Nach Übersetzungen ins Französische, Spanische, Englische und Deutsche1 liegt nun seit kurzem mit dem hier zu besprechenden Buch endlich auch eine moderne italienische Version von Quintus Smyrnaeus’ Posthomerica vor. Das kaiserzeitliche Epos, das die Ilias in unmittelbarer Kontinuation fortsetzt und die posthomerischen (genauer: postiliadischen) Ereignisse nach dem Tode Hektors bis zur Eroberung und Zerstörung Trojas in stark an die homerische Kunstsprache angelehnten Hexametern nacherzählt, wurde von einer von Emanuele Lelli geleiteten und koordinierten studentischen Arbeits- und Forschungsgruppe in einer zweisprachigen Ausgabe neu ediert, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen. Das Resultat ist ein über tausend Seiten starker Band, der nicht bloß das Epos des Quintus einem italienischsprachigen Publikum zugänglich macht, sondern auch – einigen noch zu diskutierenden Schwächen zum Trotz – die Erforschung und Verbreitung der gemeinhin wenig bekannten Posthomerica weiter befördern wird.
In der Einleitung (S. XVII-LXXXVIII), die der zweisprachigen Ausgabe des vierzehn Bücher und ca. 8700 Verse umfassenden Epos vorausgeschickt ist, werden die wichtigsten Themenbereiche angeschnitten und diskutiert, die im Zusammenhang mit den Posthomerica und den damit verbundenen spezifischen Fragen und Problemen von Belang sind. Das erste Kapitel (S. XVII-XXII) ist den spärlichen und unsicheren Nachrichten und Indizien bezüglich des Autors, seiner Herkunft (aus Kleinasien? aus Smyrna?) und seiner Datierung (vorsichtig in die Mitte des 3. Jhs. n.Chr.) gewidmet. Zu Recht wird die Sphragis vor dem Katalog der Helden, die das Hölzerne Pferd besteigen ( Posth. 12,306-313), dahingehend verstanden, dass diese doch wohl eher einen primär literarischen Wert besitzt – dergestalt, dass sich der implizite Autor als (hesiodeisch und kallimacheisch durchtränkter) Homerus novus in Szene setzt und somit sein Werk letztlich als quasi-‘echte’ Fortsetzung der Ilias legitimiert. Für die Datierung des Werks werden die in der Quintusforschung üblicherweise herangezogenen, aufgrund möglicher (wiewohl nicht zwingender) intertextueller Signale aufgestellten Eckpfeiler genannt: Abfassungszeit der Oppian’schen Halieutica (176-180 n.Chr.) als terminus post quem, Triphiodors Iliou Halosis (ca. 400 n.Chr.) als terminus ante quem. Etwas zu opimistisch ist jedoch Lelli m.E. mit Blick auf die sog. visio Dorothei ( Pap. Bodm. 29), deren Sphragis (τέλος τῆς ὁράσεως Δωροθέου Κυίντου ποιητοῦ) man mangels besserer Evidenz dergestalt ausgeschlachtet hat, dass Quintus – ein paganer Dichter – der Vater eines christlichen Autors namens Dorotheos gewesen sei, und dieser Dorotheos sei möglicherweise mit einem von Eusebios ( Hist. Eccl. 7,32,2-3) genannten Christen desselben Namens identisch. Zusammenfassend betrachtet, bieten jedoch alle diese Annahmen nur eine recht schwache Indizienbeweiskette für eine konkrete Identifizierung dieses Κύιντος mit ‘unserem’ Quintus, da weder der genannte Dorotheos noch dessen Vater Κύιντος eindeutig zuzuordnen sind.
