BMCR 2013.11.65

The Theory and Practice of Life: Isocrates and the Philosophers. Hellenic studies, 54

, The Theory and Practice of Life: Isocrates and the Philosophers. Hellenic studies, 54. Washington, DC: Center for Hellenic Studies, Trustees for Harvard University, 2012. viii, 236. ISBN 9780674067134. $24.95 (pb).

Das Buch stellt den Anspruch, eine neue Sicht auf Isokrates und das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik in seiner Zeit zu eröffnen. In einem ersten Teil (11-111) werden konzeptionelle Affinitäten von Isokrates, Platon und Aristoteles untersucht, in einem zweiten (113-195) die ‚Schulpolitik‘ der Schülergeneration; der Schluss (197-208) versammelt Zeugnisse der Renaissance, die Isokrates’ Nachleben insbesondere als Autor des Fürstenspiegels beleuchten. Trotz der Behandlung vieler, zum Teil sehr spezieller Themen ist das Buch insgesamt auf die Gestalt des Isokrates zentriert. Neu ist die Sicht insbesondere dadurch, dass er in den Zusammenhang mit modernen theoretischen Fragestellungen gebracht wird. Zugrunde liegt das Modell Pierre Bourdieus vom ‚literarischen Feld‘ (4). Es hat gegenüber dem ‚politischen‘ eine gewisse Autonomie und verbindet die in ihm wirkenden und von ihm beeinflussten Akteure. Von Bourdieu angeregt ist wohl auch das Konzept einer ‚Theorie der Praxis‘. Diese wird nicht nur für Philosophie und Rhetorik, sondern auch für weitere Wissenschaften und Künste, insbesondere die Medizin, als gemeinsames Thema und Problem des literarischen Feldes jener Zeit gesetzt (2; 55). Isokrates wird als ihr hervorragender Vertreter gedeutet.

Als ein Kernstück dieser ‚Praxistheorie‘ versteht Wareh die Auffassung des Isokrates, dass es kein ‚Wissen‘ (ἐπιστήμη) davon gibt, wie wir handeln sollen, und nur ‚Meinung‘ (δόξα) die jeweiligen καιροί annähernd treffen kann. Und er stellt die Lehre einer solchen grundsätzlichen Ungewissheit in unserem Handeln auch in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles fest (13-54). Wareh ist nicht der Erste, der auf die Übereinstimmung hinweist und eine Beeinflussung durch den Redner erwägt.1 Mit der hier gegebenen umfassenderen Thematik stellt sich aber auch die Frage, inwieweit die grundsätzliche Negierung der Theoretisierungsmöglichkeit von Entscheidungen bereits einen wesentlichen Teil der ‚Theorie der Praxis‘ bilden kann. Andererseits gerät in dieser Perspektive die besondere Konzeption des Isokrates aus dem Blick.

Er hat einen eigenen Doxa-Begriff entwickelt und ihn nicht, wie Wareh meint (14; 37), von Platon – auch noch mit der für jenen charakteristischen Bedeutung ‚Erscheinung‘ – übernommen. Doxa bezeichnet bei ihm in individueller Hinsicht das reflektierte, durch Erfahrung geschärfte Zielen auf die ‚Angemessenheiten‘ (καιροί) aus dem Wissen über dessen Grenzen in der Handlungsorientierung. Aus der Betrachtung fällt zudem die andere – kollektiv relevante – Seite des Begriffs: die geltenden Vorstellungen und Normen, die als Grundlage der Entscheidung dienen.2 Das hat Bedeutung auch in Beziehung zu Aristoteles. Denn auch er gibt den bestehenden Meinungen – gegenüber Platon – großes Gewicht. Ein deutliches Zeichen dafür ist die frühe Topik mit ihrem Eingehen auf die ‚Endoxa‘. Diese ganze Hälfte des Doxa-Problems bei Isokrates und Aristoteles erscheint bei Wareh nicht, wohl deshalb, weil sie nicht dem hier entworfenen Theoriebild entspricht.

