Nach den “Alterstopoi” nun die “Alterszäsuren”. Zum zweiten Mal haben sich die Kollegiaten des Wissenschaftlichen Nachwuchskollegs “Religiöse und poetische Konstruktion der Lebensalter” an der Universität Heidelberg mit dem Thema “Alter” beschäftigt. Ging es in dem 2009 veröffentlichten Tagungsband “Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie” um eine erste systematische Sammlung topischer Bilder, so wird in dem hier zu besprechenden Band die Redeweise von den Lebensaltern in ihrer normativen Dimension untersucht. Es geht um Korrespondenzen zwischen Lebensaltern und Zeitvorstellungen. Neben theologischen und gerontologischen Erörterungen mit zum Teil didaktischem Einschlag (Friedrich Schweitzer, Der Wandel des menschlichen Lebenszyklus – religiöse und theologische Implikationen, 1-15, Günter Thomas, Das hohe Alter als Herausforderung der theologischen Anthropologie, 17-47; William I. Randall, A Time to Read. Reflections on Narrative Openness in Later Life, 81-102) werden hier in diachroner Weise vor allem literaturwissenschaftliche Sichtweisen auf den Gegenstand präsentiert. Das Spektrum reicht von altägyptischen Weisheitslehren (Andreas Kunz-Lübcke, Erwachsenwerden – Entwicklung oder Vollendung? Perspektiven der Hebräischen Bibel, 103-130), alttestamentarischen Psalmen (Kathrin Liess, “Jung bin ich gewesen und alt geworden”. Lebenszeit und Alter in den Psalmen, 131-170; Thomas Hieke, Das Gedicht über Freude, Alter und Tod am Ende des Koheletbuches (Prediger Salomonis), 171-191) und antiken Varianten des Weltaltermythos bei verschiedenen Dichtern und Kirchenlehrern (Anja Wolkenhauer, Dehnung der Akmé, Eukrasie und Zeitlosigkeit: Entwürfe des guten Alterns im griechisch-römischen Zeitaltermythos, 221-235; Dorothee Elm, Die Entgrenzung des Alter(n)s: Zur Kaiserpanegyrik in der Dichtung des Statius und Martial, 237-260; Therese Fuhrer, Erneuerung im Alter: Augustins aetates -Lehre, 261-287) über die mittelalterliche Dichtung (Udo Friedrich, Altersstufen als Narrative und Metaphern in mittelalterlichen Wissens- und Erziehungsdiskursen, 49-79; Uta Strömer-Caysa, Zeit, Alter und Gewissheit im Hildebrandlied, 289-297; Manfred Kern, Schere, Stein, Papier. Alterszäsuren, Autorschaft und Werk in der mittelalterlichen Liebeslyrik, 299-321; Sandra Linden, für singen hüst durch die kel. Das memento mori in den Liedern Oswalds von Wolkenstein, 323-353) bis hin zur neuzeitlichen Literatur (Alexander Košenina, “Alles ohne Hexerei”. Verjüngungsmedizin in Kunst und Literatur seit der Frühen Neuzeit, 355-376; Jutta Heinz, Urszenen, Schwellenlektüren und ‘Wünschperioden’ – zu Kindheitszäsuren in Erzähltexten um 1800, 377-403; Thorsten Fitzon, Schwellenjahre – Zeitreflexion im Altersnarrativ. Arthur Schnitzlers Erzählung Frau Beate und ihr Sohn, 405-432). Nur ein Beitrag beschäftigt sich mit gesetzlichen Überlieferungen zu Alterszäsuren am Beispiel des antiken Athens (Jan Timmer, “Wer, der über 50 Jahre ist, will sprechen?” (Aischin.1,23). Überlegungen zu einer Zäsur und ihrem Verschwinden im Lebenslauf attischer Bürger, 193-219).
