BMCR 2009.11.30

Nox philologiae: Aulus Gellius and the Fantasy of the Roman Library

, Nox philologiae: Aulus Gellius and the Fantasy of the Roman Library. Madison, Wis.: University of Wisconsin Press, 2009. ix, 313. ISBN 9780299229702. $55.00.

Nachdem in den letzten zwanzig Jahren den lange vernachlässigten ‘Noctes Atticae’ des Aulus Gellius in der Forschung eine verstärkte Aufmerksamkeit zuteil geworden ist und Gellius seit dem Erscheinen der ersten Auflage von Holford-Strevens’ Monographie (1988)1 geradezu eine Renaissance erlebt,2 ist nun ein Buch erschienen, das die ‘Noctes Atticae’ nicht wie die bisherigen Arbeiten philologisch, literatur- oder kulturhistorisch untersucht, sondern vielmehr auf Grundlage der neueren postmodernen Literaturtheorien fortschreibt.

Erik Gunderson, der sich in einer ‘Praefatio Editoris’ als Herausgeber einer lange unzugänglichen und kürzlich in einem Antiquariat entdeckten anonymen Originalschrift fingiert, gibt damit auch schon selbst sein Werk als ein fiktionales literarisches Produkt und nicht als wissenschaftliche Arbeit auS. Signalisiert wird diese Fiktionalität (des vorgefundenen neu edierten Textes) bereits paratextuell durch die im Untertitel gegebene Ankündigung der ‘fantasy of the Roman library’ und ihre Illustration durch Arcimboldo’s ‘Bibliothekar’ (1566) auf dem Umschlagbild. Schon in der Anlage des Buches treten literarische Phantasie und Kreativität sichtbar zutage: Der kurzen Vorrede des Herausgebers (an dessen Stelle zur Ergänzung der wissenschaftlichen Biographie im Bucheinband noch einmal Arcimboldo’s Bibliothekar abgebildet ist3), folgt das vorgebliche, in verschiedenen Schrifttypen gestaltete und mit mehreren Zitaten unterschiedlicher Provenienz und Sprache ausgestattete, Faksimile des Titelblatts der ‘Nox Philologiae’, eines laut französisch-englischem Untertitel aus der Feder eines anonymen Verfassers stammenden so genannten ‘Roman historique du futur antérieur by Anonymous’.4 Von anderssprachigen Einschüben, die lateinische, griechische (z.B. ‘Original’-Titelblatt, S. 5. 36. 232 f. 299 f. 306), französische (z.B. S. 102 Anm. 10. 269. 277), deutsche (z.B. ‘Original’-Titelblatt, S. 115. 135. 271. 277. 300. 306) und sogar chinesische (S. 304) Phrasen und Zitate umfassen, ist auch der gesamte anschliessende englische Text durchzogen, dessen einzelne Bände, Bücher, Kapitel und Abschnitte (fast) alle lateinische Überschriften tragen. Denn das Buch ist nach dem nicht nur im Titel nachwirkenden Vorbild der behandelten bzw. fortgeschriebenen ‘Noctes Atticae’ des Aulus Gellius vielfach untergliedert: In zwei ‘Tomi’ (auch die 20 Bücher des Gellius sind während ihrer Überlieferungsgeschichte zeitweise in zwei Teilen tradiert worden) von fünf bzw. drei ‘Libri’ (‘Tomus I’: S. 53-201; ‘Tomus II’: S. 223-306) werden die acht Bücher zusammengefasst, die ihrerseits jeweils eine Reihe von ‘Capita’ bzw. ‘Capitula’ enthalten. Ihre lateinischen Überschriften, oftmals bestehend aus (wortgenauen oder abgewandelten) nicht ausgewiesenen Zitaten aus den ‘Noctes Atticae’, aber auch aus neuen (eigenen) Formulierungen gebildet, geben nach dem gellianischen Muster mehr oder minder aufschlussreiche Hinweise auf den Inhalt (vgl. S. 195). Eine Übersicht über diese Kapitelüberschriften (ohne Seitenangaben, deren Fehlen die Orientierungsfunktion des Überblicks nicht unerheblich beeinträchtigt), als ‘Book Zero’ tituliert, ist—wiederum so, wie sich bei Aulus Gellius an dessen ‘Praefatio’ ein Inhaltsverzeichnis anschliesst—an die drei einleitenden Vorreden angefügt. In diesen ‘Praefationes’ werden die Grundlagen der folgenden Darstellung reflektiert, indem zunächst in der ersten ‘Praefatio’ die Situation des Autors als die eines Gellius-Lesers und Gellius-Fortsetzers bzw. -Neuschreibers erklärt wird. Ausgehend davon, dass die ‘Noctes Atticae’ nicht nur ein Buch über Bücher, sondern auch ein Buch über den Umgang mit der durch Bücher erworbenen Bildung sind (S. 12. 36. 38. 248 f.), wird in der ‘Praefatio Altera’ einerseits als Ziel der eigenen Beschäftigung des Autors mit Gellius bestimmt, statt einer historischen Untersuchung des antiquarianism aus den ‘Noctes Atticae’ eine Erzählung über die Praxis des antiquarianism zu entwickeln, indem diese Geschichte mit ihrem Stoff auf dieselbe Weise verfährt wie das gellianische Werk (S. 11 f. 14; vgl. auch S. 22). Andererseits wird die Situation des Lesers der ‘Nox Philologiae’ erklärt, der zur weiteren Fortsetzung des von Gellius in Gang gesetzten unendlichen Prozesses der Lektüre und Neuschreibung der ‘Noctes Atticae’ aufgerufen ist (S. 14), wobei der literaturwissenschaftliche Hintergrund — Rezeptionsästhetik und postmoderne Literaturtheorien des Dekonstruktivismus — bereits angedeutet wird. Auch wird hier (zum ersten Mal) die Problematik einer geschlossenen Abhandung über die ‘Noctes Atticae’ angesichts ihrer Inhomogenität ( disparilitas) erörtert (vgl. S. 24-27. 135. 164). In der Analyse der ‘Praefatio’ des Gellius (‘Praefatio Tertia’) schliesslich wird die Trennung zwischen Leben und Werk des Gellius für obsolet erklärt (S. 43), da die Person des Gellius, bei der drei fliessend ineinander übergehende (S. 150. 194. 225) und auf irritierende Weise changierende Instanzen (S. 253) zu unterscheiden seien—den Autor, den Erzähler und die im Text erscheinende Figur (S. 9; vgl. S. 194)—, wesentlich aus den gelesenen und diskutierten Büchern bestehe (S. 20. 127. 150. 165; versinnbildlicht in Arcimboldo’s ‘Bibliothekar’. Dieser dem Gelliusleser plausible Gedanke, der das von der Forschung viel traktierte Dilemma aufhebt, zwischen Fiktion und (autobiographischen) Fakten in den ‘Noctes Atticae’ zu differenzieren,5 wird im folgenden immer wieder aufgegriffen (S. 20; vgl. S. 26. 46. 123. 194. 225. 229. 248).