Das zweite und längste Kapitel der Einleitung (S. XXII-LVI) befasst sich – streckenweise sehr detailreich – mit der viel diskutierten Frage nach den ‘Quellen’ und ‘Vorbildern’ der Posthomerica. Richtigerweise wird dabei deutlich gemacht, dass nebst den homerischen Epen auch die alexandrinische Epik (Apollonios Rhodios’ Argonautica) sowie – zumindest fallweise – die klassische Tragödie wichtige Bezugsräume für die Posthomerica darstellen. In hohem Maße problematisch ist jedoch m.E. Lellis überaus optimistische (und positivistische) Sicht auf die Gedichte des sog. Epischen Zyklus: Die Frage, ob Quintus den Epischen Zyklus (welcher, nota bene, mitnichten ein einheitliches und zusammenhängendes Werk ist, sondern eine nur undeutlich fassbare und letztlich auch unzureichend definierte Sammelbezeichnung für verschiedene disparate Hexametergedichte im Dunstkreis der homerischen Epen darstellt) ‘noch’ gekannt und, falls ja, ob und inwieweit er diesen ‘verwendet’ und ‘verwertet’ habe, ist seit der Fundamentalkritik durch Hermann Köchly ein dorniges Problem der Quintusforschung.2 Grundsätzlich ist jedoch zu sagen, dass unsere Kenntnisse des Epischen Zyklus zu ungenau und zu schemenhaft sind, als dass gesicherte Aussagen in die eine oder andere Richtung möglich wären; unberücksichtigt bleiben ferner auch Grundsatzüberlegungen bezüglich der möglichen und denkbaren Transformationsprozesse über die Jahrhunderte, die zwischen der Entstehungszeit des Zyklus und der Posthomerica liegen, sowie Fragen betreffend der poetischen Eigenständigkeit des Quintus und seiner intertextuellen Wirkungsabsichten. In der Summe ist somit sowohl Lellis Annahme, dass “Quinto Smirneo si serve dei poemi del Ciclo relativi all’impresa troiana” (S. XXIV), als auch seine affirmative Behauptung “[s]embra […] possibile delineare un approccio sfaccettato da parte di Quinto al materiale mitico dei poemi del ciclo troiano” (S. XXIX) zumindest als zu einseitig, wenn nicht – in dieser Schärfe – schlichtweg als verfehlt zu bezeichnen.3
Auf Bemerkungen zu Sprache und Stil (S. LVII-LXVII) sowie Metrik (S. LXVIII-LXXVI) folgt ein kurzes Kapitel zur Frage nach der Verortung der Posthomerica im Kontext ihrer Zeit, d.h. der sog. Zweiten Sophistik (S. LXXVI-LXXIX) – ein Themenbereich, der erst in der jüngeren Quintusforschung Beachtung gefunden hat und von Lelli nach einem kurzen Referat möglicher Bezugspunkte (m.E. vorschnell) als wenig ergiebig abgehakt wird (“[i]l rapporto di Quinto con la Seconda sofistica […] non sembra organico, e in ogni caso il poeta non sembra esser stato fautore di quello sperimentalismo propugnato dai protagonisti del movimento letterario”, S. LXXVIII-LXXIX). Die Einleitung wird sodann beendet von zwei abschließenden Kapiteln zur handschriftlichen Überlieferung der Posthomerica (S. LXXIX-LXXXIII) und zur Wiederentdeckung und Rezeption des Epos in der Neuzeit (S. LXXXIV-LXXXVIII). Ersteres fasst die Ergebnisse von Vians umfassender Studie zur Manuskripttradition der Posthomerica aus dem Jahre 1959 zusammen;4 in Letzterem ist besonders die selektive Zusammenstellung von Übersetzungen aus dem 19. und 20. Jh. von Interesse – hinzuzufügen wären hier etwa noch die hexametrische Übersetzung ins Deutsche von Platz (1857-58), die neben derjenigen von Donner (1866) unerwähnt bleibt, sowie die jüngst erschienene Prosaverdeutschung von Gärtner (2010); außerdem bspw. auch die englischen Fassungen von Way (1913) und Combellack (1968).5
Was den griechischen Originaltext betrifft, so hat Lelli einen eigenen kritischen Text erstellt, der die bis heute maßgebende Ausgabe von Vian (1963-69)6 zwar nicht ersetzt (zumal die Abweichungen von Vian aufs Gesamte besehen nicht allzu signifikant sind), diese jedoch komplementiert und insbesondere dank des schlanken, auf das Notwendige reduzierten und benutzerfreundlich gestalteten textkritischen Apparats eine valable Alternative zu Vians Budé-Text bietet, der – allen sonstigen Meriten zum Trotz – mit seinem streckenweise überbordend-überausführlichen Apparat abschreckend wirken, ja ggf. gar die Sicht auf das Wesentliche verstellen mag. