In den Noctes Atticae des Aulus Gellius (ca. 130-180 n. Chr.) ist Regellosigkeit ( disparilitas) Programm: Der Reigen der ca. 400 commentarii, aus denen sich das Werk zusammensetzt, folgt keinem irgendwie gearteten System, sondern ist Ergebnis und Abbild des literarischen Konsumverhaltens seines Urhebers, wie dieser in seiner Vorrede betont ( praef. 2-3). Was Gellius dann in 20 Büchern als Produkt seiner nächtlichen Studien ausbreitet, ist von Textsorte, Thema, Stil und Anspruch her schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und hat Gellius viele despektierliche Bemerkungen hinsichtlich seiner geistigen und literarischen Kompetenz eingebracht. Erst im letzten Drittel des 20. Jh. erlebte das Interesse an Gellius mit den Untersuchungen von Steinmetz und Holford-Strevens eine Renaissance,1 in deren Zuge die NA verstärkt in Hinblick auf ihren literarischen Eigenwert Beachtung fanden. Gerade in jüngster Zeit erschienen mehrere Studien, die den nur scheinbar simplen Text als Ganzes in den Blick nehmen und dabei zum Teil kräftig gegen den Strich bürsten.2
Auch in der hier zu besprechenden Arbeit, einer Düsseldorfer Habilitationsschrift, stehen die NA im Zentrum. Christine Heusch, die Verfasserin, richtet ihr Erkenntnisinteresse jedoch zuerst auf den kulturellen und literarischen Kontext des Werkes und die in ihm zu Tage tretenden Kontinuitäten und Traditionsbrüche (13). Sie wählt dafür einen kulturwissenschaftlichen Ansatz und deutet das literarisch-kulturelle Leben des 2. Jh. als „Erinnerungskultur“, die ihren Ausdruck in besonderem Maße in den NA finde (24). Ausgehend von der durch Jan und Aleida Assmann3 entwickelten Kategorie des „kulturellen Gedächtnisses“, dessen antik-römisches Pendant sie im Begriff memoria findet, benutzt und deutet sie den Gelliustext als „Dokument der kulturellen Erinnerung“ (16).
Der Assmannsche Begriffsapparat, den die Verfasserin an die NA heranträgt, ist komplex: Zu unterscheiden ist zwischen dem Gedächtnis als Speicher und dem Gedächtnis als Erinnerungsprozess (Assmann 1999, 29), zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis (Assmann 1992, 35-7) sowie zwischen dem kommunikativen Gedächtnis, das auf kommunizierten individuellen Erinnerungen beruht, und dem kulturellem Gedächtnis, das externe Speicherung (z. B. durch Schrift oder Literatur) voraussetzt und bis in die früheste erinnerbare Vorzeit zurückreicht (Assmann 1992, 48ff.). Die einzelnen Seiten dieser Begriffspaare stehen miteinander in Beziehung: Das kommunikative Gedächtnis, bei dem Erinnern als Prozess im Vordergrund steht, bedient sich aus dem Speicher kultureller Erinnerungen im Dienste der kollektiven Identität einer sozialen Gemeinschaft, die wiederum das individuelle Erinnern prägt; ein individueller Erinnerungsakt kann, sofern er gespeichert wird, in das von der Gemeinschaft geteilte kulturelle Archiv eingehen. Aus dieser Perspektive heraus verknüpft sich das Thema Gedächtnis mit Aspekten wie Identität, Traditionsbildung, Schriftkultur, Kanonisierung und Interpretation. Ein Aspekt, der Christine Heusch besonders interessiert (47), ist das Zusammenspiel von individueller Gedächtniskunst und kollektiver Identitätsbildung, die besonders Aleida Assmann (1999, 28-30) in der Opposition ars memoriae – vis memoriae scharf trennt.
Die NA erweisen sich durchaus als ein geeignetes Gebiet für die Anwendung dieses Instrumentariums. Der Blick auf das mit memoria verbundene Wortfeld (53-7) zeigt die Prominenz des Themas im gellianischen Text, und auch die praefatio erklärt den Zweck der zusammengetragenen Notizen u.a. als „Erinnerungshilfe und literarische Vorratskammer“ ( praef. 2). memoria wird thematisiert, reflektiert und praktiziert: im Erinnern der Autorpersona an dereinst mitgehörte Gespräche etwa oder als szenisch dargestellte Erinnerungsleistung von Zeitgenossen oder historischen Personen, und schließlich kann man jede einzelne der versammelten Lesefrüchte nicht nur als Inhalt aus dem Fundus des kulturellen Erinnerungsspeichers, sondern auch als praktizierten Erinnerungsakt verstehen.