Der erste Band nimmt Quintilians für die römische Rhetorik “kanonische” Aussage über die konstitutiven Faktoren der Rede ( inst. 1,6,1-3) zum Ausgangspunkt (S. 55-58), um auctoritas (‘Liber Primus’: S. 55-98), ratio (‘Liber Secundus’: S. 99-131) und usus (‘Liber Tertius’: S. 132-165) jeweils zum Thema eines Buches zu machen. Die in den ‘Noctes Atticae’ wirkende Dominanz der Autorität gegenüber den anderen beiden mit ihr in Wechselwirkung stehenden, zuweilen durch die auctoritas auch konterkarierten Prinzipien, wird zutreffend herausgestellt (auch schon S. 22) und an einzelnen Beispielen erläutert.6 Ein diskursiver ‘Index Nominum uel Dramatis Personae’, der den ‘Liber Quartus’ bildet (S. 166-201), ist einzelnen für Gellius besonders wichtigen Autoren und Personen der Vergangenheit (Varro, Nigidius, Caesar, Apion, Plinius, Ciceros Sekretär Tiro) und der Gegenwart (Fronto, Tauros, [Sulpicius] Apollinaris, Favorinos) gewidmet. Dagegen gibt der anschliessende ein eigenes Buch (‘Liber Quintus’) füllende fünfteilige ‘Index Rerum Potiorum’ in alphabetischer Form umfassend Auskunft über die behandelten Themen (S. 202-208), Namen (S. 208-212) und Stellen (S. 212-217), über die erwähnten lateinischen Begriffe (S. 217-220) und griechischen Termini (S. 220-221). Die ungewöhnliche Plazierung des Index zwischen ‘Tomus I’ und ‘Tomus ΙΙ’, die einen früher hier vorgesehenen Werkschluss und eine zunächst nicht geplante spätere Fortsetzung suggeriert, führt dazu, dass der Index sowohl zurückverweist auf den vorausgegangenen Teil als auch vorausweist auf den folgenden. Dadurch wie durch seinen ihm zugewiesenen Buchstatus findet der verdienstvolle detaillierte Index einerseits mehr Beachtung, andererseits ist er schwerer aufzusuchen und zu benutzen.

