BMCR 2013.05.23

Römische Prosodie und Metrik: Ein Studienbuch mit Audiodateien

, Römische Prosodie und Metrik: Ein Studienbuch mit Audiodateien. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 2012. 215; MP3-Dateien. ISBN 9783236886. €39.90.

Inhaltsverzeichnis

Nachdem deutschsprachigen Metrikstudenten bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts nur drei jeweils nicht völlig befriedigende Einführungen zur Verfügung standen,1 haben die letzten Jahre in kurzer Folge gleich mehrere neue Darstellungen hervorgebracht; 2 dem sehr fortschrittlichen, aber etwas unübersichtlichen Werk von Boldrini stellt sich nun Zgolls „Studienbuch“ zur Seite. Diese Bezeichnung erhebt den Anspruch, dem Einsteiger ein selbsterklärendes Arbeitsmittel an die Hand zu geben; und Zgoll ist dem zunächst einmal mit bewundernswertem pädagogischen Geschick gerecht geworden.

Erläuterungen und Definitionen sind über weite Strecken von beispielhafter Klarheit und Kürze. Alle Begriffe werden auch in ihrer Herkunft erklärt und mit Betonungs-, teils sogar Ausspracheangaben versehen (149 „Pherekratéus … nach dem griechischen Komödiendichter Pherekrates …“). Eine Kurzeinführung in die lateinische Aussprache (37f) und die geschickt aufgebaute Übersicht über Vokallängen in Flexionsendungen (53–56) beschränken sich treffsicher auf genau den Umfang, den es sich als Metrikschüler im Kopf zu behalten lohnt. In der Darstellung der Füße, Kola und Metren schmeicheln Quantitätensymbole von luxuriöser Größe dem Auge. Häufig schließt sich einer anfängergerecht formulierten Information unmittelbar eine differenziertere Betrachtung „für Spezialisten“ in kleinerer Type an, was sich selbst dann als sinnvoll erweist, wenn dabei eine zunächst vereinfachende Ausdrucksweise gleich wieder korrigiert werden muß; als leicht zu merkende Orientierung kann die nämlich auch dem Fortgeschrittenen noch von Nutzen sein. Zgoll unterscheidet 57 mit Anm. 131 dankenswert sauber zwischen elementum anceps und indifferens und führt 119 Anm. 316 mit „Polyklise“ (als verbaler Entsprechung zum nominalen Polyptoton) sogar einen sinnvollen neuen Begriff ein. Die zugrundegelegte Sekundärliteratur ist durchgehend in Fußnoten aufgeschlüsselt; für den Anfänger dann eine große Hilfe, wenn die Anmerkungen so zielsicher und ökonomisch wie hier zumeist an die richtigen Stellen verweisen. 175f erhält der Leser eine Übersicht über die wichtigen antiken Quellen. In besonders charakteristischer und gelungener Weise geht Zgoll über die traditionellen Aufgaben eines Metrikhandbuches hinaus, wenn er immer wieder auf die hinter der Wahl der metrischen Mittel liegenden dichterischen Darstellungsabsichten zu sprechen kommt. Dafür werden auch längere Abschnitte oder ganze Gedichte durchanalysiert; besonders Horazens Oden mit ihrer so vollendet abgezirkelten Wortstellung sind ein ergiebiger Untersuchungsgegenstand.3

Wurde also dem deutschen Sprachraum endlich das langersehnte, rundherum empfehlenswerte Metrikhandbuch geschenkt? Leider nein; denn Zgoll hat sein Werk mit mehreren Hypotheken belastet, die dessen Wert deutlich beeinträchtigen.

1. Die Beispiele sind zu häufig ungünstig oder sogar falsch gewählt. So gehört etwa aberāt (Verg. ecl. 1, 38) nicht unter die Überschrift „Diastole: Dehnung von kurzen Vokalen“ (49), sondern zu brevis in longo ante caesuram (92). 75f stammen die Beispiele für Hemiepes und Enhoplion ausschließlich aus daktylischen Hexametern; interessant werden diese Kola aber erst im asynartetischen Verbund. Überhaupt halten immer wieder Teilverse (allzuoft nicht durch „a“/„b“ als solche markiert) als Beispiele her; 76 soll Plautus Rud. 668b einen Adoneus darstellen (bei Questa4 356 spondeische Dipodie), und Capt. 507a exemplifiziert 113 gleich zwei verschiedene Versmaße, wobei die letzte Silbe auch noch einmal kurz und das zweite Mal lang gemessen wird.

