Die unter Platons Namen überlieferten Schriften, deren Einteilung in neun Tetralogien auf Thrasyllos, den Hofastrologen des Tiberius, zurückgeführt wird, enthalten in der neunten Tetralogie neben dem Minos, den Nomoi und der Epinomis auch eine Sammlung von 13 Briefen. Unter diesen 13 Briefen ist der siebte sicher der berühmteste und umstrittenste.
Zu diesem Brief legt nun Paulo Butti de Lima, Professor für die Geschichte der politischen Theorien (Storia delle dottrine politiche) an der Universität Bari, unter dem Titel L’utopia del potere einen neuen Kommentar vor. Diesem gehen eine Einleitung (S. 9 bis 52), eine Gliederung des Briefes (S. 53/54), eine Zeittafel (S. 55), eine genealogische Übersicht (S. 56), Bemerkungen zur Textgestaltung (S. 57)1 sowie der griechische Text,2 dem die italienische Übersetzung Maria Grazia Cianis3 gegenübergestellt ist (S. 59 bis 131), voran. Der Kommentar selbst umfasst die Seiten 133 bis 192. Bibliographische Hinweise beschließen das Bändchen (S. 193 bis 201).
In seiner Einleitung unterscheidet Butti de Lima drei Texte, die im 7. Brief zusammengekommen seien: zum einen ein Text, in dem der Philosoph als Ratgeber auftrete („la »lettera di consigli«“ [S. 18]), daneben ein autobiographisch-apologetischer Text („l’apologia platonica“ [S. 11]) und zuletzt ein philosophischer Exkurs („digressione filosofica“ [S.16]). Diese „ipotesi compositiva qui tracciata, osservando la stratificazione del testo nelle sue tre parti“ (S. 49) ist eigentlich nichts Neues: Schon Wilamowitz4 hatte die Disparatheit des 7. Briefes dadurch zu erklären versucht, dass der Brief „mehr und anderes will, als sein Eingang angegeben hat, daß Platon in eigener Sache zu der ganzen Welt redet“, es also „ein offener Brief, für das Publikum bestimmt, nur zum Schein für die Adressaten“5 sei.
Der Rezensent selbst hat in seiner Ausgabe des Briefes 20066 nachzuweisen versucht, dass sich alle Exkurse des Briefes in gewisser Weise aus dem eigentlichen Thema des Briefes, nämlich dem Rat an die Adressaten, ableiten lassen, und zwar deshalb, weil der alte Platon versucht, die jungen Adressaten „mit sich auf dieselbe Verständnisebene zu bringen,“7
Eine solche (also inhaltliche) Verknüpfung der drei von ihm unterschiedenen Texte versucht Butti de Lima nicht, sondern bemerkt zum philosophischen Exkurs nur, er sei „un testo di diversa origine inserito qui per chiarire i limiti della scrittura“ (S. 35).8 Dieses Fehlen eines verknüpfenden Momentes führt dazu, dass die eher an einen Essay denn an eine wissenschaftliche Abhandlung gemahnende Einleitung disparater als der platonische Brief selbst wirkt und schließlich—im Gegensatz zum Brief— in gewisser Weise ‚resignativ‘ endet: Ausgehend von der Formulierung des Briefes, dass die σπουδαιότατα eines ἀνὴρ σπουδαῖος irgendwo ἐν χώρᾳ τῇ καλλίστῃ τῶν τούτου liegen (344c1-8), schließt die Einleitung mit den Worten: „La terra più bella, per gli uomini superiori—diversamente che per i tiranni e gli uomini politici—non è la citta“ (S. 479). Ob dies nun im Sinne des Titels des Bändchens bedeuten soll, dass sich Macht für den besseren Menschen nirgendwo anders als in ihm selbst befinden kann (ist das dann ihre Utopie?), hat sich dem Rezensenten nicht erschlossen.
Aus den genannten Gründen wird meines Erachtens diese Einleitung demjenigen wenig nützen, der sich von ihr in die Thematik und Problematik des 7. Briefs einführen lassen will.10
Die Benutzung des Kommentars selbst erschwert der Umstand, dass die kommentierten Textstellen einerseits italienisch angeführt werden, wobei die Worte nicht immer mit denen der Übersetzung übereinstimmen,11 andererseits häufig nicht durch Benennung des Endpunktes klargemacht wird, auf welche Textpassagen genau sich die kommentierenden Ausführungen jeweils beziehen.
Leider sind zudem Übersetzung und Kommentar nicht aus einer Hand, sodass Disparatheiten auftreten: Zum Beispiel wird die textkritisch schwierige Stelle 341b6/7 (der überlieferte Text ist οἵτινες δέ, οὐδ᾿ αὐτοὶ αὑτούς) in der Übersetzung nach dem Verständnis von Wilamowitz12 wiedergegeben („ma si tratta di gente che non conosce neanche se stessa“ [S. 103]), während der Kommentar hier mit einem ausgefallenen Wort („verbo omesso“, S. 166) rechnet, ohne dass darauf in der „nota al testo“ verwiesen wird. Und außerdem berichtigt hier der Kommentar die Übersetzung: „non »conoscono nemmeno se stessi« … Così anche questi altri pretendono di avere conoscenze proprie, ma di proprio non hanno neanche loro stessi“ (S. 166/167). Allerdings gelingt es dem Kommentator nicht, diese Deutung auch am Text festzumachen. Vielleicht schwebt ihm vor, als ausgefallenes Wort ἔχουσιν zu ergänzen; dies wird aber nicht ausdrücklich gesagt.
