Lange mußte die interessierte Öffentlichkeit auf die jetzt vorliegenden Akten einer Tagung warten, die bereits im Juni 2009 in Heidelberg stattfand. Um es vorweg zu nehmen: Das Warten hat sich gelohnt, denn mit diesem Band liegt nun ein aktueller Überblick der spätantiken Epigraphik vor, der die zahlreichen und oft sehr unterschiedlichen Ausprägungen von inschriftlichen Monumenten zwischen ca. 300 und 600 n. Chr. gut abbildet.
Insgesamt stand die spätantike Epigraphik – ebenso wie die Geschichte der Spätantike selbst – lange Zeit im Schatten anderer Epochen. Doch es gab auch immer wieder Ausnahmen: Ein ganz neues Feld etwa bereitete bereits 1948 Louis Robert mit seinen Épigrammes du Bas-Empire. 1 Daß sich die Epigraphik der Spätantike heute neben der anderer Epochen etabliert hat, zeigt sich nicht nur daran, daß mittlerweile im Rahmen der Inscriptiones Graecae eigene Bände zu den spätantiken Inschriften Athens und Korinths vorliegen 2, sondern auch an gleich zwei Panels zu „spätantiker und byzantinischer Epigraphik“ auf dem Wiener Epigraphik-Kongreß im Sommer 2017. Einiges bleibt jedoch zu tun: Eine Sammlung der Inschriften Konstantinopels fehlt bis heute. Daher wird für die Entwicklung der spätantiken und byzantinischen Epigraphik das Projekt Inscriptiones Graecae Aevi Byzantini große Bedeutung haben.3
In der Einleitung (15–30) versuchen die Herausgeber, „epigraphic cultures“ der Spätantike näher zu fassen, wobei selbstverständlich Ramsay MacMullens „epigraphic habit“ den wichtigsten Bezugspunkt bietet. Die Spätantike wird hier grundsätzlich als die Zeitspanne von ca. 300 bis 600 n. Chr. gefaßt, obschon es teilweise erhebliche regionale Unterschiede zu verzeichnen gibt. Auch wenn der Terminus „epigraphic cultures“ ein wenig unscharf bleibt, so wird doch klar, daß es vor allem darum geht, Inschriften nicht isoliert als Texte zu betrachten, sondern herauszuarbeiten, „in which [ sc. ways] these particular types of textual monuments might illuminate the society that produced them.“ (18) So erklärt sich auch der Plural „cultures“ im Titel des Bandes: „This requires taking into account the major cultural and religious developments during Late Antiquity, as well as the many quantitative, qualitative and regional variations that are to be detected in the epigraphical record of this period.“4
Auf die Einleitung folgen sieben regional ausgerichtete Studien, die zusammen beinahe den gesamten Mittelmeerraum abdecken und damit das in der Einleitung vorgestellte Programm einlösen. Die Ausrichtung der einzelnen Studien variiert dabei zwischen knappen, präzisen Überblicken – wie jenen von Christian Witschel über „spätantike Inschriftenkulturen im Westen“ (33–53) oder von Stephen Mitchell über Kleinasien (271–286) – und ausführlicheren Studien zu Hispanien (Judit Végh, 55–110), zum südlichen Gallien (Lennart Hildebrand, 111–146), zu Italien (mit einem Fokus auf Tuscia et Umbria, Katharina Bolle, 147–212) zu Leptis Magna (Ignazio Tantillo, 213–270) sowie zu Palaestina und Arabia (Leah Di Segni, 287–320).
