Das Corpus der antiken hermetischen Literatur umfasst eine bunte Reihe von Texten, die sich in einigen inhaltlichen und formellen Punkten berühren: einerseits etwa in einer an die mittelplatonische Tradition angelehnten Kosmologie oder Anthropologie, andererseits in ihrer Pseudonymie, das heisst ihrer Zuschreibung zur ägyptischen Gottheit Thoth, die im Griechischen mit dem Namen Hermes Trismegistos versehen wurde. Diese Merkmale genügten für einen byzantinischen Gelehrten, gewisse antike Texte zu dem Corpus zusammenzufügen, das wir heute Corpus Hermeticum nennen.1 Daneben kursierten Texte, die heute teils in Fragmenten vorliegen (etwa durch die Funde in Nag Hammadi) oder die in Fragmenten und Exzerpten durch die Anthologie des Iohannes Stobaeus aus dem 5. Jahrhundert erhalten geblieben sind. Die Übersetzung dieser letzten Fragmente, die für das Verständnis der hermetischen Literatur unverzichtbar sind, sind Hauptbestandteil des vorliegenden zweiten Bands der „Hermetica“.2
M. David Litwa ist der ideale Übersetzer für den zweiten Band der „Hermetica“. Er hat mit der Edition und Übersetzung der „Refutatio omnium haeresium“ (eine häresiologische Schrift, die von manchen dem römischen Presbyter Hippolyt zugeschrieben wird) bereits eine solide und ansprechende Arbeit vorgelegt und darüber hinaus sich als Kenner der frühchristlichen Literatur etabliert. Warum nun die Hermetica?
Die Entstehung der hermetischen Literatur reicht in die vorchristliche Zeit zurück. Die Verehrung des Thoth in Ägypten und die Rezeption des Kults in der griechischsprachigen Welt sind grundsätzlich pagane Phänomene. Dennoch fällt die Blütezeit der hermetischen Literatur, so der Konsens der Forschung, mit der Zeit des frühen Christentums zusammen (S. 11-14). So sind zahlreiche christliche Autoren der ersten Jahrhunderte von den hermetischen Schriften beeinflusst worden. Berührungspunkte gibt es dann insbesondere mit der sogenannt gnostischen Literatur – Berührungspunkte, die auch in den stobaeischen Fragmenten immer wieder erkennbar sind. Mit den Kirchenvätern ab dem 3. Jahrhundert hat dann eine starke Rezeption der hermetischen Literatur eingesetzt. So hat etwa der afrikanische Rhetor Laktanz die hermetischen Schriften als vorchristliche Offenbarungen der göttlichen Wahrheit interpretiert. Diesem Muster sind viele Christen gefolgt, und nicht zuletzt in der Renaissance galt Hermetismus als die verschlüsselte, mysteriöse Erkenntnis Gottes.
Die christliche Rezeption der hermetischen Literatur ist gut erforscht. Gerade zum „Hermes Christianus“ liegt eine englische Monographie (übersetzt aus dem Italienischen) aus jüngerer Zeit vor.3 Doch Litwa versteht es, die Spuren der christlichen Rezeption nicht nur in den „Testimonies“ (angehängt an die Fragmente), sondern auch in den Anmerkungen zu den Fragmenten nachzuverfolgen. Hier geht Litwa über die Editionen und Übersetzungen seiner Vorgänger heraus. Zahlreiche Querverweise helfen dem Leser, die hermetische mit der zeitgenössischen Literatur zu kontextualisieren. Gleichwohl ist anzumerken, dass Litwa nicht einen Kommentar der Fragmente vorlegen will. Vielmehr handelt es sich um Lesehilfen und Anregungen zur Vertiefung.
Daneben darf die eigentliche Stärke des Buches nicht vergessen werden: Litwa präsentiert eine klare und elegante Übersetzung von Texten, die nicht immer gut verständlich sind. Seit Scott 19244 sind die stobaeischen Fragmente nicht mehr ins Englische übersetzt worden. Daher sind die Hermetica II von M. David Litwa vor allem für den englischsprachigen Leser von grossem Nutzen.