Trotz der angeführten Nachteile ist der Kommentar insgesamt sorgfältig, berücksichtigt in ausreichender Weise die wichtigste Literatur und kann dem, der sich mit Platons 7. Brief beschäftigt, den Text durchaus erhellen. Nur selten lässt er—nach Ansicht des Rezensenten—Erklärungsbedürftiges unberücksichtigt: Zum Beispiel vermisst man eine erläuternde Erklärung zu der in 344a1 genannten mythischen Gestalt des Lynkeus und eine Begründung dafür, warum sie überhaupt in diesem Zusammenhang erwähnt wird.13
Ein letzter Kritikpunkt: Seit Richard Bentleys Dissertation upon the Epistles of Phalaris (1697) wurde die Echtheit der aus der Antike stammenden Briefliteratur und somit auch der unter Platons Namen überlieferten Briefe immer wieder in Frage gestellt, und für einen Großteil derselben sicher zu Recht. Von denen, für welche die Echtheit überhaupt nur in Frage kommt (epist. 3, 6, 7 und 8), ist vor allem für und wider die Echtheit des 7. Briefes—gerade wegen seiner Bedeutung für die Biographie Platons—gestritten worden. Doch in der Frage nach der Echtheit des Briefes bezieht Butti de Lima leider an keinem Punkt dezidiert Stellung und bleibt eher vage, obwohl er die Frage in seiner Einleitung ausdrücklich stellt: „Questo testo, a chi appartiene?“ (S. 15) Dass er wohl eher dazu neigt, den Brief für echt zu halten, wird am Ende einer Anmerkung zu seiner Einleitung deutlich: „Tuttavia, si può notare che l’ipotesi compositiva qui tracciata, ossservando la stratificazione del testo nelle sue tre parti, è in qualche modo un’ipotesi a favore della sua autenticità, almeno per quanto riguarda il diverso materiale all’origine di una successiva revisione del testo“ (S. 49).
Um ein abschließendes Urteil abzugeben: Zwar findet sich wirklich grundlegend Neues über Platons 7. Brief weder in der Einleitung noch im Kommentar selbst, und für den, der sich ohne besondere Vorkenntnisse mit diesem Brief beschäftigen will, stellt die Einleitung sicher keine große Hilfe dar. Der Kommentar selbst jedoch kann bei der Beschäftigung damit neben den gängigen älteren Kommentaren mit Gewinn herangezogen werden.
Notes
1. Der Text folgt weitgehend der Ausgabe von Jennifer Moore-Brunt (Platonis epistulae, Leipzig 1985). Die insgesamt zwölf Abweichungen von deren Text sind inhaltlich nicht ausschlaggebend, sie sind jedoch nachvollziehbar und betreffen—einmal (326b2)—nur die Berichtigung eines Tippfehlers. Warum allerdings in 344b7 am überlieferten συντείνων (das der Rezensent für nicht haltbar erachtet [vgl. Fußnote 6, S. 289]) festgehalten wird, darüber klärt der Kommentar leider nicht auf.
2. Störend (und der Grund dafür bleibt dem Rezensenten schleierhaft) wirkt, dass außer dem griechischen Brieftext kein anderes in griechischen Buchstaben geschriebenes Wort in dem Buch auftaucht. Sowohl in der Einleitung wie auch im Kommentar werden sämtliche griechischen Wörter in lateinischer Umschrift gegeben.
3. Maria Grazia Ciani ist „Professore ordinario di Storia della tradizione classica“ an der Universität Padua. Die Übersetzung erschien ursprünglich in: Margherita Isnardi Parente, Platone Lettere – Traduzione di Maria Grazia Ciani, Mailand 2002.
4. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Platon II – Beilagen und Textkritik, Dublin-Zürich 1969 (Nachdruck der 1920 in zweiter Auflage erschienenen Ausgabe).
5. ebenda S. 291.
6. Rainer Knab, Platons Siebter Brief . Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar, Hildesheim etc. 2006.
7. ebenda S. 47.
8. Eine Begründung dafür, dass es sich um einen eingeschobenen Text anderen Ursprungs handeln soll, erfolgt allerdings erst im Kommentarteil: „È chiaro dalla presentazione e da indizi interni (come l’uso della seconda persona) che si tratta di uno testo all’origine indipendente“ (S. 172).
9. Im Kommentar wird ausgeführt, dass die χώρα ἡ καλλίστη die ψυχή oder—innerhalb der ψυχή—der λόγος oder der νοῦς sei. Das erinnert an Wilamowitz’ Formulierung „Schrein seines Herzens“ (Wilamowitz [vgl. Fußnote 4], S. 297). Der Rezensent selbst will darunter eher die „geeignete Seele eines anderen, die mittels der Dialektik mit den σπουδαιότατα vertraut gemacht worden ist“ (Knab [vgl. Fußnote 6] S. 291), sehen.
10. Zur Qualität der Übersetzung erlaubt der Rezensent sich kein Urteil, da er das Italienische dafür aktiv nicht ausreichend beherrscht.
11. Zum Beispiel werden die Worte τροφῆς τῆς καθ᾿ ἡμέραν [340d3] in der Übersetzung mit „genere di vita quotidiano“ (S. 101) wiedergegeben, im Kommentar dagegen mit „Le attività quotidiane“ (S. 165) aufgegriffen.
12. „Wer und was sie sind – sie wissen’s selber nicht“ (Wilamowitz [vgl. Fußnote 4], S. 292).
13. Noch ein Beispiel: Muss sich ein Leser von heute nicht fragen, warum Platon das Leben in Syrakus als ὁ ταύτῃ λεγόμενος αὖ βίος εὐδαίμων, Ἰταλιωτικῶν τε καὶ Συρακουσίων τραπεζῶν πλήρης (326b7/8) abtut, und kann er dazu in einem Kommentar nicht nähere Erläuterungen erwarten?