Der zweite große Komplex widmet sich „Genres and Practices“. Die Beiträge von Carlos Machado (323–361) und Ulrich Gehn (363–405) konzentrieren sich auf Gebrauch und Wiederverwendung von Statuenbasen und deren tituli in Rom und dem griechischen Osten. Hier bieten die Funde in Aphrodisias einmaliges Material (384–402). Nicht nur zusammen geben die beiden Studien ein umfassendes Bild der Statuenträgern, gerade Gehns Aufsatz, der sich auf die Oxforder Datenbank „Last Statues of Antiquity“ stützt, bietet durch eine Kontrastierung der Darstellungen von westlichen (364–384) und östlichen togati (384–401) ein differenziertes Bild sich wandelnder Repräsentationsformen der regionalen Eliten.
Spätestens seit Louis Roberts bereits zitierter Studie Épigrammes du Bas-Empire von 1948 ist bekannt, wie stark sich die Form von ,Ehreninschriften‘ ab dem 4. Jahrhundert wandelte: So wurden Inschriften, die den cursus honorum des Geehrten referierten, beinahe vollständig von Epigrammen verdrängt. Diesem Phänomen widmen sich Silvia Orlandi (407–425), Lucy Grig (427–447) und Erkki Sironen (449– 471). Während sich die ersten beiden mit lateinischen Epigrammen beschäftigen, konzentriert sich letzterer auf die griechischen Epigramme von Hellas und Achaia. Allen drei Studien ist gemein, daß sie materialreich die Eigenheiten spätantiker Epigrammatik herausarbeiten und so wichtige Bausteine zu einer Erklärung dieses, nicht nur für die spätantike Epigraphik, sondern für die spätantike Geschichte so aufschlußreichen Wandels geben. Insgesamt klafft hier jedoch die einzige große Lücke des Sammelbandes: Auch wenn Sironen sich in einem kurzen Exkurs Beispielen aus dem westlichen Kleinasien zuwendet (466–469), fehlt ein eigener Beitrag zu Kleinasien und dem Nahen Osten – zu zwei großen Regionen also, die, wie Sironen eindrücklich vor Augen führt, in der Spätantike eine außerordentlich reiche epigrammatische Produktion hervorgebracht haben (466), die zudem über die Steinepigramme aus dem griechischen Osten bequem zugänglich ist.5 Abgerundet wird die Sektion durch Denis Feissel, der anhand dreier Ämter ( curator, defensor und pater civitatis) zeigt, wie weit unsere Kenntnisse spätantiker Verwaltung auf epigraphischer Grundlage ruhen (473–500).
Der dritte Teil widmet sich der für die Spätantike zentralen Frage nach der Rolle des Christentums. Hier bieten Charlotte Roueché und Claire Sotinel nicht nur eine Einleitung zu dieser Sektion, sondern gleichsam eine zweite, forschungsgeschichtliche Einführung in die Thematik des gesamten Bandes (503–514). Vor einem weiten historischen Panorama zeigen sie auf, wie sich verschiedene Zugänge zur Epigraphik des hier behandelten Zeitraumes als nützlich oder hinderlich erwiesen haben. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß tatsächlich die kritisierte Bezeichnung „christliche Epigraphik“ gerade für Corpora oftmals wenig passend erscheint, die Corpora selbst aber bis heute wichtige Sammlungen bieten – zuvorderst Henri Grégoires Recueil des inscriptions grecques-chrétiennes d’Asie Mineure (1922), selbst wenn hier auch nicht explizit christliche Inschriften Eingang gefunden haben (vgl. 507).
Georgios Deligiannakis untersucht am Beispiel der Insulae, inwieweit inschriftliche Zeugnisse Aufschlüsse über die Spannungen zwischen unterschiedlichen christlichen Gruppen geben können (515–533). Er kommt zu dem Ergebnis, daß „dissident Christian groups are usually almost invisible in the material evidence“ (530). Im folgenden Beitrag von Rudolf Haensch rückt mit dem Heiligen Land wieder die Region in den Fokus, die für die Spätantike mit besonders reichem inschriftlichen Material aufwartet (535–554). Im Vergleich mit italischen Inschriften kann er eindrucksvoll zeigen, inwieweit Stiftungen von Kirchen (und deren inschriftliche Repräsentation) in West und Ost ähnlichen Mustern folgten und wo sich neue Formen etablierten. So bildete sich nur im Osten ein Formular heraus, daß Stifter lediglich summarisch und damit anonym nannte, und damit „eigentlich einem Grundprinzip des antiken Euergetismus widersprach“ (548). Abgerundet wird dieser Teil durch Mark A. Handley, der sich den inschriftlichen Überlieferungen des Pilgerwesens – vor allem Graffiti – widmet (555–593).