2. Die grundlegend wichtige Boldrini-Syzygie (so bezeichnet von Hermann Walter im Gnomon 74, 2002, 497) bleibt bei Zgoll unerwähnt, zu seinem Nachteil: Die erste und dritte „Spezialisten“-Regel 114f beschreiben ja (ebenso wie Fraenkel-Thierfelder- Skutsch 179!) lediglich Sonderfälle der Boldrini-Regel, und zumal wären mehrere Versehen vermeidbar gewesen, da sie auf offenkundige Verstöße gegen Boldrini hinauslaufen. So ist der zitierte Vers Plaut. Rud. 166 in der überlieferten Form metrisch unmöglich (wie auch bei Questa 2007, 224 nachzulesen); und 115: „Normalerweise erscheinen prokeleusmatische Wörter … mit der Hebung auf dem 2. Element ( facílius)“, hätte es statt „normalerweise“ „niemals“ (und statt „Element“ „Silbe“) heißen müssen, was sich durch genaue Lektüre von Crusius-Rubenbauer 68 auch unabhängig bestätigen läßt.

3. Glatt widersprüchlich sind Zgolls Ausführungen zum Iktus. Auf der einen Seite referiert er die Untersuchungen, die in den letzten Jahrzehnten erreicht haben, daß dieses Thema als erledigt zu den Akten gelegt werden konnte,5 auf der anderen liest man dann aber 26ff von „starken Taktzeiten“,6 „Versbetonung“, „Versakzent“ und schließlich einem „rhythmischen Akzent“: Wenigstens die letzten drei Begriffe bezeichnen so, wie sie hier benutzt werden, nichts anderes als eben das, was seinerzeit einmal als „Iktus“ geschätzt wurde. Man solle diesen Versakzent neben der melodisch zu realisierenden Wortbetonung „gleichermaßen berücksichtigen“ (29; melodischer Wortakzent wird dabei ohne weiteres postuliert, erst 38 mit Anm. 74 folgt der Hinweis auf die diesbezügliche wissenschaftliche Kontroverse): Solche Ideen sind nicht erst seit Stroh 1990, 92f obsolet (von Zgoll 27 Anm. 47 ausdrücklich zitiert). 7 Zgoll scheint 28 sogar ausgerechnet Stroh und Leonhardt Restsympathien für den Iktus unterstellen zu wollen.

4. Zgoll ist sich sowohl der Gemeinsamkeiten als auch der Unterschiede seiner Muttersprache einerseits und des Lateinischen andererseits nicht immer ausreichend bewußt; er zieht zuweilen Parallelen, die nicht aufgehen, und konstruiert Gegensätze, wo sich Verwandtes finden ließe. Die Aussprache des deutschen Wortes „Interesse“ mit vier Kürzen zu symbolisieren (25) ist mehr als ungenau. Die erste Silbe würde man am ehesten als lang klassifizieren (vgl. unten Anm. 11), zumal der Vokal der zweiten regelmäßig verschluckt wird („Intresse“); dann ergibt sich ein daktylischer Rhythmus. Daß das Deutsche keine sinntragenden Quantitätsunterschiede kenne (wie 30 vom Beispiel Lŏgik/Lōgik suggeriert), ist gerade falsch, einschlägig wären Wortpaare wie Wall/Wal, deren Bedeutung sich dem Hörer allein über die Vokalquantität erschließt — eine deutsch-lateinische Gemeinsamkeit, die doch eigentlich dazu einlädt, sie für die Metrikausbildung fruchtbar zu machen. Umgekehrt sind Elisionen der Art „hab‘ ich“ (68) mit dem Lateinischen nicht genau vergleichbar, da es wegen des sogenannten Knacklauts im Deutschen keine echt vokalischen Wortanfänge und demzufolge auch nicht Hiat oder Synalöphe gibt; „hab‘ ich“ ist nicht wesentlich von „hab‘ dich“ unterschieden. Mit Parallelen wie der 89 Anm. 224 bemühten läuft Zgolls (an sich begrüßenswertes) Bemühen um lebendige Veranschaulichung aus dem Ruder: Daß der Hexameterrhythmus für das akzentuierende Sprachempfinden an einen Walzertakt erinnere, mag für den deutschen Hexameter, zumal Goethescher (also triolischer) Prägung, zutreffen; im Lateinischen müßte man dafür aber rücksichtslos über sämtliche Quantitäten hinwegwalzen. Der folgende Vergleich mit dem Jive-Grundschritt erschließt sich mir überhaupt nicht mehr.