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Rezensent nicht mit sämtlichen Textentscheidungen des Herausgebers konform geht; eine ausführliche Diskussion ist hier jedoch allein schon aus Platzgründen nicht möglich. Stellvertretend sei ein Beispiel herausgegriffen: Am Ende von Vers 9 des 1. Buches wird die Lesart des Hydruntinus (H) ἀπέταμνε κάρηνα derjenigen des Subarchetypus (Y) ἀπὸ θυμὸν ἴαψε vorgezogen, obschon bereits vor bald 140 Jahren Albert Zimmermann in ἀπέταμνε κάρηνα eine in den Text gerutschte Glosse für den wohl unverstandenen originalen Wortlaut ἀπὸ θυμὸν ἴαψε erkannte,7 und obschon der Rezensent meint, in seiner eigenen Forschungsarbeit deutlich gezeigt zu haben, dass mit ἀπὸ θυμὸν ἴαψε intertextuell auf das Ilias -Proömium verwiesen wird ( Il. 1,3 πολλὰς δ ̓ ἰφθίμους ψυχὰς ῎Αιδι προΐαψεν), wodurch einerseits der enge Anschluss der Posthomerica an die Ilias hervorgehoben wird und andererseits indirekt ein metatextueller Kommentar bezüglich des in den Posthomerica programmatisch fehlenden Initialproömiums zustande kommt, so dass die Lesart ἀπέταμνε κάρηνα mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als nicht ursprünglich erwiesen werden kann.8
Übersetzung und Anmerkungen wurden von einer von Lelli geleiteten und koordinierten studentischen Arbeits- und Forschungsgruppe erarbeitet und erstellt, wobei je ein Buch von jeweils einer Person übernommen wurde.9 Das Resultat ist eine (auch für einen des Italienischen nicht muttersprachlich Mächtigen wie den Schreibenden) angenehm und flüssig lesbare Prosaübersetzung, die auf eine metrische Übertragung zwar verzichtet, das hexametrische Original jedoch in der Darstellung mittels Zeilenumbrüchen nach jedem ‘Vers’ optisch hervorruft.10 Aufgrund der Musikalität der italienischen Sprache entsteht somit eine Art rhythmischer Prosa, welche die Poetizität des Originals einfängt, ohne aber die bei einer ‘echten’ Hexameterübertragung sich ergebenden Probleme in Kauf nehmen zu müssen. Positiv hervorzuheben sind schließlich auch die benutzerfreundlichen Zwischenüberschriften im italienischen Teil, die den Text in Sinneinheiten gliedern und so dem Leser eine problemlose Groborientierung im narrativen Ablauf ermöglichen.
Der Anmerkungsteil geht mit seinen gesamthaft 245 Seiten (S. 675–889) stellenweise deutlich über den Umfang herkömmlicher ‘Noten’ hinaus; die Entwicklung zum full scale commentary ist an manchen Stellen klar angelegt. Eine gewisse Unausgewogenheit ergibt sich – so ist zu vermuten – aufgrund der pro Buch verschiedenen Autoren/Bearbeiter: so zum einen mit Bezug darauf, was kommentiert wird, und wie; zum anderen auch hinsichtlich des Umfangs – bspw. umfassen die Anmerkungen zu Buch 7 (504 Verse) sieben, diejenigen zu Buch 8 (546 Verse) aber 28 Seiten. Positiv herauszuheben – und höher als die genannte Unausgeglichenheit zu gewichten – ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass Lelli als Leiter und Koordinator des Gesamtprojekts seinen studentischen Mitarbeitern ein hohes Maß an Eigenständigkeit bei der Gestaltung ihrer Anmerkungsteile (auf welche im Detail einzugehen an dieser Stelle nicht möglich ist) gegeben hat.
Die von Valentina Zanusso äußerst sorgfältig zusammengestellte Bibliographie (S. 893-926) deckt die Forschungsliteratur zu den Posthomerica der vergangenen zweihundert Jahre nahezu vollständig ab und bietet somit ein wichtiges Arbeitsinstrument für jeden, der sich mit diesem Epos befassen will.11 Gleiches gilt für das von Graziamaria Gagliarde und Valentina Zanusso besorgte Personennamenverzeichnis (S. 927-948). Lellis Editions-, Übersetzungs- und Kommentierungsprojekt kann somit in der Summe als voller Erfolg bezeichnet werden. Trotz der o.g. Schwächen in der Einleitung und trotz einer gewissen quantitativen Unausgewogenheit im Anmerkungsteil überwiegt das positive Gesamturteil; es bleibt zu hoffen, dass es in Zukunft öfters Gemeinschaftsprojekte ähnlicher Art geben wird – gerade so grundlegende ‘Knochenarbeit’, wie sie Edieren, Übersetzen und Kommentieren nun einmal sind, kann davon m.E. nur profitieren.
Notes
1. Francis Vian (Hrsg., Übers., Komm.), Quintus de Smyrne. La suite d’Homère, Paris (1963-69) (3 Bände); Francisco A. García Romero (Übers., Komm.), Quinto de Esmirna. Posthoméricas, Madrid (1997); Alan James (Übers., Komm.), Quintus of Smyrna. The Trojan Epic. Posthomerica, Baltimore/London (2004); Ursula Gärtner (Hrsg., Übers., Komm.), Quintus von Smyrna. Der Untergang Trojas, Darmstadt (2010) (2 Bände).
