Die Achikar-Erzählung ist eines der ältesten „internationalen” Werke der Weltliteratur. Sie fand im Nahen Osten bereits früh Verbreitung und wurde in mehrere Sprachen, so auch ins Griechische, übersetzt. Die Erzählung bildet den Hauptkern des massiven Triptychons von Ioannis Konstantakos: Der erste Band umfasst die Genese, das narrative Material und die Rezeption der Achikar-Erzählung,1 der zweite greift besonders die Verwendung der einzelnen Elemente (Motive, Sprüche) der Erzählung im archaischen und klassischen Griechenland sowie die Geschichte der griechischen Übersetzung in frühhellenistischer Zeit auf.2 Der dritte Band ist ein differenzierter Vergleich zwischen dem so genannten babylonischen Teil des Äsopromans (Kap. 101-123) und den überlieferten Hauptversionen der Achikar-Erzählung (einem frühen aramäischen Text aus dem Elephantine-Papyrus des 5. Jhs. und den späteren aus der Spätantike und dem Mittelalter in unterschiedlichen Sprachen tradierten Versionen).
Konstantakos unternimmt den Versuch, die Achikar-Fassung zu rekonstruieren, die der Autor des Äsopromans als Basis verwendet. Darüber hinaus werden sowohl die vorgenommenen Änderungen als auch die Gründe der Änderungen dargestellt. Im Wesentlichen wird untersucht, wie die orientalische Geschichte beinahe reibungslos in den griechischen Text integriert werden konnte. Auf diese Weise werden die Arbeitsweise und die Kompositionsmethode des Autors des Äsopromans, zu dem Zweck ein kohärentes Werk zu gestalten, erhellt.
Der Band besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil (S. 15-57) werden unter dem Titel „Die Texte” die alte aramäische Version der Achikar-Erzählung, die syrische Version und der babylonische Abschnitt des Äsopromans ins Neugriechische übersetzt. Im umfassenderen zweiten Teil (S. 59-540) folgt eine detaillierte komparatistische Studie, die aus sechs Kapiteln besteht. Im ersten Kapitel werden die Ähnlichkeiten zwischen den Helden Achikar und Äsop herausgearbeitet, die den Vergleich und die Annäherung der beiden Figuren ermöglichen. Das zweite Kapitel konzentriert sich auf die Änderungen der Namen und der Identitäten der Charaktere der Achikar-Erzählung. Hierbei werden der Pharao Nektenabo, der König von Babylon Lykoros, der Offizier-Retter Hermippos, der adoptierte Sohn Ainos-Linos-Helios und das Fehlen der Ehefrau im Äsoproman unter die Lupe genommen. Der sich anschließende Rätsel-Wettbewerb zwischen Äsop und dem Pharao ist das Thema des dritten Kapitels. Die einzelnen Rätsel (wie z.B. die Vergleichsrätsel, die Burg in der Luft, das Jahresrätsel) werden in ihren unterschiedlichen Versionen der Achikar-Erzählung beleuchtet, ebenso wie ihre Formen in anderen orientalischen Erzählungen. Das vierte Kapitel teilt die kompositionellen Tendenzen und Vorlieben des Autors des Äsopromans in fünf unterschiedliche Kategorien ein: Entfernung oder Mäßigung von grausamen Motiv-Szenen der Achikar-Erzählung, Ergänzungen anhand ägyptischer Lokalkolorite, Gebrauch von wiederkehrenden Motiven und Verbindungen zwischen dem babylonischen Teil und anderen Episoden des Äsopromans, Integration der Achikar-Erzählung in die literarischen Besonderheiten des Äsopromans, Erweiterung und Ausschmückung der Episoden zur Schaffung einer flüssigen, spannungsreichen Erzählung. Das fünfte Kapitel behandelt Änderungen, die sich nicht in die obigen Kategorien einordnen lassen, wie etwa die Einführung griechischer oder orientalischer Kulturelemente, die Motivation des Betrugs des adoptierten Sohnes, die Freude des Pharao, die Verzweiflung des Königs Lykoros und die Abreise nach Ägypten. Im sechsten Kapitel werden die Sprüche der Achikar-Erzählung und des Äsopromans komparatistisch untersucht. Insbesondere ihre strukturelle Position und Verbindung mit der Erzählung, wie auch der Ursprung der Sprüche des Äsopromans und ihre Beziehung zu denen des Achikar bilden hier den Schwerpunkt.
Der Band endet mit resümierenden Schlussfolgerungen, einem Abkürzungsverzeichnis, einer umfassenden Bibliographie und Indices (Eigennamen, Werke und Passagen, Themen-Motive) sowie einer Zusammenfassung in englischer Sprache.
Konstantakos hat sich hier keine leichte Aufgabe gestellt, da er sich auf Texte stützt, die im Grunde erst einer Rekonstruktion bedürfen. Der Äsoproman beispielsweise kann nicht ohne weiteres auf einen bestimmten Autor zurückgeführt werden, denn er ist ein populäres Werk, ein offener Text, der während seiner Rezeption zahlreiche Änderungen erfahren hat.3 Die Achikar-Erzählung wurde in verschiedenen Versionen und Sprachen tradiert, die allesamt relativ spät sind. Die meisten stammen aus mittelalterlicher Zeit, mit Ausnahme des Bruchstücks aus Elephantine.
