BMCR 2014.03.45

Social Conflict in the Age of Justinian: Its Nature, Management, and Mediation

, Social Conflict in the Age of Justinian: Its Nature, Management, and Mediation. Oxford; New York: Oxford University Press, 2013. xvii, 393. ISBN 9780199567331. $150.00.

Peter Bell ist im Jahr 2009 mit einer englischen Übersetzung dreier Schriften, die für das politische Denken im 6. Jahrhundert stehen, hervorgetreten (Agapets Ratschläge an Justinian, das Dialogfragment Peri politikes epistemes und die Ekphrasis der Hagia Sophia des Paulos Silentiarios).1 Die fundierte Einleitung, die er den Texten vorangestellt hatte, basierte bereits auf den Ergebnissen seiner Dissertationsschrift über ‚Social Conflict in the Age of Justinian‘, die nunmehr auch in gedruckter Form vorliegt.

Das Buch behandelt eine größere Menge an Einzelthemen, die unter der Überschrift „social conflict“ zusammengefasst werden: Soziale Konflikte im engeren Sinne (die prekäre Situation der Landbevölkerung, insbesondere der coloni, Stadt-Land-Gegensätze, Patronage), ferner Konflikte im Zusammenhang der Zirkusgruppen sowie religiöse Kontroversen und schließlich „ideologische Konflikte“, die sich für den Verfasser vor allem aus den Folgen der reichsweiten und konsequenten Durchsetzung einer christlichen „Leitideologie“ ergaben. Angesichts dieses breiten Zugriffs verwundert es kaum, dass Bell auch zeitlich weit ausgreift: Zwar steht im Zentrum der Darstellung die Herrschaftszeit Justinians (die abschließend in Phasen eingeteilt wird, vgl. 306-310), aber größere Exkurse greifen mehrfach zurück bis in das 4. oder voraus bis in das 7. Jahrhundert.

Der erste Hauptabschnitt der Untersuchung (1-48) ist dem theoretisch-methodischen Konzept gewidmet. Der Verfasser, dessen Ziel darin besteht, „range, complexity, and scale“ der Konflikte innerhalb des Imperium Romanum zu analysieren (4), wartet zunächst mit einem Axiom auf, das zutiefst thukydideisch anmutet: „More controversially, we [. . .] need the [. . .] assumption of a broadly constant human nature over at least historical time“ (28). Damit schafft Bell die Voraussetzung für die Anwendung eines seiner wichtigsten Analyseinstrumente: des übergreifenden historischen Vergleichs, der wiederum vor allem auf eigenen Erfahrungen beruht, die der ehemalige Diplomat während seiner Aufenthalte im Libanon, in Ghana und vor allem in Nordirland gesammelt hat. Daneben ist seine Arbeitsweise stark vom Rückgriff auf klassische Sozialtheorien geprägt, namentlich jenen von Émile Durkheim und Karl Marx (36), auf dessen Konzepte von Klassenkonflikten Bell ganz undogmatisch zurückgreifen möchte: „My approach will [. . .] try and combine the best of the historical-materialist and other traditions in a non-dogmatic way“ (40). Die methodischen Schwierigkeiten, die sich aus der Analyse einer weitgehend auf Status-Zuweisungen basierenden Gesellschaft in Klassenkategorien ergeben, werden in einem separaten Abschnitt reflektiert (40-47).

