Alexandria ad Aegyptum als ein Zentrum der hellenistischen, kaiserzeitlichen wie auch spätantiken Welt ist schon seit langer Zeit Thema vieler Studien gewesen. Daher verwundert es, dass sein Bildungssystem in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten bislang noch keine umfassende monographische Darstellung erfahren hat. Dieses desideratum wird mit der vorliegenden Studie von Stefanie Holder behoben, welche eine erweiterte Version ihrer Dissertationsschrift darstellt.
Einleitung (p. 1 – 22):
Die Einleitung umreißt das methodische Vorgehen und den bisherigen Forschungsstand, der wie o. g. bisher die Kaiserzeit weitestgehend ausblendete. Jene Epoche war in der Tat keine Phase des Niedergangs, sondern eine eigenständige Weiterentwicklung mit eigenen Höhepunkten. Die überlieferungstechnischen Probleme mit der disparaten und teilweise äußerst fragmentarischen Quellenerhaltung werden ebenfalls thematisiert.
Kap. I „Bildungsbegriff: Systematische Grundlagen“ (p. 24 – 78):
Wichtig für eine Auswertung ist die vorherige Bestimmung der verwendeten Begriffe, eine Praxis, die in der Forschung leider nicht überall Anwendung findet. Hier verweist die Autorin auf die Problematiken, antike Verhältnisse mit modernen Begriffen zu beschreiben und mithilfe eines solchen rezenten Verständnisses als Hintergrund zu Ergebnissen zu gelangen, welche nicht unbedingt der damaligen Wirklichkeit nahekommen. Sie kann aufzeigen, dass es sich beim antiken Bildungsbetrieb nicht um ein reichsweit einheitliches Programm handelte, sondern um vielschichtige und auch auf lokaler Ebene differenzierte Systeme. Dies beginnt schon bei der Aufspaltung des Begriffes der παιδεία, wo zwischen der intellektuellen Ausbildung und den jeweiligen Einzelfächern auf der einen Seite und derjenigen παιδεία aus dem Bereich der politischen Führung unterschieden werden müsse. Die verschiedenen „sozialen Implikationen“ (p. 77) sind dabei für das jeweilige Verständnis des Funktionierens von und des Wesens der παιδεία äußerst wichtig.
Kap. II „Bildung in Alexandria: Die Funktion des Museions“ (p. 79 – 224):
Dies kann als das Hauptkapitel des Bandes verstanden werden. Ein kurzer Rückblick beleuchtet die Geschichte des zu Beginn der Ptolemäerzeit gegründete Museions in Alexandria als wissenschaftliche Begegnungsstätte. Das Museion wurde in der Forschung oftmals als eine Art Vorläufer der modernen Universität verstanden. Aufgrund der besonderen Bedeutung und des weitreichenden Einflusses des alexandrinischen Museions wird anhand dieser Einrichtung die Fragestellung fokussiert abgearbeitet.
Ausführlich werden in der Folge chronologisch sämtliche belegten Mitglieder des alexandrinischen Museions besprochen. Zuerst kommen die „wissenschaftlichen Museionsmitglieder“, also diejenigen, die primär als Gelehrte anzusprechen sind. Dabei sind nur sechs Männer, die als litterati belegt sind, eindeutig der hier untersuchten kaiserzeitlichen Einrichtung als wissenschaftliche Mitglieder zuzuweisen. Sie waren Philosophen, Sophisten und Dichter – sämtliche anderen Berufszweige können derzeit nicht belegt werden.
Hingegen sind 19 Personen dem „nichtwissenschaftlichen“ Spektrum zugehörig, also Personen, die nur im Rahmen ihrer Ämterlaufbahn oder aufgrund von kaiserlichen Ehrenernennungen (zeitweilig) mit dem Museion verbunden waren, aber keine Wissenschaftler waren.
Dazu kommen noch zwei litterati, die als Leiter des Museions (ἐπιστάτης τοῦ Μουσείου / supra museum Alexandreae) belegbar sind. Sie gehörten der kaiserlichen, nicht der lokalen Verwaltung an. Unklar bleibt weiterhin, ob der Leiter des Museums auch in Personalunion Vorstand der angeschlossenen Bibliothek gewesen war oder ob hier zwei Personen agierten, letzteres kann aber – zumindest für die Kaiserzeit – eher angenommen werden.