Ein einheitliches Konzept wird man in einem so breit angelegten Band nicht erwarten dürfen. Geht es den Theologen um christliche Sinnstiftungsangebote angesichts neuer Alterszäsuren zwischen dem dritten und dem hohen Alter in der Gegenwart der Postmoderne, so bieten die Literaturwissenschaftler in erster Linie textimmanente Interpretationen, die Zusammenhänge zwischen dem menschlichen Lebenszyklen und kosmologisch-politischen Zeitaltermodellen in unterschiedlichen Epochen und kulturellen Kontexten aufzeigen. Hier seien nur die altertumswissenschaftlichen Beiträge vorgestellt.
Der Alttestamentler Andreas Kunz-Lübcke (Leipzig) fragt nach Kindheitskonzepten in altägyptischen Weisheitslehren und im Alten Testament und findet Widersprüchliches: Kindheit sei zwar auch als Phase der Unvollkommenheit verstanden worden. Die Mehrheit der literarischen Stimme sähen im kleinen Menschen jedoch bereits “einen Vorabdruck des späteren vollendeten Erwachsenen” (123). Er bestätigt damit indirekt das Konzept von Philippe Ariès, demzufolge die Kindheit erst im 19. Jahrhundert als eine eigenständige Periode konzipiert wurde, obwohl sein Anliegen darauf zielt, eben diese Position zu relativieren.
Wie die agrarische Lebenswelt in die Rede über das Alter Eingang findet, zeigen die beiden Untersuchungen zum Alten Testament. Das Gotteslob erweist sich in der Interpretation einiger Psalmen durch die Alttestamentlerin Kathrin Liess (Heidelberg) als Angelpunkt der Redeweise über den Alterungsprozess als ein Wachsen. Während die Gottlosen wie Kraut sprossen, wächst der Gerechte bis ins Alter wie eine Zeder oder Palme. Leider belässt es Liess dabei, die Metapher aus botanischen Tatbeständen abzuleiten – die Zeder wird bis zu 40 Meter hoch und kann bis zu 3000 Jahre alt werden – ohne auf die nahe liegenden wirtschaftshistorischen Bezüge – die im Libanon und in Palästina heimische Zeder war begehrt für den Schiff- und Tempelbau – einzugehen. Auch im Fall der Untersuchung der Bilder des Todes und des guten Alterns im Koheletbuch, einer Weisheitslehre aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., durch den Alttestamentler Thomas Hieke (Mainz) hätte man sich gewünscht, dass die hier benutzte Metaphorik, die vor allem aus dem agrarischen Alltagsleben stammt, nicht nur vorgestellt, sondern auch gedeutet worden wäre.
Einen Mangel an der Einbeziehung der Lebenswelt kann man dem Althistoriker Jan Timmer nicht vorwerfen, der eine Dissertation über Altersgrenzen politischer Partizipation in antiken Gesellschaften vorgelegt hat und nun einem attischen Gesetz nachgeht, das ein Erstrederecht für die über 50jährigen in der Volksversammlung vorsieht. Es wurde wahrscheinlich von Solon im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. eingeführt, fand aber im 5. Jahrhundert keine Berücksichtigung mehr und gewann im 4. Jahrhundert wieder an Bedeutung. Timmer bringt die Umstellung mit dem Wechsel vom Konsens- zum Mehrheitsentscheidung zusammen: Wo Mehrheitsverfahren vorherrschen, reiche es, wenn man für seine Präferenz die Stimme abgäbe; in einem Konsenssystem, in dem Entscheidungen ausgehandelt werden, brauche es Akteure, “die durch lange und intensive Sozialisation in der Lage sind, Konsens auch unter schwierigen Bedingungen zu erzielen” (213). Deshalb also der Vorrang der Alten und der Verzicht auf sie im 5. Jahrhundert, als die Ekklesia zum entscheidenden politischen Organ geworden war.
