Der vorliegende Band stellt die für den Druck leicht überarbeitete Fassung der im Jahre 2005 an der Universität Köln eingereichten Dissertation des Verfassers (H.) dar. H. weist mit Recht darauf hin, dass bisher eine vollständige und den neuesten Forschungsstand repräsentierende Kommentierung der Epistulae morales Senecas ein Desiderat darstellt. Ziel seiner Arbeit ist es, Ep.82, die H. in der Nachfolge Canciks1 als zur “Dialektikserie”2 gehörend sieht, als Gesamtkunstwerk zu würdigen. Dieses Vorhaben ist gelungen.
Die Einleitung beleuchtet das Luciliusproblem, ordnet den Brief in die dialektische Tradition der Stoiker ein, betrachtet römische Einschätzungen der Dialektik und versucht auf dieser Basis Senecas durchaus differenzierte Position herauszuarbeiten. So schadet die Dialektik dem proficiens im Anfangsstadium, der durch praecepta in Form von adhortationes, exempla und Sentenzen immer wieder fruchtbare Impulse erhalten muß, mehr als sie nützt. Zur Begriffsklärung (z.B. im Rahmen der praecepta-decreta -Erörterung bezeichnenderweise sehr spät innerhalb des Lehrgangs) hat die Dialektik für Seneca ihren Wert, zur Lösung existentieller Probleme hingegen ist sie ungeeignet.
Zudem geht einem Zeit für eine nutzbringende philosophische meditatio verloren, wenn man sich mit Dialektik um ihrer selbst willen befaßt. Senecas Kritik an der Dialektik richtet sich vornehmlich auf ihre fehlende psychagogische Wirkung und Nachhaltigkeit. Es geht also letztlich um einen Kontrast zwischen der Effizienz praxisorientierter Ethik und der Ineffizienz rein theoretisch ausgerichteter Logik, gerade angesichts des existentiellsten Problems der praeparatio contra mortem.
Nachhaltige Überzeugungsarbeit um den Affekt Todesfurcht auszuschalten, der die Eudaimonie nachhaltig bedroht, kann nur durch meditatio und psychagogische Überzeugungsarbeit geleistet werden, aber Seneca erkennt der Dialektik durchaus den Stellenwert zu, die Ethik im stoischen System logisch zu verankern.
Nach einer Gliederung des zu interpretierenden Textes bildet die gründliche fortlaufende Einzelkommentierung den Hauptteil des Bandes, wobei textkritische, sprachliche und sachliche Erläuterungen Berücksichtigung finden.
Der lateinische Text und synoptisch eine interpretierende Übersetzung sind abschnittsweise jeweils vorangestellt. Häufig wird der Text dann zusätzlich noch im Kursivdruck paraphrasiert und anschließend interpretiert. Dies ist von Fall zu Fall sehr sinnvoll, manchmal ergeben sich daraus allerdings ermüdende Redundanzen.
Im Kommentar werden die Probleme mit profundem Wissen und schlüssig erörtert; vor allem auch gelungene stilistische Beobachtungen überzeugen. Zahlreiche Parallelstellen werden mit Gewinn herangezogen. Einzelne Erläuterungen haben geradezu Exkurscharakter, wie z.B. die Ausführungen über das Problem des Selbstmords oder das Schicksal der Seele nach dem Tod bei Seneca.
Ein Appendix “Das Problem der direkten oder indirekten Abhängigkeit Senecas von Poseidonios”, wobei H. meint, dass Seneca direkt aus Poseidonios schöpft, und ein Literaturverzeichnis beschließen die gründliche Arbeit, zu der jeder gern greifen wird, der fundierten und zuverlässigen Zugang zu Brief 83 aus Senecas Epistelkorpus sucht.
Notes
1. H. Cancik, Untersuchungen zu Senecas epistulae morales, Spudasmata 18, Hildesheim 1967.
2. H. präzisiert den Begriff “Dialektikbriefserie” (Ep. 45, 46, 48 und 82, 83, 85, 87) richtigerweise dahingehen, dass er nicht die Verwendung von Syllogismen an sich meint, die Seneca immer wieder einmal benutzt, sondern die systematische Kritik Senecas an der syllogistischen Methode; es geht Seneca also um die Distanzierung von einem Argumentieren innerhalb der Begriffe verba zugunsten eines Argumentierens von der Sache her res. Leider wird allerdings der Zusammenhang der Briefe 82 und 83 allzu kurz nur angerissen.