Irmtraut Heitmeier (H.) zeigt in der vorliegenden Studie, dass auch im östlichen Teil des alpinen Rätien eine Fortdauer antiker Strukturen festzustellen ist, wie man sie bisher nur in Churrätien kannte. Ein besonderes Anliegen ist es H., die Kluft zwischen althistorischer und mediävistischer Forschung zu überbrücken und den gesamten Zeitraum ins Auge zu fassen.
H. unternimmt es, zum einen die kaiserzeitliche Genese der spätantiken Verhältnisse für das Verständnis der spätantiken Quellen heranzuziehen, zum anderen das Quellenspektrum neben der schriftlichen Überlieferung im Rahmen ihres interdisziplinär-landeskundlichen Ansatzes durch archäologische, namenkundliche und geographisch-siedlungsgenetische Quellen zu erweitern und in der kombinierenden landeskundlichen Methode die Frage nach der Raumorganisation des Inntals und ihren Funktionszusammenhängen zu beantworten.
Neben der Einleitung (Erläuterung von Fragestellung und Methode, Beschreibung von Bevölkerung und Kultur-, Verkehrs- und Siedlungsraum des Inntals in der vorrömischen Zeit) umfasst der Band zwei Hauptteile: “500 Jahre unter römischer Herrschaft” (römische Okkupation 15 v. Chr., kaiserzeitliche Raumorganisation, Siedlungsentwicklung und Bevölkerung, politisch-rechtliche Organisation) und “Von der Spätantike ins Mittelalter” (politische Kontinuität und Neuordnung im 5. und 6. Jh., Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung im frühen Mittelalter, Entwicklung der räumlichen Strukturen im Inntal, zur Geschichte Nordtirols im 7. und 8. Jh.) und eine Zusammenfassung der Ergebnisse “Die Frühgeschichte des Inntals in neuem Licht”.
In der Toponymie des pagus Vallenensium 1 ist von Bedeutung, dass Namenskonstanz als Kriterium für starke Kontinuität nicht nur der der Bevölkerung, sondern der Verhältnisse überhaupt zu werten ist. Z.B. wäre die in der Spätantike wiederauflebende Namenstradition des Breonennamens nicht denkbar, wenn die Bevölkerung im Alpenfeldzug des Drusus und Tiberius 15 v.Chr. so weit aufgerieben worden wäre, dass kein Anschluss an die vorrömische Identität mehr möglich gewesen wäre.
H. meint, dass es in der Logik des Alpenfeldzugs gelegen habe, Rätien lediglich wegen seines Transitwertes zu besetzen und zu verwalten.
Zum wirtschaftlichen Wert ist von Bedeutung, dass das Inntal als Passfussraum mehrerer transalpiner Wege (insbesondere Reschenroute und Brennerstrasse) eine klimatische Dreiteilung mit besonderer Begünstigung des Innsbrucker Grossraums aufweist.
Die ausgeprägte Kontinuität in der Ortstoponymie in den Strassen- und Passfussräumen lässt darauf schliessen, dass im Inntal eine Strassen- und Passorganisation der einheimischen Bevölkerung bestand, die auch nach dem Feldzug bis zum Ausbau römischer verkehrsorientierter Infrastruktur (wie Strassenbau, Strassenposten und Versorgungseinrichtungen) weiterbestand, weil die Besatzungsmacht auf die Kenntnisse der Gebirgsbewohner angewiesen war.
Interessant ist hierbei, dass der Passfussbereich um Wilten vor Einrichtung einer entsprechenden römischen Infrastruktur keine Vorteile bot und die alten Wege vor dem Ausbau der Brennerstrasse2 noch über die Mittelgebirge nach dem Osten und dem Westen abbogen.
An der Brennerstrecke lassen Orte mit vorrömischen Namen darauf schliessen, dass sie dort bestehende Einrichtungen der einheimischen Verkehrsorganisation weiterführten. Die Verkehrsorganisation im Unterinntal hingegen scheint nach Ausweis der Stationsnamen genuin römisch gewesen zu sein.
Nicht zu unterschätzen sind die einschneidenden Folgen des Bergsturzes von Brixlegg zu Beginn des 3. Jh., der die Funktionsfähigkeit der Unterinntalroute auf längere Zeit schwer beeinträchtigte und wohl auch zum Kontinuitätsabbruch führte.
