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William Altman möchte den Fußspuren Tadeusz Zielińskis folgen,1 dessen Errungenschaften im Vorort des neuen Companion er mehrfach lobend erwähnt. Vor allem übernimmt er Zielińskis Ansicht, dass Rezeptionsstudien nicht dazu führen dürften, den Autor zu zerteilen (es gibt nach Altman nur einen Autor, keine unabhängigen Teile wie einen philosophischen oder einen rhetorischen Cicero). Die sich verändernden Rezeptionshaltungen verschiedener Epochen sagten daher, so Altman, mehr über die jeweilige Epoche aus, als dass sie die Existenz mehrerer Ciceros nahelegten (S. 4). Dieser Aufruf gegen Fragmentierung wird durch eine sehr gelungene Zusammenfassung von Ciceros gesamtem Œuvre flankiert. Fragwürdig ist allerdings Altmans Tendenz, das Bild von Cicero als dem republikanischen Märtyrer unkritisch zu übernehmen, was sich etwa in folgender (angesichts der großen Menge erhaltener Werke verblüffenden) Behauptung zeigt (S. 10): „at least part of the reason we have lost so much of Cicero is purely political“ (wie lässt sich dann der Verlust von vielen Werken Julius Caesars erklären?), oder wenn er Ciceros schlecht beleumundete Poesie verteidigt (S. 9): „… those who would most ostentatiously eclipse his reputation [gemeint sind die augusteischen Dichter] were the clients of one of his murderers.“
Das Buch selbst ist in sechs Teile gegliedert; diese Struktur wird durch Altman im Vorwort als rhetorisch bezeichnet (S. 11), wobei hiermit wohl vor allem varietas gemeint ist, da sich eine stringente Logik mir nicht erschließt. Offenbar soll hierdurch zum Ausdruck gebracht werden, dass Altman nicht anstrebt, eine systematische Geschichte der Rezeption Ciceros zu schreiben (womit er sich von Catherine Steels Cambridge Companion to Cicero absetzt, der auf weniger als 150 Seiten eine nützliche chronologische Rezeptionsgeschichte bietet).2 Leider genügen nicht alle Teile des Buches dem Anspruch, den man an einen Companion stellen darf, größere Themen zur ersten Orientierung darzustellen.
Abschnitt 1 („Imitation or Criticism?“) eröffnet mit Martin McLaughlins Beitrag zur Cicero-Rezeption Petrarcas eines der gelungensten Kapitel: McLaughlin gibt eine breit angelegte Einführung in bekannte Aspekte eines zentralen Autors. Besprochen werden Petrarcas humanitas -Ideal, seine Ideen zu dichterischen furor, die Enttäuschung über Ciceros fehlende constantia, Petrarcas Ästhetik als Reaktion auf Ciceros rhetorische Ideale und Petrarcas Identifikation mit Cicero.
Der folgende Beitrag ist für einen Companion zu eng konzipiert. Kathy Eden bespricht Montaignes häufigen Gebrauch eines einzigen rhetorischen Mittels, der acclamatio ( epiphonema), und da sie dieses Mittel als typisch ciceronianisch ansieht, ist dies für sie der Beweis dafür, dass Montaigne trotz seiner Distanzierung von Cicero doch einen Teil seines Ruhms einer „Ciceronian rhetorical figure“ verdanke (S. 55). Allerdings wird die acclamatio (ausgehend von Erasmus) diskussionslos ciceronianisch genannt und sogar suggeriert (S. 42), dass Quintilian bei ihrer Behandlung ( Inst. 8.5.11f.) behauptet habe, sie werde am besten durch Ciceros Reden exemplifiziert. Das ist aber nicht so deutlich der Fall: neben einem Beispiel aus Mil. 9 wird dort Verg. Aen. 1.33 zitiert; in K. Geus’ Lemma Epiphonem im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, II 1295, wird Cicero gar nicht genannt. Andererseits muss die Autorin zugeben, dass Montaigne seinen sentenzenhaften Stil nirgends explizit mit Ciceros acclamationes verbindet, sondern an kaiserzeitlichen Autoren wie Martial, Tacitus oder Seneca ausrichtet. Solch expliziter Anti-Ciceronianismus wird wohl zu einfach mit folgendem Satz zum Ciceronianismus erklärt (S. 50): „Like Tacitus, in fact, Montaigne … is an imitator of Seneca …, whom Erasmus, as we have seen, numbers among the most notable practitioners in prose of the fundamentally Ciceronian epiphonema.“
Der Beitrag von Gábor Kendeffy widmet sich der Rolle Ciceros in Laktanz’ Selbstreflektion, dem Spannungsfeld zwischen ciceronianischer Philosophie und christlichem Glauben, dann in einem langen Hauptteil der Frage, wie Laktanz auf Cicero zurückgreift, wenn er behauptet, Gerechtigkeit sei Dummheit, und schließlich Laktanz’ Versuch, Eloquenz und (christliche) Philosophie zu versöhnen. Leider ist der Aufsatz einerseits katastrophal redigiert (das Englisch ist oft unidiomatisch, und zahllose Satzfehler stören den Lesefluss; am krudesten ist Anm. 135, wo der Name von H. Wagenvoort in zwei unterschiedlichen, jedoch in beiden Fällen falschen Schreibweisen erscheint) und andererseits sehr redundant und oft recht kleinschrittig geschrieben.
