BMCR 2014.01.56

Myth, Truth, and Narrative in Herodotus

, , Myth, Truth, and Narrative in Herodotus. Oxford; New York: Oxford University Press, 2012. xi, 370. ISBN 9780199693979. $150.00.

Inhaltsverzeichnis

Der um zwei Beiträge erweiterte Band einer Oxforder Tagung von 2007 stellt mit der Fokussierung auf den Mythos in Verbindung mit der Frage nach der Historizität (“truth“), die vor allem Gegenstand der älteren Forschung war, und mit den immer wieder untersuchten Erzählstrategien eine relativ neue Entwicklung in der Herodotforschung dar.

In der Einleitung (“Myth, truth, and narrative in Herodotus“, S. 1-56) äußern die beiden Herausgeber die von allen Autoren geteilte These, daß Herodot das mythische Material nicht als “almost accidental remnant of an archaic mode of storytelling that undermined the work’s historical value“ (S. 9), sondern wegen seines Modellcharakters als wichtigen Schlüssel zur Deutung nicht nur vergangener, sondern auch gegenwärtiger Ereignisse und zur bewußten Lenkung der Rezeption “by enabling readers to contextualize recent history against the background of what is already familiar“ verwende (S. 45). Beim Versuch einer Definition von ‘Mythos’ müssen sie allerdings vom negativen Befund ausgehen, daß Herodot selbst den Begriff μῦθος nur zweimal (Hdt. 2,23; 2,45,1) verwendet, um einen unglaubwürdigen, nicht nachprüfbaren Bericht zu bezeichnen (S. 13). Daher sind sie gezwungen, auf eine moderne Definition zurückzugreifen (S. 17f.), gemäß der ein Mythos vornehmlich von Göttern und Heroen handelt, einen traditionellen, nicht von einem einzelnen Autor geschaffenen Kern und eine kollektive Bedeutung für eine bestimmte soziale Gruppe besitzt.1

Daß aber diese Definition für Herodot problematisch ist, zeigt C. Dewald (“Myth and Legend in Herodotus’ First Book“, S. 59-85), die zum mythischen Material auch Genealogien, Erzählungen von Wundern und traditionelle Geschichten zählt (S. 60). Trotz Herodots Beschränkung im Einleitungssatz auf den Bereich der Menschen und der in der Frauenraubgeschichte offensichtlich gemachten Unterscheidung “between what we modern readers would call myth and what we would call history“ (S. 65), beweisen im ersten Buch z.B. die Gyges-Geschichte, Genealogien und aitiologische Mythen, daß Herodot nicht immer klar bestimmt, “what relation he wants to establish between the world of ancient story —heroic myth and legend—and the genomena ex anthrōpōn, the ordinary human world of politics, sociology and anthropology“ (S. 67).