Der zweite Band konzentriert sich im ‘Liber Sextus’ (S. 225-251) und ‘Liber Septimus’ (S. 252-286) auf die Modi der Rezeption und des Austauschs in der unendlichen Überlieferungskette, in der Gellius durch die von ihm tradierten Zitate, Übersetzungen und Kommentare eine wichtige Stelle einnimmt. Schon die Buchtitel des sechsten und siebten Buches verweisen mit ihren ambivalenten Genitivattributen ‘Libri Librorum’ bzw. ‘Auctoris Auctores’ (vgl. S. 250 f. bzw. S. 252) auf die Rückbezüglichkeit und Wechselbeziehung des antiquarianism, die den Autor Gellius verschwinden lässt (S. 13. 195. 236; vgl. S. 284: Tod des Autors) und den Text der ‘Noctes Atticae’ zum Labyrinth (S. 13. 46. 195 Anm. 47. 237. 278. 284) bzw. Archiv (S. 284 f. 292 f. 296 f.) macht. So wie Gellius zwischen Ennius einerseits (S. 253-255) und Macrobius andererseits (S. 255-269) steht, so hat der zum Gellius alter erklärte (S. 276 f.) L. Holford-Strevens (S. 270-277) die ‘Noctes Atticae’ weiter fortgeschrieben. Auch die anderen Gelliusforscher der letzten Jahrzehnte (bes. G. Anderson, D.W.T. Vessey, M. Henry; vgl. S. 277-283) werden zu auctores Noctium Atticarum erhoben, so dass schliesslich auch der Autor der ‘Nox philologiae’ für sich die Autorschaft der ‘Noctes Atticae’ reklamiert (S. 283-286). Jedoch distanziert er sich zugleich von diesem Anspruch, indem er allgemein bemerkt: “… it is unlikely that an author today would pen a Noctes in anything other than an ironic gesture. That is, the Noctes is today possible only as a pointed impossibility”(S. 197).

