Kann man mit einzelnen Aufsätzen, also der „kleinen Form“ des wissenschaftlichen Publizierens, heute (noch) den Anforderungen an einen Historiker, die komplexen Geflechte vergangener Gesellschaften konzeptionell zu beurteilen und zu bewerten, gerecht werden? Man kann, wenigstens zu einem gewissen Grade, wie der zweite Band der gesammelten Schriften aus der Feder des Experten für griechische Epigraphik sowie die Wirtschafts- und Finanzgeschichte der griechischen Poleis, Léopold Migeotte, eindrucksvoll zeigt. Zusammen mit dem ersten Band genommen,1 liegen nun die meisten der an oft abgelegenen Orten publizierten Detailstudien vor, die Basis und Voraussetzung für Migeottes Monographien zum Wirtschafts- und Finanzwesen der griechischen Städte bilden, unter anderem und jüngst sein Opus magnum „Les finances des cités grecques“.2
Und was für ein Bild da gezeichnet wird! Die 32 Aufsätze, die jeweils in einem Postscriptum neuere Literatur, Querverweise zu anderen Aufsätzen / Monographien etc. enthalten, entwerfen in sechs Kategorien—gestion financière; taxation; revenus et défenses; emprunts et souscriptions; fondations; politique, société, économie—ein facettenreiches Bild der griechisch-hellenistischen Wirtschafts- und Finanzwelt. Dieses ist so gar nicht primitiv im Finley´schen Sinne, sondern zeichnet sich durch komplexe Geldströme, Abrechnungsverfahren und Interaktion zwischen Privatpersonen, staatlichen Institutionen und/oder Herrschenden aus.
Von der Methodik her geht Migeotte jeweils direkt in medias res und damit stets den oft als altmodisch verschrienen quellenorientierten Weg: Das antike Zeugnis, meistens eine oder mehrere Inschriften, steht im Mittelpunkt der Betrachtung und wird mit klassischer Quellenkritik angegangen sowie in allen Details analysiert. Große hermeneutische oder gar konzeptionelle Fragen—etwa nach dem Charakter antiker Wirtschaft (in Form des Dualismus Primitivismus-Modernismus oder neuerer Theoreme wie der Neuen Institutionenökonomie), der Rolle staatlicher, religiöser oder sonstiger Institutionen und Vereinigungen, der wirtschaftlichen „Rationalität“ der Akteure—spielen dabei meist nur am Rande eine Rolle. Antworten darauf gibt es ergo nicht in direkter Form, aber implizit macht Migeotte klar, daß die primitivistische Orthodoxie mit ihrer Nicht- und Verachtung außer-literarischer Quellen einem literarischen Konstrukt aufgesessen ist, das die Realität antiken Wirtschaftshandelns und -denkens unzureichend erfaßt.
Symptomatisch für Migeottes Vorgehen und den daraus zu ziehenden Erkenntnisgewinn sei auf drei Beiträge hier näher eingegangen:
In „Taxation directe on Grèce ancienne“ (S. 165-180)3 kann er deutlich nachweisen, daß staatliche Institutionen nicht nur zur indirekten Besteuerung, d.i. ein nicht aufgrund einer Zensusliste im Voraus berechenbares Steueraufkommen, griffen, sondern auch direkte Besteuerungsmethoden anwandten, obgleich letztere weitaus weniger verbreitet waren, was allgemein mit der Unvereinbarkeit von Bürgersein und direktem Zugriff des Staates auf das Vermögen der ihn tragenden Bürgerschaft erklärt wird. Anknüpfend an Josiah Obers jüngste Arbeit mit der These des direkten Zusammenhangs von wirtschaftlichem Erfolg und demokratisch verfaßten Poleis könnte man hier modifizierend die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Staatsform, Besteuerungssystem und wirtschaftlicher Implikation stellen.4
Mit „Les souscriptions dans les associations privées“5 greift er die „private“ Seite der epidoseis durch Vereinigungen auf, nachdem er bereits umfassend die „öffentlichen“ Finanzierungsmechanismen behandelt hatte.6 Diese agierten komplementär zu „staatlichen“ Aktionen, insbesondere im 3. und 2. Jahrhundert v.Chr., könnten aber, so seine Vermutung (S. 304), diese Finanzierungsart im 4. Jahrhundert v.Chr. für die Polis erst interessant und nachahmenswert gemacht haben. Gerade diese Wechselwirkungen zwischen privaten und öffentlichen Institutionen für die Übergangsphase zwischen klassischer und hellenistischer Poliswelt zu untersuchen, dürfte ein interessantes Forschungsfeld für zukünftige Untersuchungen, nicht nur im Bereich der Ökonomie, bilden, da solche „Übergänge“ bis in die Begrifflichkeiten hinein zu konstatieren sind (vgl. bspw. nur den oikonomos).