2. Hermann Köchly (Hrsg., Komm.), Κοΐντου τὰ μεθ’ ῞Ομηρον. Quinti Smyrnaei Posthomericorum libri XIV, Leipzig (1850) VIII-XXXII.
3. Selbst Vian, der in den Noten zu seiner Posthomerica -Ausgabe (s.o. Anm. 1) jeder noch so kleinen Möglichkeit einer Nachwirkung des Zyklus nachspürt, kommt aufs Gesamte gesehen zu einer negativen Schlussfolgerung (Vian [1963] XVIII): “Ce n’est pas […] aux Cycliques que Quintus a emprunté directement la trame de son récit ; il ne semble même pas les avoir connus […].”
4. Francis Vian, Histoire de la tradition manuscrite de Quintus de Smyrne, Paris (1959).
5. Christian Friedrich Platz (Übers.), Quintus von Smyrna, Stuttgart (1857-58) (3 Bände); Johann Jakob Christian Donner (Übers.), Die Fortsetzung der Ilias. Deutsch in der Versart der Urschrift, Stuttgart (1866); Gärtner (2010) (s.o. Anm. 1); Arthur S. Way (Hrsg., Übers.), Quintus Smyrnaeus. The Fall of Troy, London/New York (1913); Frederick M. Combellack (Übers., Komm.), The War at Troy. What Homer Didn’t Tell. By Quintus of Smyrna, Norman OK (1968).
6. S.o. Anm. 1. – Die Ausgabe von Giuseppe Pompella (Hrsg.), Quinti Smyrnaei Posthomerica, Hildesheim/Zürich/New York (2002), hat sich nicht durchgesetzt.
7. Albert Zimmermann, “Zu des Quintus Smyrnaeus Posthomerica ”, in: Jahrbücher für classische Philologie 31 (1985) 41-58: 42-43.
8. Silvio Bär, Quintus Smyrnaeus. »Posthomerica« 1. Die Wiedergeburt des Epos aus dem Geiste der Amazonomachie. Mit einem Kommentar zu den Versen 1–219, Göttingen (2009) 160-161.
9. 1. Buch: Nicoletta Canzio – 2. Buch: Shanna Rossi – 3. Buch: Cristiana Bernaschi – 4. Buch: Enrico Cerroni – 5. Buch: Graziamaria Gagliarde – 6. Buch: Lorenzo Bergerard – 7. Buch: Daniele Mazza – 8. Buch: Enrico Maria Polizzano – 9. Buch: Valentina Zanusso – 10. Buch: Eleonora Mazzotti – 11. Buch: Antonio Nastasi – 12. Buch: Lorenzo Ciolfi – 13. Buch: Antonio Nastasi – 14. Buch: Bruna Capuzza.
10. Nach einem vergleichbaren Prinzip verfahren auch die Übersetzungen von James (2004) und Gärtner (2010) (s.o. Anm. 1.).
11. Nur wenige Titel sind dem Rezensenten bei einer kursorischen Durchsicht aufgefallen, die noch zu ergänzen wären: So etwa Martine P. Cuypers, in: Mnemosyne 58 (2005) 605-613: Rezension von: Alan James/Kevin Lee, A Commentary on Quintus of Smyrna, Posthomerica V, Leiden/Boston/Köln (2000) (wichtig u.a. wegen weiterführender Überlegungen zu Intertextualitäts- und Quellenfragen); Thomas Gärtner, “Die Tragödie Pentesilea des polnischen Humanisten Szymon Szymonowic im Vergleich zu den Posthomerica des Quintus von Smyrna”, in: Eos 97 (2010) 277-287; Hermann Kleinknecht, “Laokoon”, in: Hermes 79 (1944) 66-111; Calum Maciver, “Reading Helen’s Excuses in Quintus Smyrnaeus’ Posthomerica ”, in: CQ 61 (2011) 690- 703; ders., “Representative Bees in Quintus Smyrnaeus’ Posthomerica ”, in: CPh 107 (2012) 53-69; ders., “Flyte of Odysseus: Allusion and the Hoplōn Krisis in Quintus Smyrnaeus’ Posthomerica ”, in: AJPh 133 (2012) 601-628; Melvin White Mansur, The Treatment of Homeric Characters by Quintus of Smyrna, New York (1940); Ferdinand Noack, in: GGA 1/20 (1892) 769-812: Rezension von: Franz Kehmptzow, De Quinti Smyrnaei fontibus ac mythopoeia, Kiel (1891) (wichtig wegen zahlreicher eigenständiger Hypothesen zur Quellenfrage).