Vor diesem Hintergrund ist es Konstantakos gelungen, die äsopischen Studien mit innovativem Material zu bereichern. Der babylonische Teil des Äsopromans wird zum ersten Mal gründlich untersucht,4 die literarischen Motive in der orientalischen und griechischen Literatur nachgezeichnet und komparatistisch dargestellt. Biblische Texte (wie Daniel oder die Genesis), die vergleichbare Motive aufweisen, werden ebenfalls miteinbezogen. Alle Variationen der überlieferten Versionen der Achikar-Erzählung wie auch des Äsopromans (G und W) werden berücksichtigt, dargestellt und evaluiert, wenn es um den Ursprung oder eine genauere Untersuchung der jeweiligen Motive geht. Auch Variationen aus Versionen der Achikar-Erzählung, die dem griechischen Text nahe sind, werden angeführt und die üblichen mit kleinerer Schrift wiedergegeben. Oft werden interessante Hypothesen zum Originaltext und den Änderungen seiner Versionen formuliert. Allerdings fragt man sich, warum in einer so sorgfältigen Untersuchung, in der alle Versionen der Achikar-Erzählung auch aus dem Mittelalter untersucht wurden, die Accursianische Version des Äsopromans aus spätbyzantinischer Zeit nicht ebenfalls berücksichtigt wurde.
In der Untersuchung der Bezüge zum „Original” treten der literarische Wert des ganzen Werks und die Arbeitsweise des Autors in ein neues Licht. Die alte Theorie, dass der Äsoproman kein kohärentes Werk darstelle, wurde vor dem Hintergrund neuer Aspekte dekonstruiert, die Sorgfalt des Autors, strukturelle Verbindungen mit anderen Parteien aufzuzeigen, erneut bestätigt. Doch auch Missverständnisse und kleine Ungeschicklichkeiten des Autors werden erwähnt und kritisch betrachtet (siehe das Nacht-Tag-Rätsel).
Schrittweise unternimmt Konstantakos den Versuch, dem anonymen Autor auf die Spur zu kommen. Nach dem minutiösen Vergleich mit dem orientalischen Prototypen formuliert er behutsam seine Ansicht über den Verfasser: ein zweisprachiger Autor aus dem Nahen Osten, dem die griechische Literatur und Philosophie wohlbekannt waren, der aber gleichzeitig vertraut war mit seiner eigenen Sprache und deren literarischen Traditionen.
Inwieweit der Prototyp des babylonischen Teils des Äsopromans ein in orientalischer Sprache verfasstes Werk oder eine griechische Übersetzung aus der peripatetischen Schule bildet, bleibt offen, da das überlieferte Material keine endgültige Antwort darauf erlaubt.
Was die Frage angeht, ob die Version G oder die Westermann-Version dem ursprünglichen Text näher ist, scheint sich der Autor für erstere entschieden zu haben, wobei er jedoch immer wieder auf einzelne Stellen verweist, die bezeugen, dass auch die Westermann-Version altes Gut bewahrt hat. Im Allgemeinen ist Konstantakos eher zurückhaltend, wenn es darum geht, Stellung für oder gegen eine „äsopische Frage“ einzunehmen, was durchaus verständlich ist angesichts der spärlichen Zeugnisse.
Oft wird darauf verwiesen, wie wichtig der Erwartungshorizont des griechischen Publikums bezüglich der Tradierung und Gestaltung des Äsopromans war. Daher wäre es interessant gewesen, das vorhandene Material in Hinsicht auf dieses Publikum zu untersuchen.
Die Wiederholung von Anmerkungen und Thesen lässt sich als Vor- oder Nachteil innerhalb eines so umfangreichen Werkes betrachten. Im Allgemeinen fällt die Argumentation von Konstantakos jedoch klar und überzeugend aus. In einem einzelnen Fall ist seine Feststellung der Gier des Nektenabo (3.10) meiner Meinung nach fraglich. Konstantakos bemüht sich, seine Argumentation durch den Text zu untermauern, das Hauptargument (die Verkürzung der Gebührenzahlungen von zehn Jahren am Anfang auf drei Jahre am Ende) kann aber nicht unbedingt charakterologischen Zielen des Autors dienen. Vielmehr könnte die Diskrepanz auf einen Fehler in der handschriftlichen Tradition zurückzuführen sein, was bei der Überlieferung von Zahlen in Prosa häufig der Fall ist. Zudem ließe sich im Fall einer wirklichen Verringerung die pathetische Reaktion sowohl des Äsop als auch des Lykoros schwerlich rechtfertigen.
Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um einen wichtigen und wesentlichen Beitrag, der nicht nur neues Licht auf den Äsoproman wirft, sondern gleichzeitig eine Fallstudie darstellt, die detailliert aufweist, wie orientalisches Material in der griechischen Literatur aufgenommen und integriert worden ist.
Notes
1. Ακίχαρος. Η Διήγηση του Αχικάρ στην αρχαία Ελλάδα. Τόμ. A΄: Γένεση και αφηγηματικό υλικό. Athens: Stigmi Publications, 2008.
2. Ακίχαρος. Η Διήγηση του Αχικάρ στην αρχαία Ελλάδα. Τόμ. Β΄: Από τον Δημόκριτο στους Περιπατητικούς Athens: Stigmi Publications, 2008. Alle drei Bände sind zwischen 2008 (der erste Band) und 2013 (letzter Band) erschienen, wobei es bemerkenswert ist, wie ein so umfassendes Werk innerhalb einer relativ kurzen Zeit entstehen konnte.
3. Diskussion zu dieser Besonderheit auf S. 543-548.
4. Siehe die vergleichende Studie zwischen Achikar und Äsop aus dem Jahr 1918: A. Hausrath, Achiqar und Aesop. Das Verhältnis der orientalischen und griechischen Fabeldichtung. Heidelberg.