5. Über das schon Gesagte hinaus finden sich kleine Fehler und Ungenauigkeiten in nicht geringer Zahl. Neben den Begriffen „Element“ und „Silbe“ (mehrmals) sind auch gelegentlich Vokal- und Silbenlänge verwechselt oder Quantitäten an prominenter Stelle falsch angegeben.8 47f wird bei der Behandlung der Muta cum Liquida nicht erwähnt, daß sich fl und fr ebenso verhalten; trotzdem hatte 45 schon einmal freta als Beispiel gedient — wiederum nicht ganz korrekt, da f keine Muta ist. 178 formuliert Zgoll eine unmögliche Ausnahme zur Ritschlschen Regel und erweitert 185 den Begriff „Aphärese“ singulär um die Abstoßung ganzer Silben; mit der (zutreffend) als Zweck angegebenen „Vermeidung eines Hiats“ hat das angeführte Beispiel, temnere statt contemnere in Aen. 6, 620, dann auch nichts mehr zu tun.9

6. Da Zgoll ausdrücklich (11) am Zusammenhang zwischen Form und Funktion interessiert ist, könnte man fragen, ob in einer modernen Metrik nicht auch der kunstvollen Anordnung der Wortakzente im Vers gewisse Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Fruchtbare Untersuchungen dazu haben ja nicht erst mit Zelenys Dissertation begonnen;10 bei der Behandlung des Aeneis-Proöms (97f mit Anm. 262) hätte sich beispielsweise ein Hinweis auf die Akzentstruktur des released movement gut eingefügt (dazu W. F. Jackson Knight, Accentual Symmetry in Vergil, Oxford 1950, 49).

Im Anhang finden sich einige zum Lesegebrauch „transkribierte“ Texte; ausgewählte Quantitäten und Wortakzente sowie die Synalöphen sind markiert und sollen den Vom-Blatt-Vortrag erleichtern. Eine hübsche, jedoch in der Ausführung nicht recht überzeugende Idee war es, Rezitationen des Autors und die anspruchslosen, aber ansprechenden Vertonungen von Katharina Kimm (Gesang und Harfe) zum freien Abruf auf der Verlagsseite (→ Service, → Downloads) zur Verfügung zu stellen. Anders als im Vorwort 11f angekündigt, orientieren sich letztere gerade nicht konsequent am Wortakzent, wenn nämlich schwere Taktzeiten doch wieder den Iktus reanimieren: Vívamús, mea Lésbia, … Damit wird genau der gleiche Abweg, der um 1600 zur Entwicklung des iktierenden Vortrags führte, ein weiteres Mal eingeschlagen: Das Ziel, lateinische Dichtung wieder als rhythmische Kunst erlebbar zu machen, wird statt durch Restitution des quantitätengenauen Vortrags dadurch erreicht, daß man sie in ein System regelmäßiger Takte preßt, was zwangsläufig zur Verdrängung des Wortakzents durch eine Iktusbetonung führt. Andere Gesänge Kimms lehnen sich, befreit von regelmäßigem Takt, enger am originalen Rhythmus an; doch führen solches die (musikalisch hochwertigen) Vertonungen des tschechischen Komponisten Jan Novák ja auch schon seit Jahrzehnten vor.

In Zgolls Rezitationen sind die Kürzen nicht selten so stark übertrieben, daß das notorische Zeitverhältnis der brevis zur longa von 1:2 (Zgoll 25) in weite Ferne rückt. Germanismen bleiben nicht aus: Unterschlagene Doppelkonsonanz ( atendimus statt attendimus Cic. orat. 189), -gn- statt -ngn- (gegen Zgoll 38), fehlende Synalöphen in der Prosa, hörbares Schluß- m bei Synalöphe in der Dichtung, sinnwidrige Schlußvokallängung (Catull 5, 6 klingt wie nox est … dormiendā), Trennung von Vokalen durch Knacklaut ( hi’emes Hor. carm. 1, 11, 4) und dergleichen mehr. Verfehlt scheint mir der Ansatz, nach dem Vorgang von Stroh den ersten Konsonanten einer positionsbildenden Kombination zu dehnen („ lennntamennnte “, dazu 25f). Das ist nicht nur gerade das Gegenteil der hier in den Zeugenstand gerufenen italienischen Aussprache (wo solche n ‘s auffallend tonschwach sind), sondern versucht vor allem auch eine Frage zu beantworten, die sich gar nicht stellt, nämlich die nach der Ursache des Phänomens der Positionslänge; doch ist der Zeitaufwand für die Aussprache zweier Konsonanten zwangsläufig und naturgemäß höher als für die eines einzelnen11 (mit der bekannten Ausnahme der Kombination von Muta und Liquida, denn das Vorantreten eines Verschlußlauts ändert nur den Ansatz des Gleitlauts, ohne Auswirkungen auf die Aussprachedauer). — Beides, Rezitation und Vertonung, findet man freilich mittlerweile vielerorts im Netz, teils hingebungsvoll zu hoher Vollendung gebracht;12 der Sache dienlicher wäre also vielleicht gewesen, wenn Zgoll statt eigener Produktionen Verweise auf die verborgenen Schätze der Schwarmintelligenz gesammelt hätte.13

In der vorliegenden Form ist das Buch im einzelnen noch nicht so zuverlässig, daß man es dem Anfänger guten Gewissens und uneingeschränkt empfehlen möchte; vieles könnte aber eine überarbeitete Neuauflage zurechtrücken. Das glückliche Konzept hätte es in jedem Fall verdient.

