Bei diesem Buch handelt es sich nicht um eine Nero-Biographie im klassischen Sinn. Es erhebt nicht den Anspruch, eine weitere Interpretation und Analyse von „Leben und Herrschaft“ jenes Kaisers zu liefern, den die antiken Quellen als einen exzentrischen, wenn nicht sogar wahnsinnigen Tyrannen porträtiert haben und der trotz vielfältiger wissenschaftlicher Bemühungen um eine ausgewogenere Sichtweise bis heute in der breiteren Öffentlichkeit als Inbegriff des dekadenten römischen Kaisers firmiert. John Drinkwater, emeritierter Professor für Roman Imperial History an der Universität Nottingham, will keinen neuen Nero präsentieren, sondern erklären, warum in jenen 14 Jahren, in denen der letzte Kaiser aus der iulisch-claudischen Dynastie formell an der Spitze des Reiches stand, Politik und Verwaltung in einer Weise funktionierten, wie es unter einem monsterhaften Kaiser nie hätte der Fall sein können. Seine zentrale These lautet: Herrschaft und Administration liefen zwischen 54 und 68 gut, weil hinter dem Kaiser ein effizientes, kompetentes Team stand, das die eigentliche Arbeit machte, und Nero sich mit der Rolle des musik- und sportbegeisterten Zuschauers begnügte.
Um diese These zu belegen, wählt Drinkwater eine akribische, kleinteilige und differenzierte Vorgehensweise. Das Buch ist nicht als kontinuierliches Narrativ konzipiert, sondern präsentiert und analysiert in systematischer Form eine Vielzahl von einzelnen Aspekten. Verbindendes Element sind drei übergreifende Kapitel mit insgesamt 16 Abschnitten. Das erste trägt die Überschrift „Background“ (S. 5-168) und gliedert sich in sieben Unterkapitel, deren erstes („Nero, Bad or Good?“) unter anderem eine kürzestmögliche, 14-zeilige Darstellung der biographischen Eckdaten Neros enthält. Damit wird bereits deutlich, dass es dem Autor nicht um Nero als Person an sich geht, da der Princeps nicht die Kontrolle über die Politik hatte und diese auch nicht anstrebte. Gleichwohl schließt er sich in der Beurteilung des Phänomens Nero der Einschätzung von Edward Champlin ( Nero, Cambridge/Mass.; London 2003) an (S. 57: Er stellte seine eigenen Interessen vor die des Staates und gestaltete sein Leben als ein Drama, in dem er the sole star war). Die antiken Berichte über den despotischen, kriminellen, den „schlechten“ Nero hält er indes nicht für den richtigen Nero, sondern für den Nero seiner Feinde (S. 31). Die weiteren Unterkapitel stellen die Bedeutung der „Queen Mother“ Agrippina für Neros Herrschaft heraus, porträtieren das „Establishment Team“, bestehend aus Hofgesellschaft und Ratgebern, skizzieren die Rolle der führenden Militärs sowie politischer „Power-Groups“. Auch die Funktion von Literaten und Wissenschaftlern im Herrschaftssystem der Zeit Neros wird beleuchtet. In der Summe, so die Aussage dieses ersten Kapitels, waren es Männer und Frauen wie Agrippina, Pallas, Seneca, Burrus, Tigellinus, Statilia Messalina und Nymphidius Sabinus, die Nero an die Macht brachten oder in pragmatischer Weise dafür sorgten, dass er an der Macht blieb und dass das Imperium in dieser Zeit ordentlich regiert und verwaltet wurde.
Im umfangreichen Kapitel „Assessment“ (S. 169-368) werden signifikante Etiketten auf den Prüfstand gestellt, die Nero von den Quellen, von der Forschung und in der modernen Rezeption immer wieder angeheftet worden sind. Nero war Mörder, Brandstifter, Christenverfolger, sah sich selbst als Gott, war verrückt, liebte die Schauspielerei, war extravagant und verdorben. Außerdem konnte er nicht mit Geld umgehen. Drinkwater analysiert all diese Vorwürfe in segmentierten Abschnitten und gelangt zu überwiegend anderen Resultaten. Auch hier liefert er kein Porträt Neros, sondern versucht, die ihm von den Quellen oder der Forschung zugeschriebenen historischen Rollen und Eigenschaften in ihren Bedingungen und Voraussetzungen zu erfassen.