Der wie das achte nur fragmentarisch überlieferte Buch der gellianischen ‘Noctes Atticae’ bloss aus Kapitelüberschriften bestehende ‘Liber Octavus’ bietet unter dem Titel ‘Lectionum Lectores: Capitula et Reliquiae’ (S. 287) vier von Gellius übernommene Titel, nämlich die von NA 8,17 (mit einer fortführenden Variation des Themas in englischer Sprache), NA 8,8, NA 8,12 und NA 8,14, ohne sie aber als Zitate auszuweisen. Dieser Umgang mit wortgenauen Zitaten und freieren Textparaphrasen, der die Gepflogenheiten exakter wissenschaftlicher Zitation bewusst ausser Acht lässt und mit den Assoziationen des nicht nur im Gelliustext versierten, sondern allgemein gebildeten Lesers spielt, ist ein konstitutives Element der gesamten ‘Nox Philologiae’. Offenbar stellt sich der Verfasser (Gunderson) mit dieser Praxis bewusst in die Tradition des Gellius: Denn Gellius hat zwar für antike Verhältnisse, in denen man aufgrund des anderen Originalitäts- und Rezeptionsverständnisses sich viel grössere Freiheiten gegenüber den Vorlagen herausnimmt, schon erstaunlich genau Zitate markiert und lokalisiert, aber modernen Ansprüchen in dieser Hinsicht noch längst nicht genügt.8 Manchmal genau verwiesen, häufig nur angespielt wird auf die ‘Noctes Atticae’, z.B. S. 109 (S. 48): die Kapitelüberschrift variiert und kombiniert NA 5,10,11/16; S. 161 (S. 49): die Kapitelüberschrift zitiert wortgenau NA 18,2,14, worauf auch S. 138 f. 196. 234. 298 rekurriert wird; S. 225 (S. 50): die Kapitelüberschrift variiert NA 19,7,2 im Sinne einer Fortsetzung der ‘Noctes Atticae’ durch die ‘Nox Philologiae’; S. 237 Anm. 25: übersetzt paraphrasierend NA 16,2,9-10 (ohne Stellenangabe); S. 237 (S. 50): die Kapitelüberschrift variiert NA 1,2,4; S. 242 (S. 50): die Kapitelüberschrift nimmt Bezug auf NA 14,6[,3]; S. 243 (S. 50): die Kapitelüberschrift zitiert NA 2,21,7; S. 252 (S. 50): die Kapitelüberschrift ist abgewandelt aus NA 14,5; etc. In gleicher Weise erscheinen in Anspielungen und (nicht oder nur undeutlich angezeigten und unverorteten) Zitaten auch andere antike Texte9 ebenso wie neuzeitliche Werke der europäischen (Welt-)Literatur von Shakespeare über Flaubert und Jarry bis Borges, von Hegel bis Nietzsche.10 Desweiteren werden ein Chanson (S. 277), Bunuel-Filme (z.B. S. 165: ‘El ángel exterminador’; S. 193 ‘Cet obscure objet du desir’) und Gemälde (z.B. S. 197-201: Velázquez’ ‘Las Meninas’ in Anlehnung an Foucault; S. 225: Magritte’s ‘La trahison des images’ und ‘La condition humaine’) ebenso wie das Kommunistische Manifest (S. 277), aber auch Zeichen bzw. Abkürzungen der Computersprache (S. 25 f.: QWERTY / AZERT; S. 119.124: GNU; S. 255: ASAP) zitiert bzw. alludiert. Dieses Gewebe von angezeigten und nicht signalisierten Verweisen in der ‘Nox Philologiae’ schafft einen Text, der die Struktur und den Zitatcharakter postmoderner literarischer Werke imitiert.

Der dekonstruktivistische Hintergrund, schon durchscheinend in den vorausgegangenen Teilen des Buches, wird von Gunderson voll beleuchtet in der ‘Appendix’ (S. 288-298). Die hier gehäuft erscheinenden und die zuvor erwähnten Namen Lacan, Foucault, Derrida, Deleuze, Butler stehen für das alle Facetten, von der psychoanalytischen Literaturwissenschaft bis zu den Gender-Studies, umfassende, sich in der ‘Nox Philologiae’ widerspiegelnde Spektrum der Literaturtheorie.11 Angesichts der in Gunderson’s Buch zentralen Erörterung der in den ‘Noctes Atticae’ zu differenzierenden drei Gellii (S. 194), die auf Grundlage des Eingangskapitels von Foucaults ‘Les mots et les choses’ (1966) [dt. ‘Die Ordnung der Dinge’, 1971] über Velázquez’ ‘Las Meninas’-Gemälde durchgeführt wird (S. 197-201), bleibt zu fragen, ob der Bezug auf Foucault tatsächlich zur Erhellung (oder eher zur Verunklärung) der unnötig verkomplizierten Konstellation von Autor, Erzähler und Textfigur in den ‘Noctes Atticae’ (s.o.) beiträgt. An die ‘Appendix’ angehängt finden sich, wieder mehrsprachige, ‘Fragmenta adespota’ (S. 299-304) und ‘Spuria’ (S. 305-306), die offenbar Einblick in den Produktionsprozess der ‘Nox’ gewähren und ihre wiederholt zur Sprache gebrachte unendliche Fortsetzbarkeit und offene Form (z.B. S. 13. 43 f. 248; vgl. S. 9. 290 über die ‘Noctes Atticae’) signalisieren sollen.