Auch wenn Einzelnachweise fehlen, weist H. überzeugend darauf hin, dass für die römische Zeit im Inntal Bergbau und Salzgewinnung anzunehmen sind, wobei vielleicht bestehende Bergbau- und Metallverarbeitungstraditionen für die Kontinuität vorrömischer Ortsnamen gesorgt haben.
Bei der namenkundlichen Untersuchung ist die personale Benennung einzelner Güter3 von den Funktionsnamen zu scheiden, die auf eine grossflächige Organisation staatlich-römischer Verwaltung verweisen.
Während die starke Kontinuität vorrömischer Toponyme im mittleren Inntal die Weiterführung bestehender Strukturen anzeigt, verweisen die lateinischen Namen auf Neueinrichtungen in römischer Zeit, die einen Funktionsverband aus Grossweiden, militärischem Übungsgelände, verschiedenen Gewerben sowie Ackerbau erkennen lassen.
Aufmerksamkeit verdient die Beobachtung, dass der spärliche Nachweis von villae rusticae im Inntal direkt mit der Stärke des einheimischen Elements zur Zeit der römischen Herrschaft zusammenhängen könnte.
Zwei Phasen in der römischen Geschichte des Inntals lassen sich abgrenzen: das 2. und 3. Jh. sind vornehmlich durch die zivile Entwicklung, das 4. Jh. durch die militärische Sicherung der Passstrassen und damit des Nachschubs an der Donaugrenze geprägt, wobei die Bedeutung des Nachschubs über die Brennerstrasse, die in der Spätantike sicherlich als via militaris anzusprechen ist, durch die befestigten riesigen Speicherbauten in Wilten aufgezeigt wird.
Am Beispiel von Thaur und Pfaffenhofen-Oberhofen lässt sich nach H. exemplarisch eine kontinuierliche Entwicklung aus der Spätantike ins Mittelalter belegen, wobei allerdings manche Folgerungen spekulativ erscheinen. Interessant ist die Beobachtung, dass römische Neusiedlungsmassnahmen eher auf unbesiedelten Flächen stattfanden und einheimische Siedlungsplätze weitgehend tolerierten, deren Siedlungskerne in kurvolinearen Strukturen, “Mandeln”, im Gegensatz zur geradlinigen römischen Raumordnung stehen.
Zur Rechtsgrundlage des Raumes diskutiert H. die zwei Thesen des Inntals als Teil eines grossen kaiserlichen Domänenbezirks im Nordtiroler Raum bzw. der Breonen als kaiserlicher Kolonengemeinschaft peregrinen Rechts.4
H. schlüsselt sodann instruktiv die komplizierten Verhältnisse im Alpenraum im 5. und 6. Jh. im Spannungsfeld zwischen Goten, Franken, Baiern, Alemannen, Langobarden und Byzanz auf.
Aus der ungeschützten Lage der frühchristlichen Kirchenbauten des mittleren und oberen Inntals, die an organisatorisch und strategisch wichtigen Punkten lagen, lässt sich eine funktionierende militärische und zivile Präsenz ableiten; im Unterinntal nachweisbare Rückzugspositionen der Bevölkerung lassen vermuten, dass diese Region zumindest zeitweilig ausserhalb des gesicherten Raumes lag. Während sich im Voralpenland die Ethnogenese der Alemannen und Baiern vollzogen hatte, blieb in den Alpentälern die romanische Bevölkerung weitestgehend unangetastet.
Bedenkenswert ist die These, dass die mit Bergbau und Verkehrsleistung verbundenen munera der Kolonen schon in der Spätantike durch die Aufgabe der militärischen Sicherung der Brennerroute ergänzt wurden, die Breonen dann in ostgotischer Zeit als ansässige exercitales den Passverkehr überwachten und diese Aufgabe beim Wechsel in den fränkischen Machtbereich gleichblieb — eine Konstanz, die das Identitätsgefühl der Breonen befördert haben dürfte.
Auch im frühen Mittelalter ist eine weitgehende Bevölkerungs- und Siedlungskontinuität im mittleren Inntal gegeben; offenbar wurde neben der Strassenorganisation auch die Domänenwirtschaft in merowingischer Zeit weitergeführt. So verblieben auch die zentralörtlichen Funktionen vom frühen bis zum hohen Mittelalter bei Siedlungen mit vordeutschen Namen — es gab offenbar keine germanische Aufsiedlung des Inntals, sondern eine Herrschaftsübernahme.