Ausgehend von der Tatsache, dass die meisten Ressourcen, auf die die römische Administration zurückgreifen konnte, aus der Landwirtschaft stammten, dass diese über Steuern und Abgaben eingezogen wurden, dass letztere vor allem die unteren Schichten überproportional belasteten und dass diese in hohem Maße verwundbar waren durch kurzfristige Veränderungen der Ausgangsbedingungen (Klimaschwankungen, Ernteausfälle, Heuschreckenplagen, Krankheiten) (53-62, 88), versucht der Autor ein Modell sozialer Beziehungen auf dem Land zu entwerfen, das der Komplexität der realen Lebensbedingungen möglichst nahe kommt. Eine zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den coloni zu, denen ein längerer Abschnitt gewidmet ist, in dem Bell die Forschungsproblematik skizziert und darauf hinweist, dass trotz der Heterogenität all jener Gruppen, die zumeist unscharf als coloni bzw. adscripticii bezeichnet werden, zumindest so viel sicher sei, dass die Situation der Landbevölkerung sich im 6. Jahrhundert deutlich verschlechtert habe; viele als coloni bezeichnete Personen seien, auch wenn die Gesetzgebung sie in verschiedener Weise zu schützen versuchte, faktisch nicht mehr von Sklaven zu unterscheiden gewesen (68-82, bes. 79f.): „Thus, in class terms, we might regard a colonus as an (‚ideal‘) type of (low-status) worker playing a fundamental economic role, whether as wage labourer or tenant, and recognize that this class might include members of several status groups, including technically free peasant farmers under the power of a powerful patron, or slaves ( paidaria), whose continuing importance the law texts (and especially the papyri) reveal“.

Die Landbevölkerung stellte somit zum einen das wichtigste Objekt ökonomischer Ressourcenabschöpfung dar, genoss andererseits aber auch ein gewisses Maß an Sicherheit (gesetzliche Regelungen, Patronage, bestimmte Vorrechte). Barg diese Konstellation bereits für sich ein hohes Konfliktpotential, so wurde dieses durch die auf Gold basierende Geldwirtschaft, die besonders seit Anastasios einen Aufschwung erfuhr, noch zusätzlich erhöht. Denn mit der Forcierung der Münzwirtschaft ging – so Bell – ein „effective takeover of local government, not least in respect of tax assessment and collection“ einher (90). Der Besitz von Goldmünzen habe die Beziehungen zwischen Armen und Reichen ganz wesentlich strukturiert, politisch seien jene gestärkt worden, die vom Besitz von Goldmünzen profitieren konnten, d.h. vor allem wohlhabende Landbesitzer; adaeratio und coemptio hätten der illegalen Bereicherung Tür und Tor geöffnet (90-92). „In short, there is little in the evidence to deny in our period the existence of ‚a fundamental antagonism . . . the powerful on one side and the weak on the other‘“ (93). „‘Multidimensional’ conflicts“ seien die Folge gewesen, häufig in Verbindung mit Gewaltakten (100). Bell interpretiert u.a. die Provinzialgesetzgebung der 530er Jahre als Versuch, der zunehmend chaotischen Lage auf dem Land wieder Herr zu werden (103-105). Die Konfliktlinien seien hingegen vielfältig gewesen, da wohlhabende Grundbesitzer häufig mit marodierenden Banden gegen staatliche Amtsträger kooperiert hätten (110).