Am Ende des Buches steht eine Bibliographie (S. 307-313), die mit ihrem englischen Titel die abschliessende Redaktionstätigkeit des Herausgebers Gunderson anzeigt. Unter dem Namenseintrag Anonymous ist als Selbstreferenz bereits der Titel der ‘Nox Philologiae’ aufgenommen. Bezeichnend dafür, dass Hauptbezugspunkt und Schwerpunkt der ‘Nox Philologiae’ in der modernen Literaturwissenschaft liegen, ist schon die Zahl der Titel die von Bourdieu (3), Derrida (4), Foucault (9) angegeben sind, während z.B. der neue Sammelband von Holford-Strevens / Vardi sowie die einschlägigen Arbeiten von Astarita und Beall (vgl. Anm. 2) über Gellius fehlen. Nicht benutzt worden zu sein scheint auch die neue von Amato herausgegebene Edition der Werke des Favorinos, von der bisher der erste Band (u.a. mit einer ausführlichen, sehr wertvollen Einleitung zu Werk und Person des Favorinos, die alle gellianischen Zeugnisse berücksichtigt) erschienen ist.12

Nicht von ungefähr ist hier der Beschreibung der Aufmachung und Anlage des Buches so viel Aufmerksamkeit gewidmet worden. Denn darin liegt hauptsächlich seine Originalität, die sich freilich auch schon wieder relativiert, wenn man die reichliche Beimengung inzwischen fast stereotyper Zutaten eines postmodernen literarischen Werks bemerkt.13 Inhaltlich bringt Gunderson wenig neue Erkenntnisse über Gellius, er gibt sich, wie er ganz offen—wohl um der erwarteten Kritik vorweg den Wind aus den Segeln zu nehmen—eingesteht, mit der Wiederholung bekannter Gedanken zufrieden (S. 59-62. 168; vgl. auch S. 261). Trotzdem beansprucht er für seine Darstellung, Gellius in ganz neuem Licht zu zeigen, indem er sich von allen zeitgenössischen Versuchen absetzt, Gellius (kultur)historisch einzuordnen (S. 164 f. 168. 283 f. 290), wie er überhaupt dezidiert jede historische Kontextualisierung des antiquarianism ablehnt (S. 15. 164 f. 271. 293. 296). Anscheinend ist ihm mehr daran gelegen, die Anwendbarkeit postmoderner Literaturtheorien auf antike Texte an dem Beispiel der ‘Noctes Atticae’ zu beweisen, als den Text des Aulus Gellius neu zu erforschen.14 In diesem Sinne ist sein Bekenntnis zu verstehen, Gellius als einen geeigneten Repräsentanten für seine antiquarianism -Erzählung gewählt zu haben (S. 10 f.). Der durchaus erklärungsbedürftige substantivische Begriff antiquarianism — er ist ohne exaktes deutsches Pendant, lässt sich aber mit ‘antiquarischen Interessen’ bzw. ‘Studien’ umschreiben— wird an keiner Stelle genauer definiert, aber offenbar in einem umfassenden Sinne verstanden, wie die Beschreibung seiner drei zeitlichen Dimensionen erkennen lässt: er sei nicht nur vergangenheitsbezogen, sondern auch gegenwartsrelevant und zukunftsweisend (S. 161). Das Interesse an den literarischen Unternehmungen der antiken Antiquare, mit dem Gunderson bei seinen Lesern rechnet, beruht darauf, dass die Antiquare seiner Ansicht nach frappierende Ähnlichkeit mit den postmodernen Zeitgenossen haben (S. 6; vgl. auch S. 297; trotz seiner Feststellung des Unterschieds zwischen “revolutionary postmodernism” und “antiquarian game” S. 153). Doch sollte der an Gellius und seinem Text aktuell interessierte Zeitgenosse sich weiterhin zuerst das Verständnis der ‘Noctes Atticae’ durch Holford-Strevens’ erhellende Monographie erschliessen lassen. Falls ihn dabei die Affinität zwischen antikem Text und postmoderner Literatur15 motiviert, nach Erklärungen dafür zu suchen, und falls er die literarische Umsetzung postmoderner Literaturtheorie in einem wissenschaftlichen Sachtext goutiert, wird ihn die Lektüre von Gundersons Buch nicht enttäuschen. Dabei darf er sich allerdings nicht daran stören, dass das Buch trotz des insgesamt verständlichen und anschaulichen Stils zum Teil nicht einfach zu lesen und der bisweilen vage assoziierende Gedankengang nicht leicht nachzuvollziehen ist (z.B. S. 228. 286. 295). Fast zur Marotte steigert sich z.B. die im gesamten Buch anzutreffende Verbindung von Begriffsdoppelungen mit Inversionen (z.B. S. 42: “the mystery of philology and philology as mystery … the mystery of literature and literature as mystery”), die sprachlich wohl die Reziprozität des antiquarianism abbilden sollen (vgl. S. 125. 251), deren Sinn aber nicht immer klar wird und die sich oft der Tautologie nähern.16