Den zweiten Teil („Politics of Reception“) eröffnet der gut geschriebene Beitrag Robert G. Ingrams über Middletons History of M. Tullius Cicero (erschienen 1741), eine der einflussreichsten Cicero-Biographien bis weit in das 19. Jahrhundert. Ingram zeigt, dass die History Teil einer langanhaltenden Debatte zwischen religiös orthodoxen Kreisen und philosophischen Freidenkern (zu denen der streitbare Middleton zählte) war. Die History of Cicero wird vom Verfasser überzeugend als Sühneopfer Middletons gesehen, da er in ihr die Notwendigkeit der Religion im staatspolitischen Denken Ciceros zu beweisen suche.
Carl J. Richards materialreiches Kapitel zur Cicero-Begeisterung der amerikanischen Gründerväter passt gut zu dem wachsenden wissenschaftlichen Interesse an diesem Aspekt von Ciceros Nachleben. (Dass beispielsweise Barack Obama 2008 als der neue Cicero gefeiert wurde, ist das jüngste Glied dieser Traditionskette.) Richards Beitrag bespricht die folgenden Gesichtspunkte: Cicero als rhetorisches Modell, als republikanischer Held, als Vorbild für Amerikas „mixed government theory“, und schließlich als wichtige Inspirationsquelle für den im 18. und 19. Jahrhundert populären Grundsatz des Naturgesetzes.
Alex Dresslers Beitrag zur Debatte über Ciceros Modernität bei Horaz, Quintilian und in Tacitus’ Dialogus ist ein komplexes Kapitel, in dem Rezeptionsphänomene auf theoretisch anspruchsvolle Weise reflektiert werden. Kurz zusammengefasst, besagt die These des Autors, dass Ciceros Name nach seinem Tod zunächst ausgelöscht werden musste, damit seine Ideen über rhetorischen und literarischen Fortschritt (als platonische „pure form“, S. 147) die augusteische literaturtheoretische Debatte prägen konnten. Erst durch diesen Zwischenschritt habe der entpolitisierte Cicero bei Quintilian und Tacitus wieder namentlich genannt werden können. Diese provokante These Dresslers verdiente eine ausführlichere Besprechung, als sie hier geleistet werden kann. Ich erwähne lediglich einen möglichen Einwand: Dressler nennt die berühmten augusteischen und tiberianischen Historiker- und Dichterfragmente in der sechsten Suasorie des Älteren Seneca nicht, die gerade Ciceros Kanonsierung als rhetorisches und politisches Modell schon in früher Zeit nahelegen (vielleicht mehr, als es Robert Kaster in seiner Studie aus dem Jahre 1998 herausarbeitet).3
Der dritte Teil des Buches widmet sich zwei französischen Denkern des 20. Jahrhunderts. Paul Allen Millers Beitrag zu Derridas Freundschaftstheorie ist eine assoziative Behandlung von Ciceros Laelius und Derridas Politique de l’amitié von 1994. Miller zeigt, dass Derrida Ciceros Begriff der Freundschaft als einen utopischen Gegenentwurf zu gesellschaftlichen Missständen verstanden habe, weil Cicero darin Freundschaft, Tod und Erinnerung eng miteinander verbinde. Ebenso arbeitet Miller heraus, dass Laelius eigentlich über Atticus und Cicero spricht, weswegen man erkennen könne, dass diese Öffnung der erzählten Zeit zur Gegenwart den Wert der Freundschaft definiert: „And it is this dimension of future possibility – rooted in the attachments of the past – that is the promise of friendship both on the level of the individual and the community.“ Kann man den Nutzen von reception studies prägnanter zusammenfassen? Allerdings stören einige redaktionelle Unsauberkeiten. (So wird z.B. auf beinahe poststrukturalistische Weise in Anm. 14 und 15 Robert Combès’ Les Belles Lettres -Edition von De amicitia einem Herrn Combières zugeschrieben – einer Weinsorte, die, wie eine Google-Recherche ergab, u.a. auf dem Weingut Château Cicéron im Languedoc angebaut wird …).