Die religiösen bzw. kirchenpolitischen Differenzen und die von den Zirkusgruppen provozierten Ausschreitungen werden von Bell gemeinsam behandelt, da er – nunmehr auf Basis sozialpsychologischer Theorien zum Verhalten von Gruppen – in beiden Konfliktfeldern deutliche Parallelen sieht (134-136, 189): Die Zugehörigkeit zu einer Zirkusfaktion oder einer religiösen Gruppe habe emotionale Bedürfnisse befriedigt und kanalisiert, schichtenspezifische Unterschiede eingeebnet, dadurch eine besondere Form sozialer Mobilität ermöglicht und insofern die aus den scharfen sozialen Unterschieden im Imperium Romanum erwachsenen Konfliktpotentiale eingehegt (149, 151f., 209). Einmal mehr geht der Autor, um seine Resultate zu begründen, von der Annahme anthropologischer Konstanten aus (vgl. 139, 209). Bei den theologischen Auseinandersetzungen interessieren ihn weniger die Inhalte, die er gar als „hair-splitting“ charakterisiert (162), als vielmehr ihre gruppenpsychologischen und damit in weiterem Sinne politischen Aspekte (150-152, 169, 185): Gruppenbildungen und die Konstruktion scharf nach außen abgegrenzter Gruppenidentitäten hätten sowohl bei den Zirkusfaktionen als auch im religiösen Bereich zur Verschärfung und Perpetuierung von Konflikten beigetragen, für deren Persistenz es sachlich eigentlich kaum Gründe gegeben habe – hier greift Bell einmal mehr auf seine Erfahrungen im Nordirlandkonflikt zurück (161-163). Politische Interessen einzelner, gut vernetzter Individuen hätten das Gruppenverhalten bestimmt und nachhaltig politisiert (138); insbesondere den Zirkusgruppen möchte Bell einen höheren Grad an Politisierung zuweisen, als es die Forschung seit Alan Cameron getan hat (vgl. 143-145, 158), freilich mit ambivalenten Auswirkungen: Ein hohes Gewaltpotential, wie es vor allem bei jungen Männern (aus unterschiedlichen Schichten) anzutreffen ist, konnte durch ritualisiertes Gruppenverhalten (z.B. Akklamationen im Hippodrom) kanalisiert und somit eingehegt werden; die Tatsache, dass Zirkusgruppen in allen größeren Städten des Reiches auftraten, schuf übergreifende Identitäten und ließ sich von den Kaisern und ihren Amtsträgern instrumentalisieren (u.a. als Gegengewichte gegen allzu mächtige lokale Magnaten); die Aktivitäten der Zirkusgruppen leisteten damit – so Bell – einen wesentlichen Anteil an der Stabilität der inneren Verhältnisse (vgl. 150f., 156, 159f.). Andererseits kam es immer wieder zu Gewaltausbrüchen, die kaum kontrollierbar waren und damit auch für Gefahr sorgten. Vollends dysfunktional gestalteten sich in den Augen des Verfassers die theologischen bzw. kirchenpolitischen Konflikte, weil die Kaiser aus ihnen kaum Nutzen zu ziehen vermochten, sondern einen großen Teil ihrer Energie auf ihre Lösung verwenden mussten (175f., 192-195), die jedoch aus strukturellen Gründen nicht möglich war.

Den „ideological conflicts“ im 6. Jahrhundert ist der letzte Hauptteil des Buches gewidmet. Die Ausführungen des Verfassers basieren dabei auf einem sehr weit gefassten Ideologie-Begriff (auch wenn ein solcher für die Antike allgemein nicht unproblematisch ist; vgl. 214-217). Im Kern geht es darum, dass Bell das Imperium Romanum im 6. Jahrhundert von einer christlichen Leitideologie („hegemonic ideology“, 217) geprägt sieht, die in Auseinandersetzung mit den Residuen der paganen Kultur sowie aufgrund innerchristlicher Kontroversen wiederholt Konflikte heraufbeschworen habe. Grundsätzlich sieht Bell die Persistenz paganer Reste im 6. Jahrhundert stark unterschätzt, was er an einer Reihe von Beispielen aus dem gesamten östlichen Mittelmeerraum deutlich zu machen sucht (235-246). Vor allem in den städtischen Oberschichten sei der traditionelle „hellenism“ noch weit verbreitet gewesen (Beispiel: Antiochia [229-233], aber auch Alexandria [244]); da jedoch im christlichen Imperium der traditionellen paideia immer weniger Bedeutung zugekommen sei, hätten sich neue Konfliktpotentiale ergeben (262), auch wenn einige gebildete Angehörige der Oberschicht sich den Verhältnissen gefügt und – wie etwa Johannes Malalas – einen friedlichen Ausgleich zwischen den einzelnen Gruppen für möglich gehalten hätten. Bemerkenswert ist, dass Bell im Christentum eine Formation sieht, die traditionelle Strukturen fortgeschrieben und damit soziale Ungleichheiten und daraus resultierende Konfliktpotentiale konserviert, gleichzeitig aber Veränderungen innerhalb der das Reich strukturierenden Machtverhältnisse beschleunigt habe: „The Christian ideology thus legitimized, exploited, and furthered the changes in the power structures of urban life that had hitherto constituted the foundation both of the empire and the traditional Pagan religion at the core of its cultural life“ (265).