Diese wenigen Personen machen in Bezug auf den mit drei Jahrhunderten recht langen Zeitraum der Untersuchung deutlich, wie schwierig die Quellenlage für das kaiserzeitliche Museion in Alexandria ist. Archäologisch ist nichts erhalten. Hingegen spricht sich die Autorin nach vergleichender Analyse aller erhaltenen Quellen zu dem immer wieder behaupteten Bibliotheksbrand während des Alexandrinischen Krieges für die These aus, dass ein solcher zwar möglich gewesen sei, aber offenbar keine gravierenden Schäden verursacht habe.
Die Untersuchung hat gezeigt, dass nach dem Bruch durch die Gelehrtenvertreibung 145 v. Chr. die Forschung in der Form, wie sie in der frühen Ptolemäerzeit durchgeführt werden konnte, in der Kaiserzeit offenbar nicht mehr möglich war. Weiterhin wurde Forschung von einzelnen Gelehrten betrieben, die Zugang zu den Einrichtungen des Museions hatten. Jedoch gehörten sämtliche „nichtwissenschaftlichen“ Mitglieder des Museions der lokalen Elite und Führungsschicht an und waren somit keine Wissenschaftler. Deren Ernennungen zum Mitglied erfolgten aufgrund von Ehrungen, politischem und/oder karrieretechnischem Kalkül. Man kann also davon ausgehen, dass das kaiserzeitliche Museion keine der modernen Universität vergleichbare Forschungs- und Lehreinrichtung war.
Kap. III „Der Zugang zu Fächerwissen und dessen soziale Funktion“ (p. 225 – 246):
„Den Rhetorikunterricht zu durchlaufen war … für antike Oberschichtsfamilien eine soziale Selbstverständlichkeit und dies war zugleich der Ort, wo ein Schüler am Umfassendsten mit den die formale Ausbildung abschließenden Bildungskenntnissen vertraut gemacht wurde.“ (p. 21). Da das Museion keine wirkliche Ausbildungsstätte war, ist zu überlegen, wie höhere Bildung und Spezial- oder Fachwissen in Alexandria überhaupt erworben werden konnten. Dieser Frage geht das dritte Hauptkapitel nach.
In der Chora konnten erste Schritte in Rhetorikschulen gemacht werden. Die Autorin zeigt auf, dass auch in der Provinz durchaus Zugang zu Büchern und privaten Büchersammlungen mit griechischen und lateinischen Werken möglich war. Auch Bestellungen von Büchern bei Buchhändlern in Alexandria sind durchaus belegt. Da Lehrer überwiegend in eigenen Häusern unterrichteten, ist eine archäologische Identifizierung von Schulen kaum möglich.
Nicht jeder hatte Zugang zum Rhetorikunterricht, da dies mit relativ hohen Kosten verbunden war und so eher wohlhabenden Schichten vorbehalten blieb. Offenbar gerieten manche Eltern deshalb auch in den finanziellen Ruin (cf. p. 232). Diverse Lehrverträge sind erhalten, die konkrete Regelungen über die zu erwartende Ausbildung der Söhne und die Zahlung des Lehrerlohns enthalten. Die Schüler unterhielten, anders als heute, eine sehr enge persönliche Bindung zum Lehrer als Patron, in dessen Haushalt zumindest die auswärtigen Schüler auch lebten. Ein weiterer Schritt zur vertieften Ausbildung war dann der Wechsel in die Hauptstadt Alexandria. Nach der Autorin wird die Stellung der Lehrer dort derjenigen ihrer provinzialen Kollegen geglichen haben.
In diesem Kapitel werden Ausbildungen sowohl in der Provinz als auch in Alexandria thematisiert. Da der reguläre Unterricht bereits aufgearbeitet sei (p. 225), werden hier die Rhetorikschulen in den Fokus genommen. Praktisch wäre vielleicht auch eine kurze Zusammenfassung des Wissens über die übrige Bildung gewesen, auch wenn speziell der Rhetorikunterricht die Grundvoraussetzung für künftige politische Karrieren bildete.
Kap. IV „Das Verhältnis der Bildungsfächer zueinander“ (p. 247 – 357):
Während das vorherige Kapitel die Frage nach der kaiserzeitlichen Bildung in Alexandria eher aus dem Blickwinkel des Schülers analysierte, geht es in diesem Kapitel um die Lehrerschaft. Konkret werden in den Blick gerückt: Die Positionierung der einzelnen Bildungsfächer Grammatik, Rhetorik, Philosophie und Zweite Sophistik zueinander, sowie diejenige der entsprechenden Lehrenden im alexandrinischen Lehrbetrieb. Diverse bekannte Lehrpersonen wie Apion, Philon oder Aelius Demetrios werden ausführlich besprochen.