Eine entscheidende Rolle für Herodots Umgang mit dem Mythos spielt in den folgenden vier Aufsätzen die Behandlung des Troia-Mythos: S. Saïd (“Herodotus and the ‘Myth’ of the Trojan War“, S. 87-105) beginnt mit der richtigen Feststellung, daß Herodot diesen weder als Mythos bezeichnet noch kategorisch von der übrigen Geschichte trennt, sondern ihn nur bezüglich der Möglichkeit, die Fakten zu erkennen, von späteren Perioden unterscheidet (S. 88f.). Nicht nur Herodot selbst im Ägyptenlogos (Hdt. 2,112-120), sondern auch andere Figuren (als sekundäre Fokalisatoren) verwenden diesen Mythos in ihrer Argumentation (etwa die griechischen Gesandten in Syrakus [Hdt. 7,159; 7,161] oder die Athener und Tegeaten [Hdt. 9,26f.]). M. de Bakker (“Herodotus’ Proteus: Myth, History, Inquiry and Storytelling“, S. 107-126) glaubt, daß Herodot beim Porträt des aus der Odyssee bekannten Proteus eine in Ägypten gehörte Tradition überarbeitet habe, um die Vorteile seiner historischen Methode vorzuführen und “to contextualize the stories that the Greeks had so far only inherited in mythological form“ (S. 112). Während im übrigen Ägyptenlogos die oratio obliqua “indicates that he presents akoē-based information“, diene hier die oratio recta dazu, Herodots Autorität als Erzähler zu untermauern (S. 125), was aber mangels Parallelen nicht ganz einleuchtet, zumal die direkte Rede in der Regel durch ihre dramatische Unmittelbarkeit die Wirkung auf die Rezipienten eher verstärkt.2 Dagegen beruht für I. de Jong (“The Helen logos and Herodotus’ Fingerprint“, S. 127-142) die Glaubwürdigkeit der Erzählung im Gebrauch des historischen Präsens, das sie als Augenzeugenbericht ausweist (S. 132). Methodologisch macht Herodot die ägyptische Priesterschaft zu seinem alter ego, wobei es die ἱστορίη-Methode möglich macht, auf dieselbe Weise die ferne mythische und die nähere Vergangenheit zu untersuchen (S. 137). E. Vandiver (“‘Strangers are from Zeus’: Homeric Xenia at the Courts of Proteus and Croesus“, S. 143-166) untersucht das Konzept der Gastfreundschaft (ξενία), das sie für homerisch (S. 145) hält, in zwei Episoden. Wie schon Saïd (S. 105) und de Jong (S. 140) glaubt sie, daß der Krieg und die Zerstörung Troias für Herodot ein Paradigma dafür seien, daß das Unrecht, hier der Bruch der Gastfreundschaft, von den Göttern geahndet werde. Das Problem aber, daß nur Paris, nicht aber Menelaos, der mit der Opferung zweier Ägypter ebenso gegen die Gastfreundschaft verstoßen hat, bestraft wird, kann sie nicht befriedigend erklären: “Divine retribution for Greek misdeeds in and after the Trojan War was not his main topic, but a demonstration of the inevitability of divine retribution for the transgressions of non-Greek monarchs“ (S. 155). Ebenso macht ihrer Meinung nach das Motiv der Gastfreundschaft die Geschichte von Kroisos, Adrastos und Atys zu einem Paradigma für die Perserkriege (S. 165), doch leuchten nicht alle angeführten Parallelen ein, etwa, daß Paris, Kroisos und Xerxes dasselbe Überlegenheitsgefühl, vor der göttlichen Strafe immun zu sein, besitzen.

Die Tatsache, daß sich bei Herodot die Geschichte des Melampus, mit der als Analogon die Erpressung des Sehers Teisamenos erklärt wird (Hdt. 9,34), grundlegend von derjenigen der Odyssee oder Pindars unterscheidet, ist für V.J. Gray (“Herodotus on Melampus“, S. 167-191) ein Indiz dafür, daß Herodot wie ein Dichter diese Figur gemäß seinen schriftstellerischen Absichten geformt hat (S. 178). Zusätzlich wird Melampus als Kulturbringer (“cultural hero“) eingeführt, wodurch Herodot den Mythos um neue Elemente bereichert.

R. Vignolo Munson (“Herodotus and the Heroic Age: The Case of Minos“, S. 195-212), die glaubt, daß Herodot die Epoche vor dem Troianischen Krieg als teilweise eigengesetzliche Zeit betrachte, analysiert die Figur des Minos, der im 5. Jh. zu rhetorischen und ideologischen Zwecken als Vorläufer des attischen Seereichs gesehen wurde (etwa Thuk. 1,8). Zwar erwähnt ihn Herodot (3,122,2 und 1,171ff.), macht ihn aber im Gegensatz zu Thukydides nicht zum ersten Thalassokrator, sondern wählt dazu Polykrates, der für ihn ein besser dokumentiertes Beispiel ist.

C.C. Chiasson (“Myth and Truth in Herodotus’ Cyrus Logos“, S. 213-232) untersucht die Kyros-Sage, die Herodot mit Hilfe von vor allem aus der Tragödie bekannten Mustern (die Aussetzung, die Rettung durch den Hirten wie bei Oidipus, die Anagnorisis und das Atreusmahl) für ein griechisches Publikum verständlich gemacht habe (S. 214), wobei er sich nicht entscheiden kann, ob Herodot oder seine Quelle die Geschichte so gestaltet hat (S. 222).

