BMCR 2016.03.21

Die Fragmente der Historiker: Ephoros von Kyme (FGrHist 70) und Timaios von Tauromenion (FGrHist 566). Bibliothek der griechischen Literatur, Bd 77

, , Die Fragmente der Historiker: Ephoros von Kyme (FGrHist 70) und Timaios von Tauromenion (FGrHist 566). Bibliothek der griechischen Literatur, Bd 77. Stuttgart: Anton Hiersemann, 2015. vi, 368. ISBN 9783777215068. €198.00.

Table of Contents

Nach dem in derselben Reihe 2010 erschienenen Buch zu Theopomp haben die mittlerweile leider verstorbenen Autoren Barbara Gauger und Jörg-Dieter Gauger im vorliegenden Band die erhaltenen Fragmente von Ephoros von Kyme (FGrHist 70) und Timaios von Tauromenion (FGrHist 566), die zu den bedeutendsten Historikern des 4. bzw. 3. vorchristlichen Jahrhunderts gehören, übersetzt.

Der Band beginnt mit einer knappen allgemeinen “Einführung“ (S. 1-13), in der die wichtigsten modernen Quellensammlungen, allgemeine für die Leser nützliche Standardwerke der Sekundärliteratur und die antiken Quellen, aus denen die Testimonien (T) und Fragmente (F) stammen, unter Angabe weniger relevanter Informationen zu Leben und Werk kurz illustriert werden. Es wäre benutzerfreundlicher gewesen, wenn nicht nur zu einigen, sondern zu allen hier angeführten Autoren die modernen kritischen Editionen und Übersetzungen vermerkt worden wären.

Der erste Hauptteil (S. 15-147) ist Ephoros gewidmet. In einer kurzen Übersicht (S. 17-31) werden unter Berücksichtigung auch der neuesten Forschungsliteratur bis 2014 Leben und Werke1 mit hypothetischer Gliederung der Historiai sowie die vier laut den Autoren wichtigsten Fragestellungen umrissen. Diese sind erstens die Frage nach dem Überlieferungskontext der Fragmente, zweitens nach den Beziehungen Ephoros’ zu philosophischen Autoren wie Platon und zu den anderen zeitgenössischen Historikern wie Theopomp sowie den Vorbildern (z.B. Herodot, Thukydides, Hellanikos oder Xenophon); ebenso, ob weitere Passagen aus der indirekten Überlieferung und neue Papyrusfragmente seinem Œuvre zugewiesen werden können, und schließlich das Problem, inwieweit besonders Diodor Ephoros überarbeitet und verändert hat. Die Autoren vermeiden es, pointiert zu den einzelnen Punkten ihre Meinung kundzutun, und geben dem Leser vielmehr einen Überblick über das erhaltene Werk und die Sekundärliteratur. Hingegen werden weder Ephoros’ Geschichtsbild noch der Stil oder die Rezeption des Werks (die eng mit dem Überlieferungskontext verbunden ist) behandelt. Dann folgt die Übersetzung der Testimonien und der Fragmente (S. 33-147) aus Jacobys FGrHist.

Analog dazu ist der zweite Hauptteil, der Timaios umfaßt (S. 149-272), gestaltet. Im einleitenden Überblick (S. 151-158) wird wie bei Ephoros das Problem der Benutzung des Timaios als Quelle (besonders bei Diodor) kurz diskutiert, wobei auf die Probleme beim Versuch der Kontextualisierung der Zitate eingegangen wird (S. 158), während auch bei ihm weder die Rezeption noch der Stil des Werks besprochen werden. Am Ende der Übersetzung (S. 253f.) stehen drei zusätzliche, nur in Müllers FHG enthaltene Fragmente.

Es folgen die Anmerkungen zu Ephoros (S. 273-313) und Timaios (S. 315-346). Ein Register der geographischen, mythischen und historischen Namen rundet das Werk ab (S. 347-368).