Corrigenda :

Einen falschen Kasus enthält die lateinische in Frageform gekleidete Kapitelüberschrift ‘Liber Secundus: III’ (S. 48 bzw. S. 105: An rationem ei constare potest statt An ratio…); ferner sollte es hier possit statt potest heissen. Auch in den als indirekte Fragesätze aufzufassenden Überschriften von ‘Liber Primus: I’ … quomodo Gellius eisdem uerbis usus est (S. 48 bzw. S. 55) und ‘Liber Quartus: VII’ Qua ratione Tiro Tullius in libros Noctium Atticarum deductus est (S. 49 bzw. S. 186) stehen fälschlich die Indikative an Stelle der entsprechenden Konjunktivformen. Zu der Verwechslung von interstitio (in NA praef. 1) mit iustitium (S. 19) hat offenbar die Erklärung des Begriffs iustitium in NA 20,1,43 (als iuris … quasi interstitionem) geführt. Ein Widerspruch besteht zwischen der nicht zutreffenden Behauptung, Horaz sei in den ‘Noctes Atticae’ ebensowenig wie Ovid erwähnt (S. 67), und der richtigen Feststellung, dass er nur einmal, in NA 2,22,25, namentlich genannt werde (S. 167). Darüber hinaus wird jedoch auf Horaz auch ohne Nennung des Namens angespielt in NA 2,22,2 ( legebatur … in carmine Latino ‘iapyx’ uentus vgl. Hor. carm. 1,3,4) und in NA praef. 20 ( profanum uolgus vgl. Hor. carm. 3,1,1). Unter den seltenen Druckfehlern (z.B. S. 13 Anm. 14 cumeo statt cum eo; S. 16 thana statt than a) sind nur wenige irritierende: die Verschreibung der Namen Euathlus zu Eualthus (S. 174), Axius zu Apion (S. 191); [ Jens Peter ] Jensen zu Jenson (S. 310) sowie die Verschreibung der Zahlen in der Seitenzahl des Literaturhinweises auf Henry 1994: 1394 statt 1934 (S. 228 Anm. 9) und in der Stellenangabe 18,3,8 statt 18,13,8 (S. 237 Anm. 26).

Notes

1. L. Holford-Strevens, Aulus Gellius, London: Duckworth, 1988. In zweiter, leicht revidierter und ergänzter Fassung ist das Buch inzwischen noch einmal aufgelegt worden: L. Holford-Strevens , Aulus Gellius. An Antonine Scholar and his Achievement, Oxford: University Press 2003.

2. Davon zeugen zahlreiche Publikationen, sowohl Monographien als auch Aufsätze sowie ein Sammelband, der letzten Zeit: z.B. M. L. Astarita, La cultura nelle ‘Noctes Atticae’, Catania 1993 [= Saggi e testi Classici, Cristiani e Medievali, 6]; St. M. Beall, Civilis eruditio : Style and content in the ‘Attic Nights’ of Aulus Gellius, Ph.D. Berkeley (University of California) 1988; ders., “Translation in Aulus Gellius:” CQ 47 [1997] 215-226; ders., “Homo fandi dulcissimus: the role of Favorinus in the ‘Attic Nights’ of Aulus Gellius:” AJPh 122 (1) [2001] 87-106; V. Binder, ” Vir elegantissimi eloquii et multae undecumque scientiae – Das Selbstverständnis des Aulus Gellius zwischen Fachwissen und Allgemeinbildung;” in: M. Horster / Ch. Reitz (Hrsg.), Antike Fachschriftsteller: Literarischer Diskurs und sozialer Kontext, Wiesbaden 2003, 105-120; L. Holford-Strevens / A. Vardi (Ed.s), The Worlds of Aulus Gellius, Oxford: University Press 2004; M.-L. Lakmann, Der Platoniker Tauros in der Darstellung des Aulus Gellius, Leiden / New York / Köln 1995 [= Philosophia antiqua, 63]. – Auch im Erscheinen von Editionen (neben bzw. nach der Oxford-Ausgabe von P.-K. Marshall 1968) spiegelt sich das wiedererwachte Interesse an Gellius wider: z.B. Aulu-Gelle, Les nuits attiques, texte établi et traduit par R. Marache, I-IV, Paris 1967 -1998; Aulo Gellio, Notti Attiche. Libri I-XIII, introduzione, testo latino, traduzione e note di F. Cavazza, vol.1-7, Bologna 1985-1999.