R. Thomas (“Herodotus and Eastern Myths and Logoi: Deioces the Mede and Pythius the Lydian“, S. 233-253) glaubt im Einklang mit der altorientalistischen Forschung, daß es sich bei der Tötung von Pythios’ Sohn (Hdt. 7,39,3) in Wirklichkeit um ein apotropäisches Reinigungs-Ritual handelt, das von einer griechischen Zwischenquelle falsch interpretiert und von Herodot neu gedeutet worden sei (S. 242f.). Dasselbe gilt für die Geschichte des Deiokes, die einem zeitgenössischen (sophistischen) Lehrstück über die Gründung einer Tyrannis gleicht; doch schließt sie nicht aus, daß Herodot oder seine Quelle eine orientalische Tradition übernommen und gemäß einem griechischen Modell gedeutet habe (S. 251). Ebenso nimmt P. Vannicelli (“The Mythical Origins of the Medes and the Persians“, S. 255-268) an, daß Herodot orientalische Traditionen über den Ursprung der Meder und Perser (etwa der Achaimeniden) mit Versionen aus dem griechischen Mythos (z.B. Medea, Perseus) in Einklang zu bringen versucht habe.

Gemäß A.M. Bowie (“Mythology and the Expedition of Xerxes“, S. 269-286) betrachtet Herodot in mancherlei Hinsicht den Xerxesfeldzug als “a reprise of the Trojan War and Homer’s account of it“ (S. 271), was an Hand verschiedener Beispiele illustriert wird: Während Xerxes’ Niederlage mit derjenigen der Troianer verglichen wird, sieht Bowie auch im Motiv der wegen der Expedition versiegenden Flüsse wie des Skamandros (Hdt. 7,43,1) eine Parallele zu Il. 21,130ff., wo Achilleus im Kampf diesen zum Stillstand bringt: beide Figuren drohen einer Gottheit bzw. begehen einen Frevel und scheitern später (S. 275f.). Ebenso lasse die kurze Erwähnung der Thetis (Hdt. 7,191,2) beim Sturm bei Sepias wie bei Homer auf einen göttlichen Eingriff schließen (S. 277). Richtig ist die Beobachtung, daß beim Gebrauch mythologischer Exempel durch die griechischen Akteure im Werk (S. 278) nicht einmal der Troia-Mythos panhellenische Einheit, sondern nur Zwietracht stiftet (so untermauern etwa die Athener ihre panhellenische Einstellung nicht mit mythischen Beispielen [Hdt. 8,144]).

E. Baragwanath (“Returning to Troy: Herodotus and the Mythic Discourse of his Own Time“, S. 287-312) untersucht schließlich die Verwendung mythischer Diskurse in den letzten Büchern. Für sie wird etwa Mardonios im Xerxesfeldzug durch den Gebrauch mythischer Kategorien und Paradigmen, die sowohl textimmanent als auch intertextuell (Homer, Aischylos) wirksam sind, charakterisiert (S. 288). Es ist sicherlich richtig, daß Mardonios sich bisweilen wie ein epischer Held gebärdet und als solcher in Plataiai fällt. Ob man aber schon in Mardonios’ Beschreibung Europas (Hdt. 7,5,3 und 7,9,1) “mythic images“ oder in Artabanos’ Gebrauch des Nostos-Motivs ein “negative mythic exemplum“ (S. 296) erkennen kann, ist fraglich, ebenso, ob mit der Angabe, daß die zweite Eroberung Athens (Hdt. 9,3,2) zehn Monate nach der ersten erfolgte, ein intertextueller Bezug zum 10-jährigen Troianischen Krieg gemacht wird (S. 304). Ebenfalls stellt die mit ἵμερος ausgedrückte irrationale Motivation des Mardonios (Hdt, 9,3,1) kaum einen Bezug zum Mythos dar, sondern ist wohl eher Ausdruck einer zeitgenössischen (sophistischen) Affektenlehre.