Entsprechend den Vorgaben der Reihe enthält der Band nur die deutsche Übersetzung des Textes aus FGrHist. Dies ist sehr bedauerlich, besonders bei der Übersetzung von Fragmenten, die aus sehr vielen Quellen stammen und die außer in FGrHist oder in Brill’s New Jacoby (BNJ) sonst nicht einfach auffindbar sind. Darüber hinaus ermöglicht der Vergleich mit dem Originaltext den Benutzern, die, wenn das Buch im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit verwendet wird, immer die griechischen oder lateinischen Originale nachschlagen müssen, oft ein besseres Verständnis als die Übersetzung in eine moderne Sprache, besonders, wenn man den Text unterschiedlich deuten kann. Dazu kommt, daß die von den beiden Übersetzern gewählte Textgrundlage gegenüber FGrHist, aber auch gegenüber BNJ, vielfach besser und neuer ist und von den beiden erwähnten Quellensammlungen abweicht.2 So wird etwa in der Übersetzung von Ephoros F 71 (S. 76), das aus Athenaios 11,101 (500C) stammt, als Beinamen des Derkyllidas neben der von FGrHist und BNJ gewählten Lesart “Sisyphos“ auch die Variante “Skyphos“ (“Kanne“), das die Lesart des Athenaios gewesen ist, berücksichtigt, wie die Autoren in der Anmerkung (S. 290) ausführen.3

An vielen Stellen ist die deutsche Übersetzung genauer als die englische in BNJ, so etwa Ephoros T 29 (S. 43), wo levis als “Leichtgewicht“ und nicht wie in BNJ mit “eloquent“ übersetzt wird.4 Ebenso F 134 (S. 105), wo οὐκ ἀποβάντος αὐτῶι τοῦ χρησμοῦ “weil bei ihm die Weissagung nicht eintraf“ genauer als in BNJ “because the oracle gave him an unfavourable response“ übersetzt wird. In Timaios F 8 (S. 179) ist ἀντὶ τῶν Γεωμόρων ἐν Συρακούσαις γενόμενοι “die den Platz der Geomoren … einnahmen“ wohl sinnvoller als BNJ “the people opposed to the Geomoroi …“, ebenso wie Timaios F 32 (S. 199, Zeile 1), wo κόλαξ treffender mit “Schmeichler“ als BNJ “parasite” übersetzt wird.

An anderen Stellen überzeugt die deutsche Übersetzung nicht, und zwar im Ephoros-Teil: T 28b (S. 42) wird in einem rhetorischen Kontext ὑπόθεσις als “Vorlage“ wiedergegeben, doch handelt es sich wohl eher um das “Thema“ oder “Sujet“ (BNJ hat treffender “topic“, so auch von den Herausgebern etwa in F 31b, S. 59 mit “Thema“ übersetzt).5

F 13 (S. 50) wird μιγῆναι in einem eindeutig sexuellen Kontext mit “sich vermählen“ wiedergegeben; klarer wäre wohl ein Verb wie “schlafen“ gewesen.
In F 19 (S. 52) bei κακῶς δὲ καὶ πονηρῶς ἀπαλλαττόντων meint der Scholiast statt “schlecht und mühsam aufgeben (können)“ wohl eher, daß sich diese Angeber nur unter Gesichtsverlust “aus der Affäre ziehen“ (ἀπαλλάττεσθαι) können.
F 61 (S. 69) ist κατ᾽ἔχθραν wohl nicht auf das Verb φησὶ zu beziehen (“sagt … über die Feindschaft, daß die Bewohner … “), sondern ist das Motiv für den Angriff (ἐπιθέσθαι), also eher, “daß die Bewohner aus Haß … die Argonauten angegriffen hätten“.6
F 65b (S. 71) bedeutet ἀραιός nicht “trocken“, sondern “dünn, locker“ (BNJ hat “loose“, so richtig in F 65c von den Übersetzern mit “locker“ wiedergegeben).
F 96 (S. 83) fehlt (im Gegensatz zu FGrHist und BNJ) der letzte Abschnitt (συνέβη δὲ … ἐβούλευσεν).
F 109 (S. 88) ist ἀλλὰ προδιελθεῖν βουλόμενοι “sondern weil wir (dann) ausschließlich (nur über die Griechen) fortfahren wollen“ sehr frei und vermischt eine erklärende Glosse mit der Übersetzung, während BNJ näher am Text bleibt (“but because we wish to discuss in advance“).
Bei Timaios: T 13 (S. 163) ist οὐ κατέλυσε τῆς μοναρχίας “nicht von der Alleinherrschaft ablöste“, sondern eher “setzte ihn nicht als Alleinherrscher ab“.
Wieso T 19 (S. 165) ὀψιμαθία (nach LSJ “late-gotten learning“ bzw. nach Montanari auch “pedanteria“7) mit “Wichtigtuerei“ wiedergegeben wird, bleibt rätselhaft (ebenso F. 36, S. 202, Zeile 1).
F 22 (S. 188) ist μαθεῖν ἡλίκην ὁ πόλεμος διαφορὰν ἔχει τῆς εἰρήνης “lernen, wieviel besser der Friede sei als der Krieg“ anstelle von “zu lernen, welch großer Unterschied zwischen Krieg und Frieden besteht“ wohl etwas zu frei.
F 64 (S. 214) ist παρὰ τοῖς ῞Ελλησι τὴν προκειμένην ῥηθῆναι παροιμίαν statt “davor schütze bei den Griechen das in Rede stehende Sprichwort“ die in BNJ gegebene Übersetzung “among the Hellenes the aforementioned proverb is spoken“ besser, da im Griechischen ein Verb “schützen“ nirgends vorkommt.
In F 138 (S. 243) fügen die Übersetzer einen weiteren Satz aus Cicero Brut. 63 an, den FGrHist zu Recht nicht berücksichtigt hat (“acuti sunt … felicior“). Denn in diesem Satz scheint Cicero etwas über Cato und Lysias auszusagen und sich nicht mehr auf Timaios zu beziehen. Leider haben die Autoren ihren Zusatz nirgendwo begründet.