Notes

1. Crusius-Rubenbauer, Römische Metrik, München 8 1967 (= 3 1958); Hans Drexler, Einführung in die römische Metrik, Darmstadt 1967; Halporn-Ostwald, Lateinische Metrik, Göttingen 5 2004 (= 2 1980).

2. Sandro Boldrini, Prosodie und Metrik der Römer (übersetzt von Bruno W. Häuptli), Stuttgart–Leipzig 1999. Zu den Versuchen von Flaucher und Glücklich hat Häuptli im Bulletin SAV 72, 2008, 29–31, alles Nötige gesagt (Stephan Flaucher, Lateinische Metrik, Stuttgart 2008; Hans-Joachim Glücklich, Compendium zur lateinischen Metrik, Göttingen 2 2009).

3. Einer der wenigen didaktischen Mißgriffe ist, die Skansion unter statt über den Versen anzugeben. Zgoll 13 zufolge soll dies eigene Gehversuche durch Abdecken der Auflösung möglich machen, doch erscheint mir diese Verquickung von Beispiel- und Übungsmaterial praxisfern. Die Zuordnung der Quantitäten zu den Silben ist optisch mühsam (106f werden sogar Vers und Skansion durch Seitenumbruch auseinandergerissen), Verschleifungen werden überhaupt nur am Rand oder in Fußnoten notiert.

4. Cesare Questa, La metrica di Plauto e di Terenzio, Urbino 2007. Merkwürdigerweise benutzt Zgoll ausschließlich das Vorgängerwerk von 1967.

5. Die wichtigste Abhandlung dazu, Wilfried Stroh, Der deutsche Vers und die Lateinschule, AandA 25, 1979, 1–19, bleibt aber auch hier wieder ungenannt.

6. Zgoll schreckt auch nicht vor den problematischen Begriffen „Hebung“ und „Senkung“ zurück; dazu zuletzt Marcus Deufert, Philologus 156, 2012, 78 Anm. 7.

7. Wilfried Stroh, Arsis und Thesis – oder: Wie hat man lateinische Verse gesprochen?, in: M. v. Albrecht, W. Schubert (Hrsgg.), Musik und Dichtung, Frankfurt a. M. u. a. 1990, 87–116 (= Apocrypha, Stuttgart 2000, 193–216).

8. Beispielsweise betrifft 51 die Jambenkürzung in senectutem die Silbe, nicht den Vokal; 42 dient der Imperativ von dare als Beispiel für kurzen Vokal in offener Silbe.

9. Redaktionelle Versehen sind erfreulich selten. Als einzige ernstzunehmende Verschreibung fielen mir „Divergenzen zwischen Wortakzent und Wortakzent“ (27) auf. Im Literaturverzeichnis sind die Arbeiten von Hagel (15 Anm. 1) und Moreno (175 Anm. 493) nicht zu finden; Stroh 2007a und 2007b werden unterschiedslos als „Stroh 2007“ zitiert. Außer Stroh 1979 und Questa 2007 hätte an geeigneter Stelle noch Maurice Platnauer, Latin Elegiac Verse, Cambridge 1951, Erwähnung finden dürfen.

10. Karin Zeleny, Itali modi. Akzentrhythmen in der lateinischen Dichtung der augusteischen Zeit, Wien 2008.

11. Diese Tatsache ist nicht an bestimmte Sprachen gebunden; auch einer deutschen Zunge steht eine zugleich klar artikulierte sowie eindeutig kurze Aussprache der Lautfolge „Int-“ (bzw. sogar „Intr-“) nicht zu Gebote.

12. Hörenswerte Rezitationen haben etwa Vojin Nedeljković, Johan Winge oder Robert P. Sonkowsky (in Electronic Antiquity 8 Nr. 2, 2005) aufgenommen. Die beste mir bekannte Prosaausprache, eindrucksvoll gerade in der zwanglos genauen Beachtung der Quantitäten, pflegt Luke Amadeus Ranieri.

13. Zgoll hat 201 eine Liste veröffentlichter CDs zusammengestellt, doch verliert dieses Medium ja gegenwärtig rasant an Bedeutung.