Die negative Verknüpfung von körperlicher Arbeit und (demokratischem) Staatssystem seitens der aristokratisch gesinnten Philosophen des 4. Jahrhunderts v.Chr. arbeitet Migeotte in seinem Aufsatz „Les philosophes grecs et le travail dans l´Antiquité“ (S. 367-381)7 heraus. Er macht dabei auch deutlich, wie das von Platon, Aristoteles und teilweise Xenophon gezeichnete Bild einer arbeitsfreien, höchstens im landwirtschaftlichen Großgrundbesitz agierenden, moralisch überlegenen Elite ein Kontrastgemälde zur wirtschaftlichen Realität darstellt. Da diese Elemente auch in anderen, nicht nur antiken Gesellschaften auftreten, könnte man hier dezidiert danach fragen, inwieweit diese idealisierenden, letztlich antidemokratischen Vorstellungen gerade erst und innerhalb des demokratischen Diskurses geformt und denkbar wurden, eine Fragestellung, der sich eine von Ivan Jordovic organisierte Tagung annehmen wird.8
Neben den Einzelerkenntnissen in den jeweiligen Aufsätzen sind der beigefügte Quellenindex und ein Gesamtregister mit Personen, Orten, Sachen von allergrößtem Nutzen, so daß ein systematisches Arbeiten mit dieser kohärenten Schriftensammlung vereinfacht wird. Alles in allem entfalten die Gesammelten Schriften in beiden Bänden trotz ihres konservativen Ansatzes ihre stimulierende Wirkung gerade aus dieser genauen Quelleninterpretation und vermögen damit, unsere Kenntnis des Wirtschafts- und Finanzsystems der griechisch-hellenistischen Welt enorm zu bereichern.
Notes
1. L. Migeotte, Économie et finances publiques des cités grecques, volume I: choix d’articles publiés de 1976 à 2001. Collection de la Maison de l’Orient et de la Méditerranée, 44. Lyon 2010.
2. L. Migeotte, Les finances des cités grecques: aux périodes classique et hellénistique. Epigraphica, 8. Paris 2014. Siehe dazu die Rezension von John Ma in BMCR 2015.08.27. Eine vollständige Bibliographie findet sich im Anhang des hier besprochenen Werkes, S. 425-432.
3. Original publiziert in: G. Thür & Fr. J. Fernández Nieto (eds.): Symposion 2009. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte (Pazo de Mariñán, La Coruña, 6.-9. September 1999). Akten der Gesellschaft für griechische und hellenistische Rechtsgeschichte 14, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 297-313. Erweitert nun in id.: L’économie des cités grecques de l’archaïsme au Haut-Empire romain. 2nd ed. Paris 2007, S. 230-248, 504-508.
4. J. Ober, The Rise and Fall of Classical Greece, Princeton, Oxford 2015. Zur Frage zwischen Steuersystem und Staatsverfassung vgl. S. Günther,„’Die Steuern sind die Nerven des Staates!’ (Cicero, Rede für den Oberbefehl des Cn. Pompeius 17) – Überlegungen zum Zusammenhang zwischen antiken Staatsformen und ihrem Steuersystem, oder die Frage: Welche Besteuerung verdient eine Gesellschaft?“, Pro Lingua Latina 12 (2011) 27-38.
5. Original in: P. Fröhlich; Patrice Hamon (eds.), Groupes et associations dans les cités grecques (IIIe siècle av. J.-C.-IIe siècle ap. J.-C). Actes de la table ronde de Paris, INHA, 19-20 juin 2009. Hautes études du monde gréco-romain 49, Genève 2013, S. 113-127.
6. Les souscriptions publiques dans les cités grecques, Genève, Québec 1992.
7. Original in: D. Mercure & J. Spurk (eds.), Le travail dans l´histoire de la pensée occidentale, Québec 2003, S. 11-32.
8. „Das antidemokratische Denken und die demokratische Ideologie“, Bielefeld, 30.-31. August 2016, organisiert von Prof. Dr. Ivan Jordovic (Novi Sad, Serbien).