Merkwürdig ist, daß dieselben Fragmente, die sowohl im Ephoros- als auch im Timaios-Teil vorkommen, ohne Begründung jeweils auf verschiedene Weise übersetzt werden, während der Originaltext derselbe ist (so etwa Ephoros F 201 = Timaios F 103, Ephoros F 202 = Timaios F 104; es werden sogar in Ephoros F 218 die Zahlen in Worten wiedergegeben, während in Timaios F 110 im gleichen Text diese mit Ziffern ausgedrückt werden).

In der Regel enthalten die knappen Anmerkungen lediglich weiterführende Literatur und sind leider zu selten textkritischen (so wie die ausgezeichnete Diskussion zu Timaios T 15a, S. 317), sprachlichen oder inhaltlichen Fragen gewidmet. Meistens wird bei Personen- oder Ortsnamen auf Lexikoneinträge verwiesen; dies spart zwar Platz, ist aber nicht immer leserfreundlich; ein Minimum an Erklärung wäre gerade für Nichtspezialisten oder Studienanfänger für das Verständnis mancher Fragmente äußerst hilfreich gewesen, so etwa in der Anmerkung zu Ephoros F 57 (S. 287), in der bezüglich Kokalos, Minos und Daidalos lediglich auf die jeweiligen Einträge im Neuen Pauly, auf Philistos und die Sekundärliteratur verwiesen wird.

Daß man bei Ephoros F 102b (S. 85) den von Hieronymus genannten Historiker Euforbus (wie von Scaliger vorgeschlagen) als Ephorus interpretieren sollte, hätte in einer Anmerkung oder wenigstens in einer sonst von den Autoren so häufig verwendeten erklärenden Parenthese (“Euforbus = Euphoros“) kurz angedeutet werden sollen.

Ebenso hätte man zu Ephoros F 177 (S. 124) wie in BNJ wenigstens in einer Anmerkung angeben sollen, daß die Lesart Ephoros (εφορος) auf einer Konjektur des überlieferten ευφρονος beruht.

In Timaios T 19 (S. 167f.) werden die Paragraphen des Polybios-Texts umgestellt (25 i-k folgen nach 25b vor 25 c-h), ohne daß dem Leser diese (vielleicht sinnvolle) Umstellung in der Anmerkung erklärt wird.