Ein Mörder war Nero nicht – viele der ihm zur Last gelegten Verbrechen (Claudius, Britannicus, Agrippina) habe er nicht begangen, andere seien von seinem Team organisiert worden, jedoch nicht etwa aus purer Mordlust, sondern aus Gründen der politischen Stabilität (S. 272 in Bezug auf die Morde nach 62: due to political necessity and managed by the establishment). Ein Brandstifter (eines der Attribute, das sich im Zusammenhang mit Nero am hartnäckigsten gehalten hat und anscheinend nie mehr aus den Köpfen herausgeht) war er ebenfalls nicht – die verheerende Feuerkatastrophe des Jahres 64 brach von selber aus (eine Einschätzung, in der dem Autor uneingeschränkt zuzustimmen ist). Die Implikationen der Katastrophe erschließt der Autor, methodisch nicht völlig unproblematisch, durch Analogien zum Großen Brand von London 1666. Überzeugend analysiert Drinkwater in diesem Kontext die Funktion der stadtrömischen Christen in ihrer Eigenschaft als Sündenböcken (S. 244-248). Die Christen seien nicht wegen ihrer Religion, sondern als Brandstifter sanktioniert worden. Daran schließt sich die historische Einordnung des „Goldenen Hauses“ an. Bei diesem habe es sich nicht um einen Architektur gewordenen Anspruch auf göttliche Verehrung des Herrschers gehandelt, auch nicht um den Ausdruck purer Megalomanie, sondern um eine durch das Feuer von 64 ermöglichte Baumaßnahme, die zwar alle bisher bekannten Maße sprengte, sich jedoch letztlich in die Tradition imperialer Repräsentationsbauten einfügte und speziell dazu dienen sollte, den armenischen König Tiridates bei seinem Besuch in Rom zu beeindrucken (S. 249f.). Auch unter Nero, so hält der Autor fest, driftete das römische Principat, auch wenn die Versuchung, eine solche Wertung vorzunehmen, in der Forschung immer groß gewesen ist, nicht in Richtung einer hellenistischen Monarchie (S. 271f.). Natürlich muss auch dieses Buch, selbst wenn Nero nicht im Focus steht, zur angeblichen madness des Kaisers Stellung beziehen (S. 276-286). Der Hinweis, dass wir keine Möglichkeit haben, den mentalen Zustand Neros, gewissermaßen in einer retrospektiven Ferndiagnose, zu bestimmen, ist fast überflüssig, aber wiederum auch notwendig, weil diese Frage bis in die Gegenwart hinein – neben dem Topos des Brandstifters – zu den beliebtesten Sujets bei der Decodierung des Phänomens Nero gehört. Wichtig ist die Beobachtung, dass die „Verrücktheit“ erst in den späteren Quellen, nicht aber bei Tacitus und Sueton explizit thematisiert wird (S. 285f.).
Instruktiv sind, wenn auch an dieser Stelle etwas überraschend platziert, die Ausführungen zu den Finanzen (S. 326-368). Kenntnisreich und überzeugend bilden die kompetenten Darlegungen aber einen rationalen Kontrapunkt zu pauschalen Urteilen, die Nero (wie auch Caligula) als reine Geldverschwender charakterisieren.
Das dritte große Kapitel („End“, S. 369-415) befasst sich mit den Vorgängen, die zum Sturz Neros und seinem vorzeitigen Tod führten. Es setzt ein mit Neros Tournee nach Griechenland im Jahre 67, die er nach Drinkwater auf Anraten seiner Berater unternahm, um ihn nach den Erfahrungen der Pisonischen Verschwörung aus der Schusslinie zu nehmen. Nach der Rückkehr fühlte sich Nero mehr denn je als Künstler, Schauspieler und Sportler. Der Fall begann mit der Revolte des Vindex und der Erhebung Galbas. Beide Vorgänge waren Ergebnis einer strukturellen Schwäche des Principats, das sich anfällig zeigte gegenüber den Ambitionen einflussreicher Militärführer an den Peripherien des Reiches. Nero starb am 9. Juni 68 mit den Worten qualis artifex pereo (Suet. Ner. 49,1). Einem der berühmtesten Aussprüche aus der römischen Kaiserzeit gibt Drinkwater eine bedenkenswerte eigene Deutung (S. 414), indem er in der Verwendung des Begriffs „Künstler“ einen ironischen Kommentar zu seiner finalen Situation sieht (und die Übersetzung Designer vorschlägt).