Nach einer methodischen Einleitung überträgt Christine Heusch im ersten Kapitel („Aspekte der memoria in der römischen Kultur“, 23-47) die Assmannschen Begriffe auf die Kultur der Römer. So betont sie das Bewusstsein für die Bedeutung von memoria, wie es sich in der bekannten römischen Traditionsorientierung äußert, zitiert vor allem Cicero als Zeugen für die Rolle der Schriftlichkeit für das kulturelle Gedächtnis und versammelt eine Reihe von Äußerungen über die Aufgabe, die man literarischen Werken für das kollektive Erinnern zuschrieb. Während sie so den allgemeinen historisch-kulturellen Rahmen absteckt, nähert sie sich schrittweise dem 2. Jh. n. Chr., in welchem die Reflexion über Erinnerung und ihren Gegenpol, das Vergessen, eine neue Dimension erreicht habe. Diese äußert sich, so Heusch, in einer dezidierten Pflege der Gedächtniskunst, deren Affinitäten zur Identitäts- und Traditionsbildung – und damit zum kulturellen Gedächtnis – in der Arbeit analysiert werden sollen.
Schon in diesem hinführenden Kapitel zeigt sich eine methodisch bedingte Darstellungsform, die sich durch die gesamte Studie zieht: Die Verfasserin geht von einer modernen kultur- oder auch literaturwissenschaftlichen These aus, für die sie Entsprechungen in der römischen Kultur herausarbeitet und durch Beispiele und Zeugnisse belegt. Indem sie zu den einzelnen Punkten eine Vielzahl von archäologischen, religionsgeschichtlichen und historiographischen Belegen und Parallelen versammelt, gelingt es ihr, das Bild einer Kultur unter dem Schlüsselwort memoria zu entwerfen, in die sich die NA einfügen.
Im nächsten Kapitel („Spuren und Formen der memoria in den ‚Noctes Atticae’ des Gellius“, 49-189) wird dieses Untersuchungsraster konkret an Gellius herangetragen. Nachdem Christine Heusch einige antike Äußerungen (Varro, Festus) vorgestellt hat, die die These rechtfertigen, dass nicht nur ein narrativ-historischer, sondern jeder literarische Text als monumentum, d.h. als Dokument der Erinnerung, gelesen werden kann, konstatiert sie dies auch für die NA. Die folgenden Abschnitte arbeiten dann heraus, was Gellius über memoria sagt (die Rolle von Denkmälern, Büchern, Bibliotheken, Institutionen u.a.), wie er praktizierte memoria darstellt (vor allem eigene oder fremde Gedächtnisleistung) und mittels Schreiben selbst praktiziert (insbesondere durch seine umfangreiche Zitierpraxis). Auch hier bemüht sich die Verfasserin um Kontextualisierung, indem sie immer wieder auf Parallelen verweist und verallgemeinert. So dokumentieren die NA nicht nur die Formen des kulturellen Gedächtnisspeichers, sondern auch die Aktivierung des Gespeicherten im aktuellen, kommunikativen Gedächtnis innerhalb der Bildungskultur des 2. Jh. insgesamt.
Die beiden folgenden Kapitel widmen sich in ähnlicher Weise zwei Punkten, die Christine Heusch als besonders zentrale Aspekte der antoninischen Kultur, aber auch des gellianischen Werkes ausmacht. In Kapitel 4 („Griechisch- römische Erinnerungskultur in den ‚Noctes Atticae’“, 191-301) geht es um die wechselseitige Integration der griechischen und römischen Kultur in eine gesamtrömische Identität, die durch das wirtschaftliche und soziale Zusammenwachsen der Reichsteile im 2. Jh. nicht mehr durch Konfrontation, sondern durch Angleichung und gegenseitige Durchdringung gekennzeichnet war. So untersucht die Verfasserin, wie sich Bilinguismus und bikulturelle Identität bei Gellius äußern, stellt mit Fronto, Taurus und Favorinus drei „interkulturelle“ Protagonisten der griechisch-römischen Bildungskultur vor und beschreibt das von Gellius außerordentlich häufig geübte Verfahren der Synkrisis griechischer und römischer Sprach- und Kulturphänomene.