Die Verwendung der Parenthesen ist nicht eindeutig: man erkennt nicht immer, ob eine in Parenthese stehende Information Teil des übersetzten Textes oder ein exegetischer Zusatz der Übersetzer (etwa ein Querverweis) ist. Insbesondere stehen exegetische Zusätze, die Jacoby auf deutsch in seinen griechischen Text eingefügt hat, in der deutschen Übersetzung zwischen Klammern; diese extratextuellen Zusätze erkennt man nur an Jacobys Eigentümlichkeit, alle Substantive außer Eigennamen klein zu schreiben, was die Autoren beibehalten haben, aber nirgends erklären. Dadurch, daß sich diese Zusätze sonst graphisch nicht vom Rest des übersetzten Texts, der auch andere Parenthesen enthält, unterscheidet, fällt es dem Leser schwer, den überlieferten Originaltext auszumachen. Es wäre besser gewesen, diese explikativen Zusätze aus FGrHist durch eine andere Schriftgröße bzw. -art deutlich vom Text (z.B. als Zwischenüberschriften) abzuheben. Die cruces, die normalerweise mit dem Zeichen “†“ ausgedrückt werden, sind hier jeweils mit dem Zeichen “+“ wiedergegeben, was durchaus unüblich ist und übrigens nirgends erklärt wird.

Abgesehen von diesen hier dargelegten Kritikpunkten, bei denen es sich vorwiegend um punktuelle Mängel und Versehen handelt, ist die vorliegende Edition, die nur wenige Druckfehler8 enthält und auch in Bezug auf die Sekundärliteratur neuer als BNJ ist,9 für alle, die sich mit Ephoros und Timaios beschäftigen, ein überaus nützliches und geradezu unverzichtbares Hilfsmittel.

Notes

1. Woraus S. 21 die Herausgeber schließen, daß es in der Schrift Peri lexeos “(wohl u.a.) um den metrisch gebundenen Stil geht“, bleibt mir unklar.

2. Besonders bei Strabon, wo die ausgezeichnete Ausgabe von St. Radt, Strabons Geographika: mit Übersetzung und Kommentar, Göttingen 2002, gewählt wurde, die einen besseren Text bietet (vgl. etwa Ephoros F 137, S. 106, wo am Anfang der Text besser als in BNJ ist).

3. In seiner neu besorgten Ausgabe von Athenaus, The Learned Banqueters, ed. and. transl. by S.D. Olson Books 10.420e-11 Cambridge (Ma.) / London 2009, wählt Olson S. 438 ebenso die Lesart σκύφος und gibt die Begründung dafür in der Anm. 384 an.

4. Diese Übersetzung der Cicerostelle (Or. 191) wird auch durch den ThLL s.v. levis gestützt.

5. Vgl. dazu H. G. Liddell / R. Scott / H. S. Jones / R. McKenzie (edd.), A Greek-English Lexicon. With a revised supplementum, Oxford 9 1996 s.v. ὑπόθεσις “subject proposed (to oneself or another) for discussion“.

6. Bemerkenswert ist, daß in BNJ κατ᾽ἔχθραν gar nicht übersetzt wird.

7. Vgl. dazu LSJ und F. Montanari (ed.), Vocabolario della Lingua Greca, Milano 2 2004 s.v. ὀψιμαθία.

8. So in Ephoros F 111 (S. 88) lies ‘Schriftsteller‘ statt ‘Schriftstellers‘, F 233 (S. 144, drittletzte Zeile) lies ‘Eratosthenes (241 F1)‘ statt ‘Eratosthenes (214 F1)‘, T 31 (S. 174) lies ‘Stämme‘ statt ‘Stamme‘, F 7 (S. 178) lies ‘Begabung,‘ statt ‘Begabung.‘, F 24 (S. 190, Zeile 8 von unten) lies ‘von einem‘ statt ‘von einen‘, S. 283, Zeile 2 lies ‘agile di‘ statt ‘agiledi‘, Ephoros F 12 (S. 49) lies ὑμῖν statt ὑμιν, in der Tabelle zu Ephoros F 30 (S. 58) lies ΖΕΦΥΡΟΣ statt ΖΕΦΙΡΟΣ, in der Anmerkung zu Ephoros F 42 (S. 285) lies Ἀρετῆς statt Ἀρετής.

9. Bei den Elegikern sollte jeweils statt der alten Ausgabe von Diehl diejenige von West (so etwa in Ephoros F 216, S. 141), bei den Tragikern anstelle von Nauck das neue TrGF (so etwa Timaios F 22, S. 189; Timaios F 52, S. 209 oder F 119b, S. 236) und für die Komödiendichter PCG statt Kock (etwa Timaios F 35b, S. 201, ebenso F 54, S. 210) zitiert werden.