‚Καιρός‘ kann mit Wareh nicht einheitlich bei allen Autoren als flüchtiger ‚Augenblick‘ (‚moment‘) verstanden und in dieser Allgemeinheit der ‚Praxistheorie‘ zugeordnet werden (15; 25). Bei Isokrates bedeutet der Begriff spezifisch in einem nicht temporär verengten Sinn sowohl die äußere Situation, die weite Zeiträume umspannen kann, wie auch im Zusammenhang mit ihr das werkinterne Gestaltungsprinzip.3

Auch hat er sich nicht in geistiger Annäherung an Platon dessen Philosophie-Begriff angeeignet (20); vielmehr beruht sein Verständnis auf einer älteren Tradition, in der der Ausdruck ein allgemeines ‚Bildungsstreben‘ bezeichnet.4 Dieses erachtet er als grundsätzlich in verschiedener Weise realisierbar und so hat der Begriff ‚Philosophie‘ bei ihm nicht nur einen anderen Sinn, sondern auch einen anderen Umfang als bei Platon.5

Wareh gibt keine Gesamtdarstellung von Isokrates’ Bildungskonzept. Andererseits ist die Annahme der ‚Praxistheorie‘, mit der er ihn auszeichnet, für jene Zeit fragwürdig. Denn die Praktiken gehen aus oft weit divergierenden theoretischen Ansätzen hervor und sind dann nicht übertragbar. So kann ‚Performanz‘, von zentraler Bedeutung für die Theorievorstellung Warehs im Sinne des ‚Sprungs‘ in die Ungewissheit von Handeln und Leben (25;37-41;65-68), nicht eigentlich auf Isokrates’ Lehre und Tätigkeit angewendet werden. Die sie bestimmende Ausrichtung auf die politische Wirklichkeit bleibt geistig distanziert, dem ‚Augenblick‘ und seinen direkten Anforderungen entzogen. Hingegen ist rednerische Performanz ein Gesichtspunkt im Programm des Alkidamas, der das erfolgreiche Auftreten vor Gericht und in der Volksversammlung als vordringliche Aufgabe sieht, und entsprechend ist dessen Verständnis des καιρός von dem des Isokrates unterschieden.6

In anderer Hinsicht Anlass zu Kritik gibt die Art, wie der Protreptikos des Aristoteles zu Isokrates in Beziehung gesetzt wird (41-54). Dass das Werk in Auseinandersetzung mit ihm entstanden ist, wird allgemein angenommen.7 Der Versuch Warehs, auch hier Gemeinsamkeiten in den Positionen festzustellen, ist dadurch beeinträchtigt, dass er sich vornehmlich auf die Rede an Demonikos stützt; die Frage ihrer Echtheit meint er vernachlässigen zu können, da sie jedenfalls ‚isokratisch‘ genug sei, z.B. als Werk aus seiner Schule (42, Anm.79). Aus der vermeintlich höheren Sicht einer Theorie des Feldes, das Bedeutung über den einzelnen Autor hinaus besitzt, scheint hier keine Genauigkeit nötig. Doch sie ist entscheidend. Dass die Rede nicht von Isokrates stammt, kann als erwiesen gelten;8 und dass sie für die Bestimmung seiner Grundauffassungen wichtig werden kann, zeigt sich in ihrer ausgiebigen Verwertung durch den Verfasser (42-46; 54). Weitgehend auf sie scheinen die unhaltbaren Feststellungen gegründet, Isokrates habe den Wert äußerer Güter verworfen und als ‚höchstes Gut‘ eine interessefreie Güte erkannt (24). So soll er in die philosophische Nähe des Aristoteles gerückt werden. Doch seine Position ist auch in dieser Hinsicht eigen. Die sittliche Bildung des Einzelnen (ἐπιμέλεια τῆς ψυχῆς) soll bei ihm in der Beschäftigung mit der in ihrem Grundbestand unabänderlich gegebenen Welt der Interessen, der πλεονεξία, erfolgen.9 Auf der anderen Seite ist der Anspruch Warehs nicht ernst zu nehmen, das Gesamtwerk des Aristoteles durch die Annäherung an die ‚Praxistheorie‘ des Isokrates aus neuem Gesichtswinkel zu zeigen (77) .

Die Doxa-Lehre des Isokrates ist auch darin komplex, dass sie den Erwerb eines festen Wissens von den Redeformen (ἰδέαι, εἴδη) in sich einschließt. Diese Formen müssen von der auf die καιροί zielenden Doxa jeweils neu gemischt und geordnet werden. In dieser Seite der isokratischen Methodik sieht Wareh Gemeinsamkeiten mit dem Rhetorik-Entwurf Platons im Phaidros, der ihm eine ‚Konzession an die praktischen Künste‘ der Rede und Medizin zu sein scheint (55-73). In den Hintergrund tritt dabei die fundamentale Verschiedenheit in den Theorien und den daraus resultierenden Formen der Praxis. Während Isokrates sich mit schriftlich abgefassten ‚Politischen Reden‘ (πολιτικοὶ λόγοι) an ein breites heterogenes Lesepublikum wendet, bestimmt Platon als wichtigste Aufgabe die mündliche Unterrichtung des Einzelnen in Philosophie. Das Lehrverfahren in der Akademie zur vorbildlichen ‚Rhetorik‘ zu stilisieren, ist keine Konzession an den Konkurrenten.