Kapitel 5 („Das Bildungskonzept der ‚Noctes Atticae’ im Schnittpunkt griechischer und römischer Traditionen“, 303- 402) schließlich nimmt das von beiden Kulturkreisen geprägte Bildungskonzept des Gellius in den Blick. Wie auch im vorangehenden Abschnitt sieht Heusch bei Gellius Integrationsbestrebungen im Vordergrund stehen. Nachdem die Beschäftigung mit Bildung und insbesondere mit Literatur im 2. Jh. für die gebildete Oberschicht mangels politischer Betätigungsmöglichkeiten zum Hauptbestandteil ihrer Identität geworden sei, liege die Funktion eines Werkes wie der NA vor allem in der Heranbildung des vir civiliter eruditus, des kultivierten „gentleman scholar“. Dieser schöpft aus einem reichen bikulturellen Speichervorrat, den ihm die NA in enzyklopädischer Form zur Verfügung stellen, um sich über Sprache und Wissen als Mitglied einer Bildungselite von sozialen Aufsteigern abzugrenzen.
In ihrer abschließenden Zusammenfassung („Fazit und Ausblick“, 403-408) konstatiert die Verfasserin, dass mit memoria, verstanden als individuelle Gedächtniskunst und kollektives kulturelles Gedächtnis, ein roter Faden ermittelt sei, der die NA, die sich dem systematisierenden Zugriff ansonsten verweigern, verbinde. Als ein selbst kulturhistorisch ausgerichtetes Werk ziehe das „gellianische Bildungskompendium“ eine Summe des verbindlichen Wissens und präsentiere sich dem bildungswilligen Leser als ein unterhaltsamer Führer durch eine unübersichtlich gewordene Wissenslandschaft (405).
Wenn es darum geht, ein Fazit dieser umfangreichen und selbst enzyklopädisch angelegten Arbeit zu ziehen, ist unbedingt anzuerkennen, dass die Verfasserin ihr Ziel, die NA kulturhistorisch zu kontextualisieren, erreicht und ein eindrucksvolles Panoptikum der Lese- und Bildungskultur der Antoninenzeit entwirft. Durch das systematische Anlegen der Gedächtniskategorien erklärt sich zudem manches für sich gesehen seltsame Detail als Symptom einer gegen Vergessen und Traditionsabbruch arbeitenden Gedächtnis- und Erinnerungskultur. Dennoch ergeben sich für mich zwei Einschränkungen in Hinblick auf die Notwendigkeit und den Nutzen dieses Ansatzes. Ein erster Punkt resultiert aus der Beobachtung, dass die in der Einleitung herausgearbeiteten Begriffe in der Arbeit über weite Strecken gar nicht oder nur gelegentlich in Anspruch genommen werden – ohne dass dies einen merklichen Verlust darstellt. Dies betrifft vor allem die beiden Kapitel zur Bikulturalität und zum Bildungskonzept, ist aber besonders auffällig in dem langen Abschnitt über Gellius’ Zitierpraxis („Gedächtniskunst, Traditionsbildung und Zitat“, 117-162): Diese analysiert Heusch vollkommen nachvollziehbar mit Kategorien der Intertextualitätstheorie.
Zum anderen aber bewirkt der methodische Fokus auf den kulturellen Gesamtkontext, dass der Gelliustext nicht im eigentlichen Sinne interpretiert wird, sondern in erster Linie als Informationsquelle dient, aus der einzelne Aussagen zur Illustration der verschiedensten Gegebenheiten herausgelöst werden. Obwohl die Verfasserin mehrfach den philologischen Schwerpunkt ihrer Untersuchung betont, bleibt auf diese Art vieles verborgen, was Aufschluss geben könnte über die Intentionen, die Gellius mit seinem literarischen Patchwork verfolgt. Zu nennen wäre hier etwa die Art, wie sich weit voneinander entfernte Kapitel gegenseitig erläutern, Argumentationsstrategien, bewusst offen gehaltene Leerstellen, die Bezüge zwischen den Hauptteilen der commentarii und den häufig scheinbar zusammenhanglos angefügten eigenen „gelehrten Nachträgen“ und vieles andere mehr. Dass die NA bisher nicht durch einen modernen Gesamtkommentar erschlossen sind und es nur zu relativ wenigen einzelnen commentarii separate Untersuchungen gibt, wirkt sich dabei auch für die kulturhistorische Benutzung des Textes nachteilig aus.
