialogs findet. Auch hier gelingt es Renaud zu zeigen, dass sich die Beschreibungen der wahren Politik und der wahren Rhetorik recht nahe sind und zum Teil sogar wörtlich entsprechen. Über die Brücke der wahren Rhetorik sei die Dialektik daher als alternative Form der Politik zu verstehen, ohne dass sie jedoch als Ersatz für die herkömmliche institutionelle Politik in Betracht gezogen würde. Überhaupt sei zu beobachten, dass die Verwendung zentraler Begriffe nicht einheitlich ist. Begriffe wie Korrektur, Strafe, Rhetorik, Politik und auch Scham würden wie gesehen allmählich von ihrem konventionellen in einen philosophischen Sinn transponiert. Im Anschluss an Olympiodor wird vermutet, dass dies in Rücksicht auf den Verständnishorizont seiner nicht-philosophischen Gesprächspartner geschehe.

Eine Verbindung zwischen der Dialektik und der Rhetorik wird von Renaud noch in anderer Hinsicht postuliert. Aufgrund des manifesten Scheiterns der Dialektik, das durch die unausgesetzte irrationale Gegenwehr von Gesprächspartnern vom Schlage eines Kallikles verursacht werde, sei Sokrates gezwungen, in Ermangelung eines Besseren auf emotional wirkende rhetorische Mittel zurückzugreifen. An erster Stelle ist hierbei an den Mythos gedacht, doch lassen sich Renaud zufolge am Gesprächsverhalten des platonischen Sokrates noch eine ganze Reihe weiterer rhetorischer Verfahrensweisen beobachten. Ihr Gebrauch sei insofern gerechtfertigt, als sie nicht dem Machterwerb dienen, sondern zum Zwecke der Klärung und Läuterung zum Einsatz kommen. Die sokratische Dialektik weise somit eine Doppelnatur auf, indem sie zwischen Demonstration und Persuasion changiere.

Das Scheitern der Dialektik erfülle nach Renaud außerdem noch den Zweck, den Konflikt zwischen der Philosophie und den herrschenden Verhältnissen der Stadt zu illustrieren. Aufgrund der unüberwindlichen Natur des Konflikts – die Anspielungen auf das Schicksal des Sokrates deuten es an – sei letztendlich jeder Dialog und mithin auch die Gerechtigkeit, so die zentrale Aussage des Gorgias, zum Scheitern verurteilt.

Insgesamt ist festzustellen, dass es Renaud in der Interpretation gelungen ist, bisher vernachlässigte oder isoliert behandelte Aspekte des Dialogs in einer schlüssigen Gesamtaussage zusammenzubinden und dabei das Ineinandergreifen der argumentativen und pragmatischen Textebene zu berücksichtigen. Es wird überzeugend herausgearbeitet, dass der elenchos im Gorgias nicht nur refutativ, sondern auch korrektiv zum Einsatz kommt. Besonders glänzend gelingt der Aufweis der Verbindungslinien, die vom dialektischen elenchos über die wahre Rhetorik bis zur wahren Politik gezogen sind. Im Ergebnis ist die Verurteilung der Rhetorik im Gorgias offenbar nicht absolut zu verstehen, mit der Folge, dass der Dialog in seiner Gesamtaussage auch näher an den Phaidros heranrückt. Gegen die Bedenken an einer solchen Lesart weiß Renaud stets begründet und prägnant Position zu beziehen.

Weniger überzeugend fällt hingegen die Begründung für die Annahme aus, dass die sokratische Dialektik neben der argumentativen Vorgehensweise auch die Verwendung konventioneller rhetorischer Mittel beinhaltet. Renaud bietet für diese Deutung so gut wie keine Textbelege, sondern erschließt sie nur indirekt aus der Verwendung des illustrierenden Mythos vom Zeusgericht im Anschluss an die Unterredung mit Kallikles, die als gescheitert angesehen wird. Es ist nicht so recht nachzuvollziehen, dass der Einsatz rhetorischer Mittel durch das Scheitern legitimiert wird, wenn diese das Scheitern offenbar ebenso wenig abwenden können. Außerdem bleibt leider bis zum Schluss etwas im Ungefähren, was unter der im Titel benannten Gerechtigkeit des Dialogs genau zu verstehen ist. Das ist umso bedauerlicher, als es sich bei der Gerechtigkeit um einen Schlüsselbegriff des Dialogs zu handeln scheint. Dieser wird im Dialog in ganz unterschiedlicher Bedeutung verwendet, so dass es wünschenswert gewesen wäre, den jeweiligen Verschiebungen in ihrer Funktion genauer nachzugehen.

Diese Kritikpunkte schmälern den positiven Gesamteindruck jedoch in keiner Weise. Das Buch bietet viele wichtige Impulse und Denkanstöße und leistet so einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis von Platons Gorgias.

 

Notes

[1] Peter Stemmer, Platons Dialektik: Die frühen und mittleren Dialoge. Quellen und Studien zur Philosophie, 31. Berlin: De Gruyter. 1992.