Die Beziehungen zwischen Platon, Aristoteles und Isokrates werden – mit dem Anspruch einer neuen Gesamtsicht – selektiv behandelt. Doch ist auch das Feld der damaligen Bildungslehrer nicht vollständig erfasst. Antisthenes mit seinem bedeutenden Einfluss auf die Bildungswelt hat hier keinen Platz. Schließlich ist der methodische Zugang beschränkt. Als Formen der Beziehung kommen für Wareh nur in Betracht einerseits Anerkennung bei Übereinstimmung und andererseits Polemik. Dabei scheint eine moderne Wissenschaftsvorstellung Modell zu stehen (190f). Dass es in jener Zeit bei den Bildungslehrern wie in anderen Bereichen einen Agon gibt, in dem die Teilnehmer weder einfach anerkennend noch bloß polemisch sind, sieht er nicht, auch nicht, wo dies in der Literatur thematisch geworden ist (110).10 Überhaupt ist sein Anspruch, gegen eine weithin in Vorurteilen und Dogmen befangene Forschung anzutreten, angesichts eines gerade in letzter Zeit wachsenden Interesses an Isokrates nicht berechtigt. 11

Im zweiten Teil ist die Untersuchung der ‚Schulpolitik‘ der nachfolgenden Generation mit weiteren theoretischen Fragen verbunden. Das Bourdieu’sche Konzept des ‚literarischen Feldes‘ wird in zweifacher Weise, in der internen Bedeutung für die Akteure sowohl wie in seinem äußeren Verhältnis zum ‚politischen Feld‘, auf die Probe gestellt. Es ist reizvoll zu versuchen, die fragmentarisch überlieferten Autoren aus ihren polemischen Beziehungen genauer zu erfassen und an Beispielen die Wirkung der aufkommenden makedonischen Macht unter Philipp auf die Bildungswelt einzuschätzen. Unter den zahlreichen behandelten Gestalten, deren Kontur über das bisher Bekannte hinaus kaum deutlicher wird,12 erfährt besondere Beachtung der Historiker Theopomp (123-132). Für die umstrittene Frage, ob er ein Schüler des Isokrates war, ergibt sich tatsächlich aus dem polemischen Feld eine Antwort. Die Art, wie Speusipp in seinem Brief an Philipp ihn in seine Invektive gegen Isokrates hineinbringt (§12), macht klar, dass er ihn als dessen Schüler glaubt hinstellen zu können. Dies Argument ist allerdings nicht neu.13 Wie weit er darüberhinaus in seinen nach vielen Seiten ausschlagenden Polemiken eine ‚Schulpolitik‘ betrieben hat, ist zweifelhaft. Sein Lob des Antisthenes (F 295), des großen Antipoden seines Lehrers, spricht nicht dafür.14 In der letztlich zentralen Gegenüberstellung von Isokrates’ Philippos und Speusipps Brief an Philipp bringt der Verfasser verschiedene Gesichtspunkte zusammen: die Schulpolitik, die ins Spiel kommende politische Macht und den damit gegebenen Epochenwechsel (134-139; 154-165; 178-195). Die Überlegenheit des Isokrates in der Handhabung der Verhältnissse im Vergleich zu Speusipp tritt eindrücklich hervor. Wichtig für Wareh ist es, dass dabei für beide Seiten die schulische Perspektive gegenüber der rein politischen den Vorrang hat. Doch führt der Versuch, dass Bourdieu’sche Modell in dieser kritischen Konstellation zu bestätigen, in der Deutung des Philippos zu einer schematisch verfehlten Anwendung. Wareh möchte erweisen, dass Isokrates in dieser Schrift den König geradezu zu seinem Schüler macht, d.h. das literarische Feld dem politischen überlagert (154-159). Doch den König lehrt er nicht wie seine Schüler, er ‚rät‘ ihm (§ 16) und versucht dabei, dessen Meinung und die der zugleich angesprochenen griechischen Polis-Welt zur wechselseitigen Rücksicht aufeinander zu bewegen. Seine geistige Unabhängigkeit wäre anders zu beschreiben.