Ein Verzeichnis der zitierten Sekundärliteratur, ein Stellen- und ein allgemeiner Sachindex schließen den sehr sorgfältig gestalteten Band, der kaum Druckfehler aufweist, (S. 313-370) ab.3

Der in diesem Buch gewählte Ansatz rückt zu Recht anstelle der bisher oft kontrovers und ergebnislos diskutierten Quellenfrage den Gestaltungswillen Herodots als Erzähler in den Vordergrund, auch wenn die Frage, wie sehr er von seinen Quellen beeinflußt worden ist, dadurch nicht geklärt wird (etwa in Bezug auf Figuren wie Proteus [S. 112], Melampus [S. 178] oder Pythios [S. 242]). Es ist durchaus plausibel, daß mythische patterns dazu dienen, “to weave new and exotic material that might otherwise not have been accessible to Greek understanding into the fabric of traditional Greek ways of looking at the past“ (S. 61) und “to make non-Greek events meaningful to a Greek audience, to enhance their importance and emotional impact through association with the primeval age of Greek heroes“ (S. 232). Wie im einzelnen gezeigt, überzeugen indessen nicht alle angeführten Beispiele, zumal viele vermeintlich mythische Handlungsmuster auch mit der historischen Realität übereinstimmen können – irrationale Impulse oder das Rachegefühl sind, wie die historische Erfahrung lehrt, wirksame Faktoren menschlichen Handelns. Daß etwa Kyros’ Motivation vor dem Massagetenfeldzug (Hdt. 1,204) ‘mythisch’ sei (als Mythos der eigenen Unbesiegbarkeit, S. 74 und 227ff.), überzeugt nicht, sondern paßt zu dem von Herodot bei allen Mächtigen beobachteten Muster, daß nach dem Höhepunkt unweigerlich durch Hoch- bzw. Übermut der eigene Fall folgt. Baragwanath hat Recht, wenn sie hinweist auf “the elusive nature of intertextuality, which has an ever-amplifying potential to provoke associations in readers. This potential is in large part out of the historian’s control“ (S. 310); doch müßten dazu die primären Rezipienten des Werks genauer betrachtet werden, was aber im vorliegenden Band nicht geschieht. Die Tatsache sodann, daß sich Herodot meistens von solchen Geschichten (oft ironisch) distanziert, indem er andere Figuren oder Gruppen als Fokalisatoren auftreten läßt, müßte jeweils noch stärker berücksichtigt werden. Schließlich kann die auf den Mythos beschränkte Sicht dazu führen, ein einseitiges Bild Herodots zu entwerfen und Aspekte, die ihn in die Nähe der ionischen Naturwissenschaften und der Philosophie rücken, zu vernachlässigen.

Abgesehen von diesen Kritikpunkten geben die vorliegenden Aufsätze paradigmatisch Einblicke in eine interessante, bisher zu wenig behandelte Thematik und stimulieren den Leser zu weiteren Überlegungen. Auf der Grundlage der hier vorgestellten Ergebnisse wäre eine Monographie, welche die Rolle der mythischen patterns im Zusammen- und Widerspiel mit anderen, vom Historiker eingesetzten (politischen, anthropologischen, philosophischen) Deutungsmustern im Gesamtwerk analysiert und gewichtet, sehr willkommen.

Notes

1. So G.S. Kirk, The Nature Greek Myths, Harmondsworth 1974 und R.G.A. Buxton, Imaginary Greece. The Contexts of Mythology, Cambridge; New York; Melburne 1994. Zu wenig wird jedoch auf die Problematik, daß sich die modernen Ansätze teilweise widersprechen, eingegangen, vgl. dazu den Überblick bei E. Csapo, Theories of Mythology, Malden (MA) 2005.

2. Vgl. auch C. Scardino, Die Rolle der Reden in Herodots Erzählung des Skythenfeldzugs, in: Dennis Pausch (Hg.): Stimmen der Geschichte. Funktion von Reden in der antiken Historiographie, Berlin; New York 2010, 17-43.

3. S. 128 ‘zusammengestellt’ statt ‘zugestellt’ und S. 132, Anm. 20 ‘vordersten’ statt ‘vordesten’.