BMCR 2014.10.46

Plutarch: De E apud Delphos. Über das Epsilon am Apolltempel in Delphi. Einführung, Ausgabe und Kommentar. Palingenesia Band 101

, Plutarch: De E apud Delphos. Über das Epsilon am Apolltempel in Delphi. Einführung, Ausgabe und Kommentar. Palingenesia Band 101. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2013. 417. ISBN 9783515106061. €76,00.

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Plutarchs Dialog De E apud Delphos ist ein zentraler Text für eine ganze Reihe von Forschungsproblemen zu Plutarchs Moralia : Plutarchs eigene philosophische Entwicklung, Persönlichkeit und Doktrin seines „Lehrers“ Ammonios, Plutarchs Verhältnis zu Delphi, Besonderheiten seines Platonismus und seiner „Religiosität“, um nur einige Beispiele zu nennen. So hat es die Forschung in der Vergangenheit nicht an zahlreichen, nicht selten abenteuerlichen Deutungen des Dialogs fehlen lassen, und ein Bezug auf De E fehlt in keiner Abhandlung, die sich mit Plutarchs philosophischen Grundüberzeugungen befasst. Die angedeutete Abenteuerlichkeit nicht weniger Forschungsbeiträge resultierte bislang nicht zuletzt aus einem Forschungsdesiderat, das De E mit den meisten anderen Moralia teilt, dem Fehlen eines gründlichen Kommentars, und so ist es äußerst begrüßenswert, dass sich Hendrik Obsieger (in der Folge O.) der Aufgabe gestellt hat, die Schrift neu zu edieren und zu kommentieren. O.s Buch bildet die um die Kommentierung der Kapitel 1–5 und 17–21 erweiterte und überarbeitete Fassung seiner Dissertation von 2006, die 2007 unter dem Titel „Der Mittelteil (Kapitel 6–16) von Plutarchs Schrift De E apud Delphos. Kritische Ausgabe mit Einführung und Kommentar“ als Dissertationsdruck publiziert worden war. Der Umfang des Buches ist erfreulich üppig: Teil I („Einführung“, 9–71) bietet zunächst einen Überblick über die modernen Deutungsversuche des delphischen E, sodann eine „Darstellung des Inhalts von De E und Interpretation“ und schließlich eine umfangreiche Untersuchung der handschriftlichen Überlieferung. Teil II („De E apud Delphos: Text“, 72–91) enthält eine Edition des Textes auf der Basis neuer Erkenntnisse der Überlieferung. Teil III („Kommentar“, 93–382) bietet einen erschöpfenden Kommentar des Textes. Drei Appendizes („Plutarch und die ‚Akademie‘“; „De E 9.388E ἀκούομεν γοῦν – F τῶν ὀνομάτων und SVF II 528“; „Bisher unveröffentlichte Konjekturen in der neuen Moralia-Ausgabe von P. Bernardakis und H.G. Ingenkamp („Recognovit Gr. Bernardakis“)“, 383–391) ergänzen die Teile II und III. Neben dem Literaturverzeichnis (das allerdings nur die abgekürzte Literatur enthält) erleichtern ein Stellenindex, ein Index von Namen und Sachen sowie ein griechischer Wortindex die Benutzung des Bandes.

Das Buch eröffnet ein konzises Kapitel („Das delphische Epsilon“, 9–16), in dem O. die modernen philologischen und archäologisch-kunstgeschichtlichen Deutungen des delphischen E anschaulich referiert und überzeugend kritisiert. Er kommt (wie schon Ziegler in seinem RE-Artikel von 1952) zu dem Ergebnis, dass alle Bemühungen seit Plutarch, die ursprüngliche Bedeutung des delphischen E zu eruieren, als gescheitert anzusehen sind. Das sich anschließende Kapitel („Darstellung des Inhalts von De E und Interpretation“) ist wegen seines engen Zusammenhangs mit den Ergebnissen von O.s Kommentar zusammen mit diesem weiter unten zu besprechen.