Lebensaltermodelle und Weltaltermythen stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen aus klassisch-philologischer Perspektive. Während die Latinisten Anja Wolkenhauer (Tübingen) in ihrem Vergleich der Konzeption des Goldenen Zeitalters bei Hesiod und Ovid es dabei belässt, die Unterschiede herauszuarbeiten – während das Goldene Zeitalter bei Hesiod als Dehnung der Lebensmitte zuungunsten von Kindheit und Alter aufscheint, ist es bei Ovid als ewiger Frühling konzipiert – nimmt die Religionswissenschaftlerin und Klassische Philologin Dorothee Elm die politische Dimensionen derartiger Weltaltermodelle in den Blick. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stehen die kaiserzeitlichen Dichter Martial und Statius. Die Gleichsetzung von ewiger Jugend und ewiger Herrschaft, die Statius für den Kaiser Domitian vornimmt, zeigt, wie das Motiv des Goldenen Zeitalters politische Relevanz entfaltet. Der Entgrenzung der Lebenszeit des Herrschers in der panegyrischen Dichtung steht die Begrenzung der Lebenszeit gegenüber, die der Dichter Martial für sich selbst und der fiktiven Gestalt des Antonius Primus vorsieht. Die bei Statius aufgehobene Zäsur zwischen iuventus und senectus wird wieder markiert. Elm lässt offen, ob die Epigramme Martials, die nach der Ermordung Domitians entstehen, politisch zu verstehen sind oder allein der dichterischen Erfahrung der Vergänglichkeit der Zeitläufte entspringen. Deutlicher noch als bei Elm kommt in der Analyse des Weltaltermythos durch die Latinistin Therese Fuhrer (Freie Universität Berlin) die politische Dimension zur Sprache. Auch wenn es ihr in erster Linie um Augustins aetates -Lehre geht, so bezieht sie ältere Weltaltermodelle (Vergil und Florus) ein, um Augustins Umdeutung des Greisenalters vom Verfallsstadium zur Erneuerungsphase verständlich machen. Der Weltaltermythos mit seiner Abfolge vom Goldenen, Silbernen, Bronzenen und Eisernen Geschlecht wird von den kaiserzeitlichen Dichtern auf die geschichtliche Zeit bezogen. Wird bei Vergil das Eiserne Zeitalter als Bürgerkriegszeit konzipiert, das vom Goldenen Zeitalter der Augusteischen Herrschaft abgelöst wird, so erscheint im Abriss der römischen Geschichte des Florus, der zur Zeit der Herrschaft der Kaiser Trajan und Hadrian lebte, das Zeitalter des Augustus als senectus und die Herrschaft des Trajan als erneuerte Jugend ( reddita iuventus) bzw. als zweiten Frühling. Der ältere Seneca hingegen ließ die zweite Jugend des römischen Volkes bereits mit der Herrschaft des Augustus beginnen. In einer einzigen Körpergestalt ließ sich also die gesamte Geschichte Roms zur Anschauung bringen. Ich vermute, dass dieses Modell der generativen Macht Rechnung trug, die mit der Etablierung der Herrschaft eines Hauses die Außendarstellung des Kaiserhauses zunehmend bestimmte. Denn der Körper des Kaisers wurde zur Chiffre des Wohlergehens der res publica.
Deutlich wird in allen Beiträgen die ordnungsstiftende Funktion von Alterkonzepten und Alterszäsuren, wobei eine stärkere Berücksichtigung der historischen Zusammenhänge wünschenswert gewesen wäre, zumal die althistorische Forschung hier viel zu bieten hätte. Viel zu kurz kommen die Alterszäsuren im weiblichen Lebenszyklus. Andreas Kunz-Lübcke zählt zu den wenige Autoren des Bandes, der auch Alterszäsuren im weiblichen Lebenslauf berücksichtigt. Dies mag an der politischen Indienstnahme vieler Lebensalterstufenmodelle liegen. Aber das hätte thematisiert werden müssen.