Es folgt Carlos Lévys Beitrag zum negativen Cicero-Bild des französischen Historikers Jérôme Carcopino, das überzeugend mit dessen Engagement für das Vichy-Regime erklärt wird. (Einem Anhänger General Pétains musste die Ikone republikanischer Freiheit suspekt sein.) Lévys Aufsatz wurde nicht eigens für diesen Companion verfasst, sondern ist eine englische Übersetzung eines ursprünglich 2006 erschienenen Aufsatzes, was den relativ begrenzten Fokus aber doch nur teilweise entschuldigt.
Es folgen zwei Beiträge, die sich ebenfalls der neueren Forschungsgeschichte zu Cicero widmen. William Altman liefert einen gelehrten, aber auch problematischen Beitrag zu dem von ihm so genannten vierten Triumvirat (Hermann Strasburger, Ronald Syme und Erich Gruen). Er zeigt anhand vieler Parallelen den intellektuellen Einfluss Strasburgers auf die beiden anderen Historiker. Daraufhin kritisiert er die sich darin seiner Meinung nach äußernde Tendenz, Cicero zu marginalisieren, wenn andere Zeitgenossen zu gleichberechtigten Forschungsobjekten werden (Altman nennt als Beispiel die Aufwertung des Clodius zu einem „independent agent“, S. 235). Für Altman, der Ciceros exemplarischen Status als republikanischen Held aufrechterhalten möchte, ist Gruens The Last Generation of the Roman Republic ein zentraler Text für diese seiner Ansicht nach verfehlte Forschung. Die zugrundeliegende Haltung Altmans ist zutiefst politisch (zusammenzufassen etwa folgendermaßen: nur wenn man Caesar verurteilt, kann Cicero Gerechtigkeit widerfahren), aber auch explizit interessengesteuert. Die utilitaristische Haltung, die er historischer Forschung entgegenbringt, zeigt sich auf S. 242: „… it is time for an account of the Republic’s fall that is worthy of our own republican traditions and future, an account in which Cicero will at last receive his due.“
Elisabeth Begemanns Aufsatz zur Marginalisierung des Philosophen Cicero in der deutschen philologischen Forschung des 19. Jahrhunderts arbeitet unter Heranziehung von reichem Material, wenn auch nicht ohne Wiederholungen, heraus, dass Ciceros religionsphilosophische Werke lediglich erforscht wurden, um verlorene griechische Quellen zu rekonstruieren.
Im fünften Abschnitt zeigt zunächst Caroline Bishop, wie Ciceros Rezeption bereits in der Antike entsprechend seiner Tätigkeit als Philosoph und als Redelehrer zweigeteilt wurde. Ihr Beitrag ist zugleich ein wichtiges Plädoyer für die intensivere Erforschung der bisher noch kaum systematisch erforschten antiken Kommentare zu Ciceros Werken. Bishop nähert sich dem Material, indem sie für Asconius Pedianus’ Kommentar zu einigen Ciceroreden und Macrobius’ Kommentar zum Somnium Scipionis die enge Verknüpfung der Rezeption Ciceros mit griechischen Modellen und deren Kommentartradition zeigt. Cicero wird bei Asconius zu einem neuen Demosthenes, bei Macrobius zu einem Plato Latinus. Die Analyse ist zwar notgedrungen kurz (im Falle der Reden Ciceros konzentriert Bishop sich auf Didymus Chalcenterus; eventuell hätte die neuere Literatur zum griechischen Klassizismus des Dionysios von Halikarnassos ihr Argument noch verstärken können),4 doch ist der Beitrag relevant und bringt diesen wichtigen Teil der Ciceronian tradition als lohnendes Studienobjekt in Erinnerung.
John Wards wagt es, das noch schlecht erschlossene Feld der mittelalterlichen Rezeption Ciceros in einem einzigen Beitrag zu skizzieren. Wards These ist, dass das Mittelalter viele Werke Ciceros, die für uns im Zentrum seines Œuvres stehen, ignoriert habe. Die Beweisführung ist philologisch: Ward erfasst statistisch, für welche Werke Ciceros Zitate in mittellateinischen Texten nachweisbar und wie viele Handschriften von bestimmten Werken erhalten sind. Zusammenfassend postuliert er, dass das Mittelalter nichts über Cicero lernen wollte, sondern ihn nur als Quelle von (rhetorischem und philosophischem) Wissen verwendete. Als typische Fallstudie behandelt Ward den Polyhistor des William von Malmesbury, dessen Interesse an Cicero er als anekdotisch klassifiziert.