Im Kapitel 3 des ersten Teils gibt O. einen detaillierten Bericht der Recensio, die er seinem neuen Text von De E zugrundelegt. Durch eine neuerliche Untersuchung der Abhängigkeiten der Handschriften gelangt O. über die Grundlagen der Ausgabe von Sieveking dahingehend hinaus, als er zeigen kann, dass die von Sieveking noch als zweite Klasse der Überlieferung neben Γ (FDX) für die Textkonstitution benutzte Handschriftengruppe Πx (αAEgBγ) von F 2 und X 3 abhängig und damit nicht als eigenständiger Überlieferungsträger anzusehen ist. Scheidet somit Πx für Textkonstitution (abgesehen von Anregungen für Konjekturen) aus, gelingt O. der Nachweis, dass F 2 und X 2 X 3 offenbar unabhängig voneinander einen zweiten, ansonsten verlorenen Traditionszweig bezeugen, der im Stemma mit der Sigle I bezeichnet wird. Im Apparat der Ausgabe gibt O. immer die Lesarten von F 2 X 2 X 3 an, wenn er das Zeugnis dieses Hyparchetypus anführt. Nach der Darstellung des Stemmas erörtert O. den großen Wert der indirekten Überlieferung bei Euseb (und in dessen Folge bei Theodoret und Kyrill), im Anschluss daran die Frage, wie das E handschriftlich bezeichnet wird.

Teil II bietet O.s Text mit Apparat, der an zahlreichen Stellen andere Gewichtungen gegenüber Sieveking sowie eigene Konjekturen O.s enthält. Alle Textprobleme und Entscheidungen sowie Vorschläge O.s werden im Kommentarteil ausführlich und luzide begründet, so dass unabhängig davon, ob man O. in jedem Einzelfall folgen will, die Überlieferungslage und die Schwierigkeiten der Textkonstitution vorbildlich aufgearbeitet sind. Dabei ist zu bedauern, dass O. bei der Überarbeitung seines Dissertationsdruckes zu diesem Buch darauf verzichtet hat, den Text neu zu setzen. Zum einen sticht die Formatierung des Teils II unschön von der Einrichtung des sonstigen Buches ab (vor allem die Kopfzeilen bieten zahlreiche Unregelmäßigkeiten), zum anderen ist ein Druckfehler des Dissertationsdruckes stehengeblieben (11, 390B, S. 82, 11 οὗσα statt richtig οὖσα), und schließlich hat ein Sinneswandel O.s in 15, 391A (S. 83, 23–24) dazu geführt, dass im Text τὸν Πλάτωνα ἡμῶν steht, während im Kommentar (S. 281) das Lemma nunmehr τὸν Πλάτωνα ἡμῖν lautet (der Dissertationsdruck hat ἡμῶν).

Das Kernstück des Buches bildet Teil III, ein knapp 300seitiger Kommentar zu De E. Hier bietet O. zunächst in textphilologischer Hinsicht eine bisher nicht dagewesene und in absehbarer Zeit nicht überbietbare Fülle an Gelehrsamkeit und erschöpfenden Erörterungen nahezu aller Aspekte des Textes. Zu den bereits hervorgehobenen intensiven Diskussionen der textkritischen Probleme und der von O. und seinen Vorgängern unternommenen Lösungsversuche treten präzise Auseinandersetzungen mit Wortbedeutungen und Fragen der Übersetzung sowie stilistische Beobachtungen, die jeweils mit einer Fülle an Belegstellen bei Plutarch und in der gesamten griechischen Literatur illustriert werden. Der von O. mithin auf philologischer Ebene angestrebte und eingelöste Anspruch auf Vollständigkeit dokumentiert sich nicht zuletzt darin, dass er sogar metrischen Erklärungen zu den Dichterzitaten im Text Plutarchs nicht aus dem Weg geht. Philologisch hat O. zweifellos ein Standartwerk abgeliefert, auf das kein zukünftiger Interpret von De E apud Delphos verzichten kann.

