In Reclams Universal-Bibliothek waren Senecas Briefe bereits zwischen 1977 und 2000 in mehreren Einzelheften, aber zweisprachig erschienen. Die Übersetzung folgte der Textausgabe von L. D. Reynolds (Oxford 1961. 7 1991). In dem von Marion Giebel herausgegebenen Band liegt jetzt die Übersetzung unverändert, aber mit stark überarbeiteten Anmerkungen und einem neuen Nachwort vor. Auf einen Neuabdruck des Originaltextes wurde verzichtet. Diese Beschränkung hat bei allen Nachteilen wenigstens den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass alle Seneca-Briefe in einen einzigen Band aufgenommen werden konnten. Wer auf den lateinischen Text und die Möglichkeiten einer sorgfältigen synoptischen Lektüre verzichten möchte, wird den trotz seines Umfangs handlichen, leserfreundlich und übersichtlich gestalteten Band mit Gewinn benutzen können, auch wenn eine übersetzungskritische Lektüre nicht mehr möglich ist; denn Senecas Sprache und individueller Stil lassen sich mit der Übersetzung nur noch erahnen.
Dass jetzt alle Briefe in einem einzigen Band vorliegen, ist keine ökonomisch begründete Äußerlichkeit, sondern auch ein Programm: Die Briefe sind jetzt als Einheit zu erschließen und zu verstehen. Diese Leserfreundlichkeit des Bandes wird nicht zuletzt auch dadurch erhöht, dass die Anmerkungen von der Erklärung der Eigennamen entlastet sind; man findet diese in einem besonderen Verzeichnis (S. 721-746) aufgelistet und in der Regel hinreichend erklärt. Sehr gelungene Beispiele bieten etwa die Artikel „Cato“ und „Epikur“.
Dass Marion Giebel die Übersetzungen von Heinz Gunermann, Franz Loretto und Rainer Rauthe weitestgehend unverändert ließ, war eine sehr sinnvolle Entscheidung; denn die Qualität der damals geleisteten Arbeit wird auf diese Weise zu Recht anerkannt. Eine erwähnenswerte Kleinigkeit sollte aber nicht übersehen werden: Das formelhafte Seneca Lucilio suo salutem wird mit „Seneca grüßt seinen Lucilius“ und nicht mehr wie bisher mit „Seneca entbietet Lucilius seinen Gruß“ wiedergegeben. Diese Änderung ist offenkundig als ein Signal maßvoller „Modernisierung“ zu verstehen, obwohl man vielleicht mit „Hallo, Lucilius!“ noch einen Schritt hätte weitergehen können. Mitunter sind in den Übersetzungstext mit Hilfe eckiger Klammern erläuternde Zusätze eingefügt, die sich bei Gunermann, Loretto und Rauthe ursprünglich unter den „Anmerkungen zum Text“ fanden.
In den weitestgehend neu gestalteten und jetzt für alle Briefe durchnummerierten „Anmerkungen“ (S. 660-720) wurden zahlreiche weiterhin aktuelle Beobachtungen von Gunermann, Loretto und Rauthe berücksichtigt und deutlich erkennbar zitiert. Marion Giebel veranschaulicht den inhaltlichen Zusammenhang der Briefsammlung zusätzlich durch nützlichen Querverweise. Inwieweit sich der Leser allerdings dazu bewegen lässt, Senecas Gedanken auch mit den Äußerungen anderer antiker Autoren immer wieder zu „vergleichen“, sei dahingestellt. Denn das formelhafte „vgl.“ ist gewiss nicht leserfreundlich, , wenn die Stellen nur angegeben, aber nicht wirklich zitiert werden.
Ob und gegebenenfalls welche „Anmerkungen“ die Übersetzung eines antiken Textes benötigt, um dem heutigen Leser verständlicher zu werden, ist – auch unabhängig von der vorliegenden Übersetzung – eine grundsätzliche, aber bisher noch nicht hinreichend beantwortete Frage. Jeder Übersetzer sollte sich zum Beispiel fragen, welche Funktion „Anmerkungen“ oder „Fußnoten“ erfüllen können und ob sich notwendige von überflüssigen Anmerkungen unterscheiden lassen. Ein Übersetzer wird sich fragen müssen, ob er mit „Anmerkungen“ und „Fußnoten“ wirklich die Kommunikationsbarrieren zwischen dem ausgangssprachlichen Autor und dem heutigen Leser beseitigen kann. Doch die Grenze zwischen notwendigen und überflüssigen Erläuterungen ist schwer zu ziehen. Denn man kann immer nur vermuten, welche für das Verständnis des Textes erforderlichen Kenntnisse und Voraussetzungen dem heutigen Leser und Rezipienten einer Übersetzung möglicherweise fehlen. Vielleicht wird eine neue Rezeptionsästhetik eine Übersetzungspraxis hervorbringen, die den ausgangssprachlichen Text in der Zielsprache so lebendig und verständlich werden lässt, dass sich gelehrte Anmerkungen weitgehend erübrigen. Das ist ohne Zweifel eine Idealvorstellung; aber ein Übersetzer sollte diese bei der Formulierung seiner Übersetzung zumindest vor Augen haben.