Abgeschlossen wird das Buch durch eine kompakte Zusammenfassung der wesentlichen Argumente („Conclusion“, S. 416-421), ein Verzeichnis der Forschungsliteratur und einen Index der Namen und Sachen.
Rom ging es gut, als Nero Kaiser war, weil er ein gutes Team hatte. Diese These wird angesichts des Umstandes, dass Nero gemeinhin als einer der schlechtesten römischen Kaiser gilt, bei künftigen Versuchen, seine historische Bedeutung zu definieren, nicht zu ignorieren sein. Nero wird von Drinkwater nicht etwa rehabilitiert, sondern als Hauptakteur eliminiert: Er stand abseits der großen Politik im Scheinwerferlicht auf der Bühne, um die Politik kümmerten sich viele bekannte und unbekannte Helfer und Ratgeber. Deren Rolle wird im Rahmen des vorliegenden Buches deutlich angemessener und sachlicher beurteilt als in auch jüngeren Publikationen, die es sich angewöhnt haben, in Bezug auf Neros Umgebung pauschal und polemisch von „Henkersknechten“ oder „Schergen“ zu sprechen.
Die These gibt über den engeren Rahmen der Herrschaft Neros hinaus Anlass, über das System frühes Principat an sich zu reflektieren. War es bereits so institutionalisiert, dass es, anders als zur Zeit des Architekten Augustus, zu seiner Funktionsfähigkeit des Kaisers gar nicht mehr bedurfte? Hatte Fergus Millar Recht, als er vor mehr als 40 Jahren dem Kaiser die Fähigkeit zum Reagieren, nicht aber zum Regieren attestierte? So reizvoll (wenn auch nicht komplett originell) die Gedanken Drinkwaters sind, so sind sie methodisch nicht ganz unbedenklich. Denn wie er im Vorwort selbst konzediert (S. XIII), waren es seine Studien zur Spätantike, die ihn veranlassten, auch frühere Herrschaftssysteme unter dem Aspekt unter die Lupe zu nehmen, wie sich negative Wertungen über die Kaiser in den Quellen mit erfolgreicher Politik der Administration in Einklang bringen lassen. Unter dieser Perspektive ist das Ergebnis seiner Forschungen eigentlich bereits determiniert, sie führt fast zwangsläufig zu der Idee, dass nicht die Herrschenden, sondern der Apparat die Fäden in der Hand hielt. Überdies handelte es sich bei Neros Freunden und Helfern nicht um eine homogene Regierungsmannschaft, sondern um konkurrierende Individuen und Gruppen. Auch sollte der patronale Charakter des frühen Principats nicht außer acht gelassen werden. Augustus konnte seine exponierte Stellung auch wegen seiner persönlichen Leistungen für die Res publica legitimieren. Der Princeps musste, wollte er störungsfrei regieren, um die Akzeptanz möglichst aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen werben. Anders als in der Spätantike konnten sich die Herrscher der frühen Kaiserzeit nicht einfach zurückziehen. Auch Nero mischte aktiver in der Politik mit, als es Drinkwater zugestehen will, und setzte dabei vor allem auf die plebs urbana als Unterstützer. Und ist der Dämon Nero auch sicher ein Konstrukt der Quellen, so gehörten Gewalt und Extravaganz durchaus zum Repertoire seines Herrschaftsstils, wie auch der bewusste Einsatz der Kunst als Inszenierung der Macht.
Trotz dieser Einwände und Bedenken ist dieses anregende, sorgfältig recherchierte und instruktive Buch ein wichtiger Beitrag zur Geschichte Roms in der Zeit Neros und zur Erforschung der politischen Strukturen und der Herrschaftspraxis in der frühen Kaiserzeit.