Mit ähnlicher Gründlichkeit verfährt O. bei der Erklärung von Realien, Quellen und Anspielungen des Textes, insbesondere bei der Erhellung von Herkunft und Verwendung des philosophischen Materials, das die einzelnen Dialogteilnehmer zur Erklärung der Bedeutung des delphischen E aufbieten. Vor allem in den drei letzten Reden von De E, der stoisierenden Rede des Theon, der pythagoreisierend-mathematischen Rede des jungen Plutarch sowie in der ontologisch-platonischen Rede des Ammonios wird der Leser ausführlich über die dort verwendeten Philosopheme, den Gebrauch der philosophischen Terminologie sowie deren Funktionalisierung im Interesse der Beweisziele der Redner unterrichtet. Besonders hervorzuheben ist die Akribie, mit der O. die Rede des jungen Plutarch durchmustert, die gerade in ihrem pythagoreisierenden Stratum (zu dem auch der musikologische Gehalt zu zählen ist) den Nichtfachmann ohne O.s erhellende Ausführungen vor kaum zu überwindende Verständnisschwierigkeiten stellt. Und auch in der in der Forschung zentralen Ammoniosrede bietet O.s Kommentar eine Fülle von neuen Einsichten in die geistigen Quellen von Ammonios‘ Radikalontonologie, die der künftigen Forschung eine weitaus solidere Grundlage bietet und zahlreichen Spekulationen (etwa der Abhängigkeit der Ammoniosrede von der Lehre des recht schattenhaften Eudoros) endgültig den Boden entzieht. Angesichts der genannten Tugenden des Kommentars ist es allerdings bedauerlich, dass O. im Finale der Ammoniosrede (Kap. 21) zur Identität des dem seienden Apollon gegenübergestellten, mit der werdenden und vergehenden Materie verbundenen Daimon kaum etwas zu sagen hat. Tatsächlich begnügt er sich auf nicht einmal einer Seite mit allgemeinen Angaben, die hinter dem Stand der Forschung zu Plutarchs Theorie einer chaotisch-vordemiurgischen Urseele weit zurückbleiben. Ein zweites Defizit findet sich bei der Kommentierung der ersten Rede des Lamprias, der das E als die Zahl 5 erklärt und behauptet, die fünf „echten“ der traditionell sieben Weisen hätten es in Delphi als Hinweis darauf geweiht, dass zu ihrer Siebenzahl auch zwei „falsche“ Weise, die Tyrannen Periander und Kleobulos gerechnet würden. O., der die Lampriasrede für „hanebüchen“ hält, übersieht hier, dass Plutarch gerade Kleobulos‘ und Perianders Anwesenheit in seinem einschlägigen Septem Sapientium Convivium für besonders heikel und erklärungsbedürftig hält.