Um auf den vorliegenden Übersetzungsband zurückzukommen – mit ihrer umfassenden Revision der in den Einzelbänden vorliegenden Anmerkungen verfolgt die Herausgeberin mehrere deutlich erkennbare Ziele: Sie will dem Leser der Übersetzung (und nicht des Originaltextes) offensichtlich nicht nur Verständnishilfen bieten, sondern vor allem auch auf die philosophisch-literarische Vernetzung des Textes aufmerksam machen: Prominente Namen wie Hesiod, Platon, Theophrast, Epikur, Lukrez, Sallust, Cicero, Ovid, Horaz, Plutarch, Epiktet, Marc Aurel – um nur einige zu nennen – werden ebenso ins Spiel gebracht wie ganze philosophische Schulen und Besonderheiten der römischen Zivilisation. Man fragt sich aber, für wen derartige Hinweise bestimmt sind, die auch den gewissenhaften Leser einer Übersetzung verwirren, überfordern und abschrecken dürften. Wie kann dieser Leser denn z. B. auch die zahlreichen lateinischen Zitate ohne einschlägige Sprachkenntnisse einschätzen und beurteilen?
Mit anderen Worten: Hätte man nicht den Anmerkungsteil erheblich kürzen sollen, um den interessierten Laien wirklich zu erreichen? Benötigt dieser tatsächlich so viele Informationen, um die Übersetzung zu verstehen? Die Herausgeberin wollte ja keinen Kommentar für Fachleute verfassen.
Ganz im Gegensatz zu der im Anmerkungsteil vertretenen Polymathie ist die „Übersicht über die Stoa und einige ihrer philosophischen Begriffe“ (S. 748-749) erfreulich knapp gehalten, aber ebenso hilfreich wie die Auflistung von „Senecas erhaltenen Werken“ (S. 750-751). Auch die „Literaturhinweise“ sind überschaubar.
Am Schluss des Bandes bietet die Herausgeberin ein kurzes, aber instruktives „Nachwort“, das zunächst die Entstehungszeit der Briefe anschaulich macht und auf Senecas Konflikte mit der Staatsmacht und hier vor allem auf die komplizierten Beziehungen zu Kaiser Nero eingeht. Der historische Hintergrund der Briefe wird hinreichend ausgeleuchtet.
Senecas Denken – so die Herausgeberin – war zwar vor allem von der hellenistischen Schule der Stoa und von Sokrates als dem philosophisch maßgebenden Menschen geprägt. Aber darüber hinaus veranschaulichen Senecas Briefe ein tiefes Vertrauen auf die psychotherapeutische Kraft der Philosophie; sie ist für ihn in vielfacher Hinsicht eine praktische Lebenshilfe. Was er für sich selbst als wertvoll erkennt und erlebt, versucht er auch an andere Menschen weiterzugeben. Dafür ist nicht zuletzt die äußere Form des Briefes das geeignete Mittel – unabhängig von der Frage, ob diese Briefe wirklich an einen Lucilius abgeschickt wurden. Marion Giebel ist allerdings der Auffassung, dass Lucilius nicht nur „eine Projektionsfigur für Senecas Ideen“, sondern auch eine historische Persönlichkeit mit einer individuellen Biographie darstellt. Er sei „das lebendige Gegenüber, das der gescheiterte Prinzenerzieher braucht“.
Unabhängig von der nicht abschließend geklärten Frage, ob es sich um echte oder fingierte Briefe handelt, darf man davon ausgehen, dass diese als Formen der „Seelenleitung“ im Rahmen einer Gesprächstherapie und das heißt als Möglichkeiten der Kommunikation mit anderen Menschen gedacht waren – und in diesem Sinne bis auf den heutigen Tag wirken; dabei verzichtet das Nachwort der Herausgeberin weitgehend auf eine zwanghaft-peinliche Aktualisierung. Das wäre auch überflüssig, weil die Texte sogar in übersetzter Form für sich selbst sprechen.
Das insgesamt ebenso gehaltvolle wie motivierende Nachwort veranlasst erneut zu der Überlegung, ob man nicht in Zukunft bei der Vermittlung antiker Literatur mit Hilfe leserfreundlicher Übersetzungen auf die erdrückende Fülle gelehrter Anmerkungen und Fußnoten zugunsten kompakter Nachworte getrost verzichten kann.
Bei aller inhaltlichen Relevanz der Lucilius-Briefe bleibt zuletzt noch die Frage, ob der Verzicht auf den lateinischen Text gerade bei einem Autor wie Seneca nicht ein unerträglicher Verlust ist. Denn selbst wenn man feststellen kann, dass die Intensität der Gedanken durch vielfache Wiederholung mitunter auch in der deutschen Übersetzung spürbar bleibt, sollte man sich mit der einsprachig-zielsprachlichen Fassung nicht so ohne weiteres zufrieden geben und darauf hoffen, dass die vierzehn synoptisch-zweisprachigen Reclam-Bändchen der Lucilius-Briefe neben dem zweifellos respektablen neuen Band weiterhin greifbar bleiben – wenigstens für Leserinnen und Leser, die den ausgangssprachlichen mit dem zielsprachlichen Text vergleichen und Senecas sprachliche Kunst nachvollziehen wollen.