All diese Überlegungen führen schließlich auf eine Diskussion der Rolle des Kaisers unter dem besonderen Gesichtspunkt seiner Legitimation. Zu Recht hebt der Verfasser Furcht („fear“) als zentrales Element der Ordnungsstiftung im 6. Jahrhundert hervor (270-272). Dass Justinian ein unverkennbares Legitimationsproblem hatte, wird schlüssig aufgezeigt. Es führte zu einer strukturellen Kaiserkritik und Unzufriedenheit („‘nexus of dissatisfaction’“), gegen die Justinian sich Bell zufolge mit drei unterschiedlichen Strategien zur Wehr setzte: Zum einen ließ er permanent die hierarchischen Strukturen, die seiner Stellung zugrundelagen und als göttlich gegeben galten, diskursiv präsentieren (Reflexe davon etwa bei Agapet oder im Traktat Peri politikes epistemes), zum anderen sei die Gesetzgebung als Ausdruck einer legalen Herrschaft intensiviert worden (296f.), und schließlich habe der Kaiser eine Art Bündnis mit der Kirche bzw. den Bischöfen zur Aufrechterhaltung der Herrschaftsstrukturen geschlossen (297). In diesen Kontext ordnet Bell auch die Sakralisierung des Kaisertums im 6. Jahrhundert ein (299-303).

Ein gesondertes Kapitel über die Hagia Sophia als Produkt inneraristokratischer Rivalitäten (Anicia Iuliana), als Ausgleichsangebot gegenüber den Miaphysiten – als „ideology in stone“ – schließt das Buch ab (319-336).

Bells Monographie umspannt einen weiten thematischen Rahmen. Es verhandelt mit den ökonomischen Grundlagen des Reiches, den religiösen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen, der Rolle der Zirkusgruppen, dem Verhältnis von Christen und Altgläubigen sowie der Rolle des Kaisers ein Bündel von Themen, die für die Erfassung des 6. Jahrhunderts zentral sind. Ob sie alle sich schlüssig unter das Stichwort des „social conflict“ subsumieren lassen, bleibt indes fraglich. Schon im Kapitel über die sozialen Spannungen fällt auf, dass der Autor große Mühe damit hat, konkrete Beispiele für seine Thesen – die Entstehung vielfacher Konflikte aus sozialen Spannungen heraus – beizubringen; vieles muss aus vereinzelten Zeugnissen heraus verallgemeinert, indirekt erschlossen oder gar schlicht postuliert werden. Wenn Bell etwa darauf hinweist, dass für die Zeit vom 4. bis in das 7. Jahrhundert reichsweit etwa 80 „urban riots“ bezeugt seien (113), so muss dieser Befund keineswegs im Sinne eines erhöhten sozialen Sprengpotentials gedeutet werden; Aufstände in spätantiken Städten konnten bekanntlich aus ganz unterschiedlichen Ursachen resultieren. Bei der Behandlung der religiösen Konflikte erweist sich der gruppenpsychologische Zugang, der es erlaubt, Parallelen zu den Unruhen im Kontext der Zirkusgruppen herauszuarbeiten, als erfrischend und hilfreich; er wird jedoch durch eine markante Betonung politischer Konnotationen gegenüber theologischen Inhalten und Überzeugungen erkauft; gerade im 6. Jahrhundert scheint indes der Religion tatsächlich eine zunehmende Bedeutung im Alltag zugekommen zu sein.

Dessen ungeachtet hat Peter Bell eine eindrucksvolle Gesamtschau der komplexen Konfliktlinien, die das Oströmische Reich im 6. Jahrhundert mit geprägt haben, vorgelegt. Das Buch besticht durch eine hervorragende Quellenkenntnis und methodische Stringenz. Es wird in den Diskussionen über das ‚Zeitalter Justinians‘ sicherlich eine wichtige Rolle spielen.

Notes

1. Three Political Voices from the Age of Justinian. Agapetus, Advice to the Emperor – Dialogue on Political Science – Paul the Silentiary, Description of Hagia Sophia. Translated with Notes and an Introduction by P. B. Bell, Liverpool 2009.