Schließlich liefert O. über den Kommentar hinweg eine fortlaufende Deutung von De E, die sich pointiert zusammengefasst im Kapitel 2 des ersten Teils „Darstellung des Inhalts von De E und Interpretation“ (16–46) nachlesen lässt. O. vertritt im Gegensatz zum Mainstream der Forschung, die tendenziell in De E in Gestalt der abschließenden Rede des Ammonios einen von Plutarch als richtig und gültig intendierten Lösungsvorschlag für die Bedeutung des delphischen E aus platonischer Perspektive sieht, demgegenüber die anderen Lösungsvorschläge bald als sachlich falsch, bald als philosophisch unrichtig gesehen werden, die These, dass alle Lösungsversuche in De E, einschließlich dessen des Ammonios, nach Plutarchs Willen keine Gültigkeit beanspruchen dürften. O. beruft sich für seine Deutung zurecht auf das Proömium, das Plutarch der Erzählung des Gesprächs vorausgeschickt hat: Die Betonung Plutarchs, der Schwierigkeit des Rätsels, das das delphische E stellt, stets ausgewichen und erst jüngst – und noch dazu unter gesellschaftlichem Zwang – auf das Thema eingegangen zu sein, aber dann nur ein lang zurückliegendes Gespräch über das E erzählt zu haben, ist gewiss ein Indiz dafür, dass Plutarch nicht eine Lösung autoritativ vertreten, sondern mehrere Lösungsversuche präsentieren will. Denn immerhin lässt Plutarch Ammonios in dessen Einleitungsworten des referierten Gesprächs das E als einen Gegenstand bezeichnen, der einen „Anlass zum Philosophieren“ geben soll, und O. betont wieder zurecht, dass auch Ammonios keinen Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol erhebt, wenn er seine Gesprächspartner zu Lösungsvorschlägen animiert. Bis zu diesem Punkt ist O. voll zuzustimmen, doch die interpretatorischen Konsequenzen, die O. aus dieser Gesprächsvoraussetzung in Kombination mit seiner Kommentierung der einzelnen Redebeiträge in De E zieht, sind schwerlich überzeugend. Für O. weisen alle Redebeiträge in De E (ausgenommen derjenige des Priesters Nikandros) Aspekte auf, die Rückschlüsse auf mangelnden philosophischen Ernst der Sprecher erlauben, dessen sich diese sogar bewusst sein sollen, und auch Ammonios bleibt von solchen Verdikten nicht verschont: Da nach O.s Ansicht schon die heiter getönten Reden des Lamprias („narrenhaftes Treiben“), des Theon („Schelmerei“) und des ‚Plutarch‘ (eine „heitere Stegreifrede“; „unseriös“; „burlesk“) eine Situation geschaffen hätten, in der „die Zuhörer des Ammonios und die Leser des Dialogs damit rechnen [müssen], daß der Sprecher sich die Freiheit nimmt, nicht eine nüchterne und möglichst unangreifbare Argumentation, sondern eine farbige und amüsante Rede vorzutragen“, glaubt O. nachweisen zu können, dass Ammonios selbst „an einzelnen Stellen … von dem, was er sagt, tatsächlich nicht restlos überzeugt ist“. Ein Kriterium für diese vermeintliche Selbstdistanz des Ammonios ist O. einmal der „gesunde Menschenverstand“, dem eine extreme Argumentation des Ammonios widerspreche, was Ammonios „auch wissen“ müsse (es folgt zu Stützung dieser These ein bunter Strauß aus antiken Zitatstellen und modernen Philosophiehistorikern); ein „Trugschluß“, auf dem Ammonios‘ Argumentation aufbaue, würde von dessen Zuhörern und den Lesern des Dialogs „wohl auch“ erkannt und „als geschickt angebrachtes, wenn auch im Ernst nicht haltbares Argument“ goutiert. Es ist O. dabei sicher zugute zu halten, dass er das in allen Reden spürbare Virtuositätsstreben der Redner erkannt hat, doch reduziert er die Wirkabsicht der Redebeiträge beinahe ausschließlich auf die vermeintlichen „Fehler“ der Sprecher, in deren Aufspürung das Behagen der Leser bestehen soll. Hier scheint O.s lobenswerte Akribie in der Aufspürung des philosophischen Substrats der Redebeiträge in eine anachronistische Pedanterie umgeschlagen zu sein, denn zum Maßstab für die „Ernsthaftigkeit“ der Redner nimmt O. beinahe ausschließlich sein durchaus stupendes philosophiehistorisches Wissen und verzichtet weitgehend darauf, die Kuriositäten in den Redebeiträgen mit Plutarchs sonstigem Werk abzugleichen und daraus Rückschlüsse auf die Autorintention und die Lesererwartung zu ziehen. Angesichts der ansonsten großen Verdienste des Kommentars sind O.s Interpretationserträge mithin recht kümmerlich und dürften in der Forschung allenfalls als heuristische Leitlinie für die Untersuchung der Argumentationsstrategie der Redner Anklang finden.

Bedauerlich ist weiterhin, dass O. bei der Erweiterung und Überarbeitung seines sehr sorgfältig erstellten Dissertationsdruckes zu diesem Buch zahlreiche formale Nachlässigkeiten unterlaufen sind. So häufen sich in den neu hinzugekommenen Teilen spürbar Druckfehler, Querverweise gehen ins Leere, Lemmata sind unvollständig. In den überarbeiteten Teilen weisen die Zusätze ebenfalls überdurchschnittlich viele Druckfehler auf, und es kommt vor, dass O.s Nachträge gar unter dem falschen Lemma stehen. All dies ist bei den sonstigen Ambitionen des Werkes außerordentlich schade.

Die genannten Kritikpunkte betreffen freilich nicht die oben eingehend gewürdigte Hauptleistung dieser Ausgabe mit Kommentar, die O. mit bewundernswertem Arbeitsethos und großer Intelligenz erbracht hat, und so ist als Fazit festzuhalten: Jeder künftige Kommentar zu Plutarchs Moralia wird sich an Obsiegers Buch messen lassen müssen.