3. Diese ironische Tarnung mit der Maske des ‘Bibliothekars’ setzt sinnfällig ins Bild, dass im folgenden einerseits vom Verschwinden des Autors (S. 13. 195. 236. 284), andererseits von der Spiegelung der eigenen Person des Autors in Person und Text des (Antiquars bzw. Archivars) Gellius die Rede ist (S. 9; vgl. S. 193. 200. 297).

4. Der Autor (Gunderson), der sein Werk auch als “a commentary on the commentaries on Gellius” (S. 9; vgl. S. 27. 241. 243: genauso die ‘Noctes Atticae’ als ‘a commentary on commentaries’) charakterisiert, bezeichnet nicht nur sein eigenes Unternehmen als ‘Roman’, sondern wendet analog den englischen Begriff ‘novel’ auf die ‘Noctes Atticae’ des Gellius an (vgl. S. 11. 194), jedoch ohne dessen Problematik zu reflektieren. S. 252 Anm. 4 findet sich der Hinweis auf M.M. Bakhtin, The Dialogic Imagination: Four Essays, Austin 1981, 52-53, der Gellius in die Vorgeschichte des Romans einbezieht. – In dieselbe Richtung zielen die Beschreibungen, die ‘Noctes Atticae’ enthielten “a tale of the tale of antiquarianism” (S. 11) bzw. “the story of the story”(S. 249). – Die Bedeutung und Funktion des französischen futur antérieur, das dem Futur II des Lateinischen entspricht und zugleich ein Vergangenheitstempus und ein Futur ist, trifft nach Ansicht des Autors (Gunderson) genau das Wesen der Philologie, die in der Gegenwart Autoritäten der Vergangenheit zugleich als zukünftige autorisiert (S. 245).

5. Vgl. L. Holford-Strevens, “Fact and Fiction in Aulus Gellius:” LCM 7 [1982] 65-68; ders., Aulus Gellius [2003] (s. Anm. 1), 65-72, bes. 71-72; ders., “Aulus Gellius: The Non-Visual Portraitist;” in: Mark J. Edwards / Simon Swain [Eds.], Portraits: Biographical Representation in the Greek and Latin Literature of the Roman Empire, Oxford 1997, 93-116, hier 109-112; dazu auch G. Anderson, “Aulus Gellius as a Storyteller;” in: L. Holford-Strevens / A. Vardi [2004] (s. Anm. 2), 105-117, hier 116.

6. ” Auctoritas is the highest principle in Gellius’ eye”, hat schon L. Holford-Strevens [2003] (s. Anm. 1), 178 konstatiert.

7. Hier und im folgenden werden die ‘Noctes Atticae’ bei Stellenangaben abgekürzt zitiert als NA.

8. Nach Ansicht von K. Sallmann, “Aulus Gellius;” in: Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd.4, München 1997, 72 wird “Gellius […] die Kultur des exakten Zitats verdankt.” Vgl. auch J. Andrieu, “Procédés de citation et de raccord:” REL 26 [1948] 268-293, hier 274.

9. Z.B. ‘Original’-Titelblatt / S. 299 f.: Epiktet 5,1; S. 237: von Cic. Ac. 2,49 überlieferter Sorites, der von Gellius in NA 18,1,9-14 in einen anderen Zusammenhang übertragen worden ist; S. 140 (S. 49): Kapitelüberschrift mit Zitat aus Cic. De orat. 2,60.