Das Verdienst des Buches ist es, den teilweise noch unerkannten Isokrates mit theoretisch interessanten Fragestellungen als eine für die Philosophen wichtige Erscheinung zu präsentieren. Das Problem liegt darin, dass mit einem im Einzelnen oft nicht soliden Verfahren eine zwar intellektuell anspruchsvolle und ansprechende, aber auch den Gegenstand verdeckende Überformung entsteht. Die Aufgabe, diesen Autor in seiner Eigenheit ans Licht zu bringen, bedürfte eines Zugangs, der weniger an der Präsentabilität einem heutigen Publikum gegenüber und stärker an der Sache orientiert wäre.

Notes

1. Vgl. W.Steidle, „Redekunst und Bildung bei Isokrates“, Hermes 80, 1952, in: H.-Th.Johann (Hg.), Erziehung und Bildung in der heidnischen und christlichen Antike, Darmstadt 1976, 204; A. Graeser, Die Philosophie der Antike 2, Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles, 2.A., München 1993, 82f., der auch dabei die Doxa-Lehre des Isokrates in ihrer Eigenart kennzeichnet.

2. Isoc. 13,8; 10,12; 2,41.

3. M.Trédé, KAIROS, L’à-propos et l’occasion, Paris 1992, 260-282; J.Bons, Poietikon Pragma: Isocrates’ Theory of Rhetorical Composition, Nijmegen 1996, 77-99.

4. Her.1,30,2; Thuc.2,40,1.

5. Isoc.2,51; ep. 5,3.

6. Alcid. Soph. 3;9;34.

7. P.Von der Mühll, „Isokrates und der Protreptikos des Aristoteles“, Philologus 94, 1940, in: P.V.d.M., Kleine Schriften, Basel 1976, 325f.; I.Düring, Aristotle’s Protrepticus. An Attempt at Reconstruction, Göteborg 1961, 33-35; H.Flashar, „Aristoteles“, in: Die Philosophie der Antike 3: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos, hg.H.F., 2.A., Basel 2004, 261.

8. F. Blass, Die attische Beredsamkeit II, 2.A., Leipzig 1892, 278-284; F. Münscher, „Isokrates“, RE 9, 1916, 2195-7; wichtig auch C.Wefelmeier, Die Sentenzensammlung der Demonicea, (Diss. Köln) Athen 1962; in den Ausgaben von Benseler/Blass, Drerup und Mathieu/Brémond wird die Rede als unecht behandelt, in den beiden letzten mit ausführlicher Begründung; danach auch in der Ausgabe von K.A.Worp/A.Rijksbaron, The Kellis Isocrates Codex, Oxford 1997. Soweit sie als echt präsentiert wird, geschieht dies ohne Berücksichtigung der Gegenargumente wie in der Loeb-Ausgabe von Norlin und in der Übersetzung von D.Mirhady/Y.L.Too, Isocrates I, Austin 2000, hier sogar mit der ignoranten Behauptung, der Konsens über die Echtheit sei ‚überwältigend‘(19).

9. Isoc.3,1f.; 15,275. 281-4.

10. C.Eucken, Isokrates. Seine Positionen in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Philosophen, Berlin 1983, 142-161; 286f. und passim.

11. Vgl. W.Orth (Hg.), Isokrates. Neue Ansätze zur Bewertung eines politischen Schriftstellers, Trier 2003; E.V.Haskins, Logos and Power in Isocrates and Aristotle, Columbia SC 2004; T.Poulakos/D.Depew, Isocrates and Civic Education, Austin 2004, und die zur Zeit entstehende reiche Kommentarliteratur zu den einzelnen Reden. – Dass Wareh die Rolle der ἐπιστήμη bei Isokrates aus der ‚Dunkelheit‘ hebt, in der sie bisher gelegen habe (59; vgl.37), trifft nicht zu; vgl. z.B. die klare Darlegung bei Bons, Poietikon Pragma, 26-36; 80f, mit der wichtigen Unterscheidung von technischem und allgemeinem Wissen bei Isokrates (30), die der Verfasser nicht kennt.

12. Vgl. J.Engels, „Antike Überlieferungen über die Schüler des Isokrates“, in: Orth, Isokrates, 175-194 mit weiterer Literatur; K.Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994.

13. A.F.Natoli, The Letter of Speusippus to Philip II, Stuttgart 2004, 55f.

14. M.A.Flower, Theopompus of Chios, Oxford 1994, 59; 94-97.