Während Verbindungen von Rhetorik und Philosophie auch andernorts im Imperium Roman wichtig waren, galten Sprachstudien und die (Fach)Grammatik vielen alexandrinischen Gelehrte als Grundlage aller weiteren Studien, was die Eigenständigkeit der ägyptischen Hauptstadt im damaligen internationalen Fachkontext betont. Eine weitere Besonderheit Alexandrias war die geringe(re) Bedeutung der Zweiten Sophistik – zumindest soweit es die erhaltenen Quellen widerspiegeln.
Kap. V „Παιδεία τοῦ ἐλευθερίου und politisches Handeln“ (p. 359 – 448):
In diesem Kapitel wird die Entwicklung einer παιδεία τοῦ ἐλευθερίου speziell auf Alexandria bezogen untersucht, speziell wie die Gelehrten sich darauf fußend in einer theoretischen philosophischen Diskussion das politische Miteinander vorstellten. Der ägyptische Zentralort selbst hatte bis zur Regierung von Septimus Severus keine innere Eigenverantwortlichkeit. Die politische Führungsschicht sollte bestimmte Eigenschaften besitzen, um als führungs- und regierungsfähig eingeschätzt werden zu können. Hier wird speziell auf Dion von Prusa, Philo, Appian und die Acta Alexandrinorum Bezug genommen. Letztere bevorzugen einflussreiche und starke lokale Regierungen, sprechen sich aber gleichzeitig auch für die zentralistische Herrschaft des römischen Kaisers aus. Nur diejenigen Regionen sollten eine eigne Selbstverwaltung haben, die diese auch adäquat auszuführen verständen.
Eine dreiseitige „Schlussbemerkung“ (p. 449 – 451) fasst die Ergebnisse konkret zusammen.
Angehängt sind zwei Appendices mit einer Auflistung der wissenschaftlichen bzw. nichtwissenschaftlichen Mitglieder des Museions und deren jeweiligen Quellen und Titeln bzw. Ämtern. Besonders interessant sind die Angaben, auf welche Weise die Person als Mitglied des alexandrinischen Museions quellensprachlich charakterisiert wird. Es handelt sich um sechs wissenschaftliche sowie 19 nichtwissenschaftliche Mitglieder, [die im zweiten Kapitel besprochen werden. Siglen und Abkürzungen sowie zwei ausführliche Indices antiker Personen und Sachbegriffe beschließen das Werk.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die vorliegende Arbeit auf einer äußerst ausführlichen, breit gefächerten und gründlichen Analyse der griechischen und lateinischen Quellen beruht. Sie ist übersichtlich gegliedert und auch durch die Indices hinsichtlich Detailfragen gut erschließbar. Alleiniger Schwerpunkt des Werkes sind die griechischen bzw. gräzisierten Bevölkerungsschichten der kaiserzeitlichen Verwaltungshauptstadt Ägyptens. Die indigen-ägyptischen wie auch „hebräisch-jüdischen“ Bevölkerungsteile bleiben außen vor. Dies ist nachvollziehbar, da die Verfasserin nicht im ägyptologischen oder judaistischen Forschungsbereich angesiedelt ist und beide Bereiche es eigentlich wert wären, in eigenständigen umfangreichen Monographien abgehandelt zu werden. Im Titel hätte dies vielleicht expliziter aufscheinen können. Außerdem wäre ein Kapitel mit einer kurzen Gegenüberstellung der drei Kulturbereiche und deren jeweiligen Bildungsbetrieben weiterführend gewesen, eventuell auch unter Heranziehung von FachkollegInnen, um die Positionierung des griechisch-hellenistischen Bildungsbetriebes innerhalb des multikulturellen Ägypten und speziell in Alexandria noch deutlicher herausstellen zu können.
Das einzige Manko ist hingegen, dass die griechischen und lateinischen Quellenzitate überwiegend nicht übersetzt oder nur als inhaltliche Zusammenfassung gegeben werden. Da heutzutage die Beherrschung der antiken Basissprachen bedauerlicherweise nicht mehr zu den regulären Studiumsinhalten bzw. -voraussetzungen aller altertumskundlich orientierten Fächer gehört, erschwert dies künftige Rezeptionen von Holders Studie in benachbarten Fachbereichen, wie beispielsweise der Ägyptologie, für die ihre Arbeit jedoch auch von Wichtigkeit sein wird.
Insgesamt ist die Studie von Stefanie Holder als bedeutsamer Beitrag für die Forschungen sowohl zum römerzeitlichen Ägypten, dem imperialen Bildungsbetrieb als auch generell zur antiken mediterranen Gesellschaft in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten zu betrachten.