10. Der Leser beteiligt sich dadurch ganz der Intention Gundersons entsprechend an dem Bildungsspiel (S. 136 f. 165. 249. 265), indem er die vom Autor nicht zugewiesenen Zitate, sondern nur alludierten Texte entweder spontan oder durch Nutzung der einschlägigen Hilfsmittel identifiziert: z.B. S. 176: Shakespeare, ‘Hamlet’; S. 193 f.: Melville, ‘Moby Dick’; S. 102 Anm. 10 / S. 284: Jarry, ‘Gestes et opinions du Docteur Faustroll pataphysicien’; S. 160 Anm. 67: Flauberts enzyklopädischer komischer Roman ‘Bouvard et Pécuchet’; S. 195: Caroll, ‘Alice’s Adventures in Wonderland’; S. 269: Zusammenstellung verschiedener (durch Schriftwechsel signalisierter) Einträge aus Flauberts ‘Dictionnaire des idées reçues’; S. 264. 291 f.: Auszug aus dem bzw. Anspielung auf den Essay von Borges, “Pierre Menard. Author of the Quixote” (unter Hinweis auf das Literaturverzeichnis); ‘Original’-Titelblatt: Zitat aus Hegels Vorrede zu ‘Grundlinien der Philosophie des Rechts’; S. 17 Anm. 21. 126 Anm. 53: Nietzsches Umkehrung der aus Sen. Epist. 108,23 aufgegriffenen Sentenz über den Wandel der Philosophie zur Philologie; S. 165: Nietzsche, ‘Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben’.

11. Schon mit dem Untertitel der Praefatio ἀλλοποίησις (S. 5) nimmt Gunderson einen von den Biologen und Begründern des radikalen Konstruktivismus H.R. Maturana und F.J. Varela eingeführten Begriff der Systemtheorie auf, in der mit Allopoiesis im Gegensatz zur Autopoiesis, dem Prozess der Selbstherstellung, die Herstellung von etwas anderem als sich selbst, bezeichnet wird.- Es verwundert, dass Hans Blumenberg nicht namentlich erwähnt wird, obwohl er doch, nach Borges’ ‘Die Bibliothek von Babel’ [1941] und Foucault massgeblich die in Gundersons Buch virulente Vorstellung der “imaginären Bibliothek” (Untertitel: ‘Aulus Gellius and the Fantasy of the Roman Library’; S. 235 f. 249; vgl. auch S. 291 f.) propagiert hat: Vgl. H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt. Die kopernikanische Optik, Frankfurt a.M. 1975,615 Anm. 5; ders., “Eine imaginäre Universalbibliothek”; in: Akzente. Zeitschrift für Literatur 28/1 [1981] 27-40; ders., Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981, 305 ff. (mit Bezug auf M. Foucault, Nachwort zu Flaubert, Die Versuchung des heiligen Antonius, Frankfurt 1966, 217-251).

12. Favorinos d’Arles: Oeuvres, Tom.1: Introduction générale, Témoignages, Discours aux Corinthiens, Sur la Fortune. Texte établi et commenté par E. Amato, traduit par Y. Julien, Paris 2005.

13. Frappierende Ähnlichkeit hat Gundersons Buch mit der amüsanten Persiflage eines solchen postmodernen Produkts, das Andrea Köhler, “Kilroy was here;” in: Postmoderne. Eine Bilanz. Sonderheft Merkur, 52 Heft 9/10 [1998] 840-851, hier 840 f. karikiert, indem sie dessen typische “Ingredienzien” und möglichst inhomogene Mixtur beschreibt.

14. Vgl. Th. Schmitz, Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 152: “Angesichts der grundlegenden Zweifel an der Interpretation, die die Dekonstruktion vorträgt, lässt sich leicht verstehen, dass es keine einfache ‘Anwendung’ dieser Methode auf antike Texte gibt. … In allen diesen Fällen geht es jedoch mehr darum, Beispiele für das Spiel der Sprache zu gewinnen als darum, etwas über den vorliegenden Text herauszufinden.”

15. Schon Holford-Strevens hat eine Verwandtschaft zwischen postmoderner und antiker Literatur des 2. Jh.s festgestellt: Anders als Gunderson (S. 277) bezieht sich Holford-Strevens [2003] (s. Anm. 1), 363 aber nicht auf die Antiquare, sondern auf die sogenannten Archaisten.

16. Weitere Beispiele: S. 64: “the scholarship of authority and the authority of scholarship”; S. 113: “the logic of narration and the narration of logic”; S. 294: “the discursivity of the world as well as the worldliness of discursivity”; solche Wendungen auch S. 12. 18. 62. 74. 109. 131. 133. 201. 269 und noch öfter; ähnliche Wortdoppelungen S. 144. 165. 179. 241. 265. – Gundersons Erläuterung zu einem zuvor gebrauchten Wortspiel lässt sich verallgemeinern und erklärt seine Vorliebe für derartige Formulierungen: “My ambiguous and duplicitious wordplay with these two senses of play only reflects the difficult and dramatic game that is afoot in the Noctes” (S. 157).