Bedenkenswert ist die Beobachtung, dass das Fehlen von Walchen-Namen auf ausgewiesen romanischen Kontinuitätsraum hindeutet; wo hingegen Walchen-Namen auftreten, entstanden im frühen Mittelalter neue Organisationsstrukturen und neue Rechtsverhältnisse.
Die vorrömischen und römisch-romanischen Namen des mittleren Talabschnitts stehen in der Ortsnamenlandschaft des Inntals einer fast geschlossenen Gruppe deutscher Ortsnamen5 im anschliessenden Oberinntal gegenüber.
Das im Frankenreich zu beobachtende Phänomen, dass germanische Amtsträger (hier als Verwalter des strassenbezogenen Fiskalgutkomplexes) mit romanischen Grossen familiäre Beziehungen eingingen, ist auch im Inntal anzunehmen.
Erst als der Raum des pagus Vallenensium zum Reich Karls des Grossen gehörte und die Nord- und Südausgänge der Alpen unter gleicher Herrschaft standen, wurden wohl die Reichsrechte entlang der Passstrassen der Königsgewalt wieder unmittelbar verfügbar gemacht, und es kam zur Auflösung der spätantik-frühmittelalterlichen Rechtsverhältnisse und damit auch zur Umgestaltung der Raumordnung. Damit fanden auch die alten Verfassungsstrukturen der pagi und der Breonengemeinschaft ihr Ende.
Ein Vorzug des Bandes ist es, dass am Ende jeden Kapitels die wichtigsten Ergebnisse nochmals prägnant und nutzbringend zusammengefasst werden.
Durch die Kombination von schriftlichen, namenkundlichen und archäologischen Quellen sowie deren Auswertung vor dem Hintergrund der spezifischen geographischen Lage und der naturräumlichen Bedingungen ist es H. gelungen, den politischen Stellenwert des alpinen Inntals in römischer und frühmittelalterlicher Zeit neu zu beleuchten und die daraus resultierenden raumorganisatorischen, verfassungsrechtlichen, bevölkerungs- und siedlungsgeschichtlichen Entwicklungen aufzuzeigen. Auf diese Weise erschliessen sich dem Leser die Voraussetzungen des Mittelalters im Nordtiroler Raum.
Ein Glossar, ein Abbildungs-, ein Quellen- und ein Literaturverzeichnis sowie ein ausführliches Orts-, Personen- und Sachregister beschliessen den Band.
Notes
1. zu beachten ist, dass der pagus Vallenensium als Raumname den Personenverband der Inntalbewohner ohne Bezugnahme auf einen Zentralort umfasst und wahrscheinlich zusammen mit dem anschliessenden pagus inter valles eine Raumeinheit darstellt, die erst nach der Naturkatastrophe des Pletzach-Bergsturzes etwa ab dem späten 3. Jh. so benannt wurde und daher nicht die ursprüngliche Raumordnung wiedergibt.
2. der Ausbau der Brennerstrecke war vor allem nach ihrer Stationierung 179 n. Chr. zur Versorgung der legio III Italica in Regensburg dringlich.
3. patronymische Benennungen, z.B. rätische Prädialnamen, enthalten üblicherweise den Namen des Erstbesitzers.
4. Dies würde auch erklären, warum trotz der ausgesprochen günstigen Lage als Schnittpunkt mehrerer Transitwege keine Anzeichen auf besonderen Wohlstand der Bevölkerung hindeuten.
5. Es handelt sich überwiegend um personale Namen mit der Endunging. Dies macht den Eindruck einer kontrollierten Einwanderungspolitik. Nur in strategisch unwichtigen Gebieten, die den Passverkehr nicht direkt berührten, wurde dem Adel Ausbildung eigener Grundherrschaft gestattet; auch hier ist jedoch Kontinuität der eingesessenen Bevölkerung anzunehmen, wie z.B. in Pfaffenhofen aus der ethnisch getrennten Bestattung germanischer und romanischer Bevölkerung im gemeinsamen Gräberfeld gleicher Zeitstellung ersichtlich wird.