Die letzten zwei Beiträge widmen sich dem „Cicero restored“. Matthew Sharpe weist den enormen Einfluss nach, den Cicero auf Montesquieu und vor allem Voltaire hatte, die ihn als Vorbild für ihre eigene politisch engagierte Philosophie ansahen, gerade weil er philosophische Darstellung mit staatsmännischem Auftreten verbunden habe. Der Beitrag ist inhaltlich kenntnisreich, wird jedoch durch groteske orthographische Fehler in den französischen Zitaten aus Voltaires Lettres de Memmius à Cicéron (S. 355f.) entstellt; alle Schaft-s der Ausgabe wurden als ‚f‘ transkribiert, also „Céfar“, „la connaiffance“ usw. (insgesamt 20 Wörter).
Im letzten Beitrag fasst JoAnn Della Neva, die Herausgeberin des Bandes Ciceronian Controversies (2007 in der I Tatti Renaissance Library erschienen), die wichtigsten darin enthaltenen Debatten über die stilistische Imitation Ciceros zusammen. Vor allem die Auseinandersetzung zwischen dem klassizistischen Ciceronianer Pietro Bembo und Gianfrancesco Pico della Mirandola erhält (zu Recht) viel Raum. Der Beitrag fällt formal aus dem Rahmen, da er keinerlei Fußnoten und nur sehr begrenzte Verweise auf Sekundärliteratur im laufenden Text enthält und dadurch eher eine (gut informierte) Inhaltsangabe anstelle einer Interpretation des Materials bietet. Erstaunlich ist vor allem das Fehlen des Standardwerks von Martin McLaughlin in der Bibliographie.5
Der Wert von Brill’s Companion to the Reception of Cicero liegt vor allem darin, der weiteren Forschung viel lohnendes Material zur Verfügung zu stellen und dadurch einen Anstoß zu vertiefenden Studien zu geben. Ob es jedoch eine gute Idee war, das Buch Companion zu nennen, ist fraglich. Denn im Ganzen ist es konzeptuell und inhaltlich zu disparat, um als ein solches Nachschlagewerk empfohlen werden zu können.
Inhaltsverzeichnis
Introduction, William H.F. Altman
I. Imitation or Criticism?
1. Martin McLaughlin, Petrarch and Cicero. Adulation and Critical Distance
2. Kathy Eden, Cicero’s Portion of Montaigne’s Acclaim
3. Gábor Kendeffy, Lactantius as Christian Cicero, Cicero as Shadow-like Instructor
II. The Politics of Reception
4. Robert G. Ingram, Convey Middleton’s Cicero. Enlightenment, Scholarship, and Polemic
5. Carl J. Richard, Cicero and the American Founding Fathers
6. Alex Dressler, Cicero’s Quarrels. Reception and Modernity from Horace to Tacitus
III. Two French Receptions
7. Paul Allen Miller, Cicero Reads Derrida Reading Cicero. A Politics and a Friendship to Come
8. Carlos Lévy, Ancient Texts, Contemporary Stakes. J. Carcopino as Reader of Cicero’s Letters
IV. German Reception and Its Influence
9. William H. F. Altman, Cicero and the Fourth Triumvirate. Green, Syme, and Strasburger
10. Elisabeth Begemann, Damaged Go(o)ds. Cicero’s Theological Triad in the Wake of German Historicism
V. Cicero Divided
11. Caroline Bishop, Roman Plato or Roman Demosthenes? The Bifurcation of Cicero in Ancient Scholarship
12. John O. Ward, What the Middle Ages Missed of Cicero, and Why
VI. Cicero Restored
13. Matthew Sharpe, Cicero, Voltaire, and the Philosophers in the French Enlightenment
14. JoAnn Della Neva, Following Their Own Genius. Debates on Ciceronianism in 16 th Century Italy
Notes
1. T. Zieliński, Cicero im Wandel der Jahrhunderte, 3., durchges. Auflage, Leipzig 1912.
2. C. Steel (Hg.), The Cambridge Companion to Cicero, Cambridge 2013, S. 233-373.
3. R. A. Kaster, Becoming ‘CICERO’, in P. E. Knox and C. Foss (Hg.), Style and Tradition. Studies in Honor of Wendell Clausen, Stuttgart 1998, 248-263.
4. Z.B. N. Wiater, The Ideology of Classicism. Language, History, and Identity in Dionysius of Halicarnassus, Berlin und New York 2011; C. de Jonge, Between Grammar and Rhetoric. Dionysius of Halicarnassus on Language, Linguistics and Literature, Leiden; Boston 2008.
5. M. McLaughlin, Literary Imitation in the Italian Renaissance. The Theory and Practice of Literary Imitation in Italy from Dante to Bembo, Oxford 1993.