Was dem Blick damit ebenfalls entgeht, ist die performative Seite des Textes, der das Bildungskonzept seines Verfassers in jedem commentarius in nuce vorführt: sei es im Lesen und Forschen der Autorpersona, sei es als exemplarisches Handeln szenisch auftretender Bildungsvertreter, sei es als Aufforderung zu eigenem Nachprüfen an den Leser. Nur so ist erklärbar, dass die Verfasserin in den NA den Versuch sieht, „noch einmal eine Summe des verbindlichen Wissens zusammenzubringen“ (405) – trotz der oft entlegenen Detailinformationen der einzelnen Vignetten, ihrer subtilen sprachlichen Differenzierungen und verzwickten Fachdiskussionen, die den studentischen Teilnehmern des Lektürekurses, den ich zu Gellius gehalten habe, immer wieder den Schweiß auf die Stirn trieben. In der Folge beschreibt sie die Sammlung vor allem in ihrer Funktion als Wissensspeicher, als litterarum penus, wie Gellius in seiner praefatio formuliert, weniger aber als Ausdruck der voluptates und labores studiorum, des geteilten und kommunizierten Wissens (vgl. praef. 19), der gleichsam gelebten Bildung oder auch: des kommunikativen Gedächtnisses.
Die Studie ist von einem thematisch breit gefächerten Verzeichnis der häufig verwendeten Literatur begleitet4 und durch einen Sach- und einen Stellenindex hervorragend erschlossen. Hervorzuheben ist hier auch der außerordentlich umfangreiche Fußnotenapparat, der, in durchaus gellianischer Manier, per Zitat kleine Nebendiskurse eröffnet, deren Lektüre manchmal ablenkt, des Öfteren aber auch auf sehr vergnügliche Abwege führt.5 Druckfehler sind selten und nicht sinnentstellend.
Trotz der genannten Einwände wird der an Aulus Gellius und der literarischen Kultur des 2. Jahrhunderts interessierte Leser das Buch wegen seines umfassenden Zugriffs und der Fülle der zusammengetragenen Beobachtungen unbedingt als Bereicherung empfinden.
Notes
1. L. Holford-Strevens, Aulus Gellius. Chapel Hill 1988 ( ed. 2,2003); P. Steinmetz, Untersuchungen zur römischen Literatur des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Wiesbaden 1982.
2. Das gilt besonders für W. Keulen ( Gellius the Satirist. Roman Cultural Authority in Attic Nights. Leiden, Boston 2009, rev. BMCR 2009.05.13), der vor allem das satirische Potential der NA sieht, und E. Gunderson ( Nox philologiae. Aulus Gellius and the Fantasy of the Roman Library. Madison, Wisc. 2009, rev. BMCR 2009.11.30), der den Text in einer Art postmoderner Fortschreibung dekonstruiert.
3. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; A. Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999.
4. Nur gelegentlich ist etwas zu vermissen, so etwa die thematisch einschlägigen Aufsätze von T. Morgan ( Educational Values. In: L. Holford-Strevens; A. Vardi, (Hrsg.), The worlds of Aulus Gellius. Oxford 2004, 187-205) und F. García Jurado ( „Ramae Graece“. Aulo Gelio, o la nostalgia romana de Grecia. In: A. Sánchez-Ostiz u.a. (Hrsg.), De Grecia a Roma y de Roma a Grecia: un camino de ida y vuelta. Pamplona 2007, 143-154).
5. Vgl. z. B. S. 5-6, Anm. 11 zur Herkunft und Geschichte der Qualifizierung als „Schaf mit goldenem Fell“ ( pecus aurei velleris), mit der Gellius vor allem im 19. Jh. abgefertigt wurde.