Wer hingegen auf andere Sprachen ausweichen kann, sollte dies auch tun. Französisch und italienisch sind mit relativ jungen Übersetzungen gut bedient, die vor allem aber auch den Originaltext wiedergeben.5 Zwar will Litwa nur eine Übersetzung, und keine Edition anbieten, aber es ist dennoch ein grosses Manko, zumal er den Leser nicht an die Nuancen des Griechischen heranführt und seine Übersetzungen meist nicht begründet. Diese Kritik kann an einigen Beispielen verdeutlicht werden:
Fragment 14 aus Stobaeus 1.5.16 bespricht die Ordnung des Kosmos: „Now Providence firmly governs the whole world, Necessity constrains and contains it, and Fate drives and drives round all things by force …” Die drei Schlüsselbegriffe providence/necessity/fate werden nirgends entschlüsselt. Der Leser muss zu einer kommentierten Übersetzung oder einer Edition greifen, um die griechischen Begriffe πρόνοια, ἀνάγκη und εἱμαρμένη und deren Nuancen zu verstehen. Auch in Fragment 18, Stob. 2.8.31, fehlen die zentralen Begriffe: „So there is (intellectual) reality, reason, intellect, and discursive thought…”. Auch in diesem Fall ist es nicht möglich, Stobaeus’ Formulierung zu verstehen; zwingend ist daher wiederum der Griff zum griechischsprachigen Original. Der Leser hätte hier mehr an der Hand genommen werden müssen, wenn ihm der Originaltext schon nicht zur Verfügung gestellt wird – etwa in den meist ohnehin sehr kurzen Einführungen zu den Fragmenten oder in den Anmerkungen.
Die mangelnde Leserführung zeigt sich auch an gewissen Konjekturen Litwas. Nicht selten gibt der Autor in den Anmerkungen eine kurze Notiz, wie er einzelne griechische Satzteile liest (bsp. Fragment 24, Stob. 1.49, Anm. 31: „Here reading γενομένων with P.” Oder Anm. 34: „Here adding ἔχει after ἔγγύς”). Das ist aber nur dann hilfreich, wenn die Alternativen wie bei einem kritischen Apparat sichtbar gemacht werden. So kann der Leser mit der Anmerkung sehr wenig anfangen, es sei denn, er holt sich einmal mehr den (unverzichtbaren) Originaltext hinzu.
Im Vorwort steckt M. David Litwa sein Ziel klar ab: er will erstens die veraltete Übersetzung der stobaeischen Fragmente von Scott 1924 erneuern und zweitens damit die Reihe „Hermetica“, die Copenhaver 19926 begonnen hat, fortsetzen. Beide Ziele erfüllt Litwa klar. Für den englischsprachigen Studenten der hermetischen Literatur ist Litwas Buch allemal empfehlenswert. Nur kann „Hermetica II“ aufgrund seiner Anlage und aufgrund der genannten Mängel nicht die gängigen Übersetzungen ersetzen. Wer auf andere Sprachen ausweichen kann, kann dies mit den jüngsten Büchern von Ramelli, Scarpi, Colpe/Holzhausen oder der immer noch mustergültigen Ausgabe von Festugière/Nock weiterhin tun – und kann dabei die gelungene Übersetzung von Litwa als Ergänzung zur Hand nehmen.
Notes
1. Michael Psellos aus dem 11. Jahrhundert könnte am Ursprung dieser Sammlung stehen. Unter dem Namen Corpus Hermeticum sind 17 Texte in griechisch überliefert, ed. Arthur Darby Nock/André-Jean Festugière: Corpus Hermeticum. 4 Bände. Les Belles Lettres, Paris 1945-1954.
2. Nach den Fragmenten des Stobaeus übersetzt Litwa zudem: Fünf Fragmente aus dem Codex Clarkianus gr. 11 sowie zwei Fragmente aus dem P. Graec. Vindob. 29456r / 29828r; 45 Fragmente, die bei antiken Autoren wie Tertullian, Laktanz oder Zosimos überliefert sind, sowie Testimonien („hardly exhaustive“). Abschluss bildet ein hilfreicher, acht Seiten langer Sach- und Namensindex.
3. Claudio Moreschini: Hermes Christianus: The intermingling of hermetic piety and Christian thought. Turnhout 2011.
4. Walter Scott: Hermetica: The Ancient Greek and Latin Writings Which Contain Religious or Philosophic Teachings Ascribed to Hermes Trismegistus. 4 Bände. Oxford 1924-1925.
5. Arthur Darby Nock/André-Jean Festugière: Corpus Hermeticum. 4 Bände. Les Belles Lettres, Paris 1945-1954; übersetzt ins Italienische mit umfangreicher Bibliographie und Einführung von Ilaria Ramelli: Corpus hermeticum. Testo greco, latino e copto. Milano 2006; Paolo Scarpi: La rivelazione segreta di Ermete Trismegisto. 2 Bände. Mailand 2009–2011; Carsten Colpe/Jens Holzhausen: Das Corpus Hermeticum Deutsch. Übersetzung, Darstellung und Kommentierung. 2 Bände. Stuttgart-Bad Cannstatt 1997.
6. Brian P. Copenhaver: Hermetica : the Greek “Corpus Hermeticum” and the Latin “Asclepius”. Cambridge 1992.