Der vorliegende Band bietet mit seinen insgesamt 17 Beiträgen ein Kompendium der spätantiken Epigraphik. Jede einzelne Studie stellt einen zentralen Beitrag zur Forschung dar und eignet sich daher sowohl als Einstieg in das jeweilige Thema wie auch als Ausgangspunkt für zukünftige Arbeiten. Daher war es eine gute Entscheidung, jeder Studie eine eigene Bibliographie beizugeben, die die zentrale Literatur zum jeweiligen Thema versammelt.
Die lange Zeitspanne zwischen Tagung und Publikation erweist sich insofern nachträglich als gewinnbringend, da auf diese Weise auch mehrere Untersuchungen berücksichtigt werden konnten, die nicht auf der Tagung vorgestellt wurden und nun dazu beitragen, daß vor allem die regional angelegten Studien (Teil I) deutlich umfassender abgedeckt werden, als dies auf der Tagung der Fall war. Als besonders wertvoll für die weitere Forschung werden sich auch Inventare erweisen, die den Beiträgen von Tantillo, Di Segni, Machado, Feissel und Handley beigegeben sind und alle verfügbaren Inschriften zu den entsprechenden Themen verzeichnen (darunter sogar Inedita, etwa 495, P31). Positiv fällt auch die Mischung aus ausgewiesenen Experten und wissenschaftlichem Nachwuchs auf. Der Band, der mit Aufsätzen in englisch, deutsch, französisch und italienisch wirklich international daherkommt, ist zudem sehr gut redigiert. Ebenso sind die Karten, Abbildungen und Farbtafeln von hoher Qualität.
Ein großes Problem muß jedoch auch erwähnt werden: Es ist völlig unverständlich, warum der Band keine Register beinhaltet. Gerade Sammelbände werden üblicherweise nicht in Gänze gelesen, vielmehr werden einzelne Aufsätze gezielt konsultiert. Hinsichtlich des Umfanges von etwa 600 Seiten wird folglich jeder Leser Indices schmerzlich vermissen, die das reiche Material erschlossen sowie Querverbindungen zwischen den einzelnen Aufsätzen aufgezeigt hätten.
Aufs Ganze gesehen legen die Herausgeber einen gewichtigen Band vor, der die dynamischen Forschungen zur spätantiken Epigraphik auf breiter Basis bündelt und auf diese Weise zugleich Summa der bisherigen wie Ausgangspunkt für weitere Forschungen ist.
Notes
1. Louis Robert, Hellenica IV: Épigrammes du Bas-Empire, Paris, 1948.
2. Athen: IG II/III 2 5 (2008); Korinth: IG IV 2 3 (2016), beide ediert von Erkki Sironen.
3. Vgl. die Zwischenbilanz bei Andreas Rhoby (Hg.), Inscriptions in Byzantium and Beyond. Methods – Projects – Case Studies, Wien, 2015.
4. Vgl. jetzt auch Ignazio Tantillo, “Defining Late Antiquity through Epigraphy?”, in: Rita Lizzi Testa (Hg.), Late Antiquity in Contemporary Debate, (Newcastle upon Tyne Cambridge Scholars Pub., 2017), 56–77.
5. Reinhold Merkelbach & Josef Stauber, Steinepigramme aus dem griechischen Osten, 5 Bde. (Leipzig; Stuttgart: De Gruyter, 1998–2004).