[The editors apologize to the reviewer and author for the long delay in publishing this review.]
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Freiburger Dissertation aus dem Jahr 2010, die sich mit der dramatischen Erzählkunst des Valerius Flaccus beschäftigt.
Im ersten Kapitel (13–49) entwickelt Sauer den – ganz auf der Poetik des Aristoteles fußenden – Ansatz seiner Untersuchung. Die einschlägigen Kapitel der Poetik werden ausführlich besprochen (1.1), vielleicht ausführlicher, als es für den weiteren Gang von Sauers Untersuchung erforderlich wäre: Von Bedeutung sind eigentlich nur einige wenige Begriffe, vor allem das Dramatische („Handlungsbezogene“), die „vollständige Handlung“, die Hamartia, die Thaumasta und – insbesondere – Anagnorisis und Peripetie (etwas problematisch scheint dagegen der von Sauer gelegentlich verwandte unaristotelische Begriff „Spannung“ – erzeugen z.B. interne Prolepsen für einen den Mythos überblickenden gebildeten Leser tatsächlich Spannung, wie Sauer 98 f. meint?).
Das nächste Unterkapitel (1.2) befasst sich mit der Rezeption von Aristoteles‘ Auffassung von Epik. Hier fühlt sich der Verfasser genötigt, unmittelbaren Einfluß der aristotelischen Poetik in der klassischen lateinischen Dichtung nachzuweisen; er versucht dies vor allem in seinen Ausführungen über die horazische Ars Poetica: In V. 129 empfiehlt er (38 f.) die Aufnahme von diducis statt des deducis der Hauptüberlieferung und versteht diducis in actus im Sinne des aristotelischen ἐπεισοδιοῦν („aufgliedern in Akte bzw. Epeisodia“) – gegen Brink, der deducis in actus einfach als „turn into … dramatic poems“ deutet und damit dem Zusammenhang gerechter wird, wo es um die Wahl des richtigen Stoffes und nicht um bestimmte kompositorische Vorgehensweisen geht. Wirklich notwendig im Rahmen der gesamten Arbeit scheint auch diese Argumentation nicht, da Sauers Ergebnisse auch ohne unmittelbare Aristotelesrezeption in der klassischen Dichtung Gültigkeit beanspruchen könnten.
Noch im Unterkapitel über die Aristotelesrezeption (1.2) kommt Sauer auf den wichtigsten modernen Archegeten seiner Ausführungen zu sprechen, nämlich auf Richard Heinzes Untersuchung über die epische Technik Vergils (41 ff.). Hierbei ergibt sich freilich ein gewisser Widerspruch zur Bewertung des Aristoteles, der bekanntlich Homer als idealen Vertreter der von ihm geforderten dramatischen Erzählweise rühmt, insofern Heinze mehrfach die kompositorischen Qualitäten Vergils gerade im kontrastierenden Gegensatz zu Homer herausstellt. Sauer sucht diesen Widerspruch zu beheben durch den Gedanken, „dass Vergil das, was bei Homer bereits angelegt ist, zur Vollendung führt“ (44). Hier könnte man durchaus etwas konkreter werden und hervorheben, daß Aristoteles Homer rühmt, weil er sich auf ein bestimmtes Thema (etwa den Zorn Achills in der Ilias) beschränkte im Gegensatz zu den Kyklikern, die jeweils einfach eine Phase des Trojanischen Kriegs ohne Rücksicht auf die Einheitlichkeit des Stoffes chronologisch darstellten, daß aber der weitere Schritt, die Komposition aller Einzelteile konsequent auf ein darstellerisches Ziel abzustimmen, im Gattungskontext archaischer Epik (man denke nur an die ständige Verwendung formelhafter Elemente) nicht gelingen konnte, sondern – in für uns erkennbarer Weise – erst Vergil glückte.
Kapitel 2 (50–69) gilt dem „Stand der Forschung“ und stellt heraus, daß der Ansatz Heinzes bislang nirgends überzeugend auf die Argonautica des Valerius Flaccus angewandt wurde.
Der Kern des Buchs steckt indes in den Kapiteln 3 (70–132) und 4 (133–195), welche die Komposition zweier größerer Abschnitte der Argonautica untersuchen, nämlich des gesamten ersten Buchs (Kapitel 3) und der sich von Arg. II bis in Arg. III erstreckenden Cyzicus Episode (Kapitel 4) – die Beschränkung der Interpretation auf diese Einzelszenen rechtfertigt Sauer am Schluß seiner Arbeit (204 f.) damit, daß aufgrund des fehlenden Werkschlusses Bezüge auf das Werkganze problematisch seien (was freilich gewisse Schwierigkeiten ergibt für den aristotelischen Ansatz, der ja die Geschlossenheit aller Teile im Verhältnis zum Ganzen betont). Auf diese beiden langen interpretierenden Abschnitte folgen nur noch zwei weitere knappe resümierende Kapitel, „Dramatische Erzählung als fundamentales Kompositionsverfahren“ (5, 196–199), „Valerius Flaccus‘ dramatische Erzähltechnik“ (6, 200–206) sowie Bibliographie und Stellenregister.
Die Deutungen Sauers sind durchgängig luzide, sorgfältig dokumentiert und durch Bezüge auf Sekundärliteratur untermauert; ein wenig störend wirkt freilich, daß die gesamten interpretierten Textpartien jeweils zweimal durchlaufen werden, zunächst in dem Unterabschnitt „Gliederung und Abriss des Geschehens“ (3.1 und 4.1, darin durchaus auch bereits Textdeutungen), dann unter „Dramatische Elemente und Strukturen“ (3.2 und 4.2). Einem Leser, der Aufklärung zu einer bestimmten Textpartie sucht, wäre wohl mit einer vereinheitlichten Fassung besser gedient gewesen. Auf S. 203 f. reflektiert Sauer selbst auf die sich durch diesen Aufbau seiner Arbeit ergebenden Wiederholungen.
Das wichtigste und konkreteste Ergebnis von Sauers Deutungen besteht darin, daß sich sowohl im ersten Buch als auch in der Cyzicus-Episode das von Aristoteles als besonders vortrefflich empfohlene Zusammenfallen von Anagnorisis und Peripetie (11 p. 1452 a 32 s.) nachweisen lassen. Was die Nyktomachie anbelangt (Sauer 183), ist es evident, daß die Beteiligten mit dem Erkennen sogleich ins Unglück stürzen. Schwieriger scheint mir die Anwendung dieses Schemas auf das erste Buch (119 ff.): Nach dem Seesturm gerät Jason nicht etwa vom Zustand der Unwissenheit zum Wissen (dies die aristotelische Definition der Anagnorisis), sondern empfindet nur eine vage Vorahnung, daß er durch den „Raub“ von Pelias‘ Sohn Acastus möglicherweise seine Eltern in eine gefährliche Situation gebracht hat (I 693 ff.). An diese Befürchtung knüpft der Dichter an (699 ff.) und hebt hervor, daß sie nicht etwa nichtig sei, woran sich wiederum die Erzählung über das Ende von Jasons Eltern und seinem Bruder (700 ff.) anschließt. Am Anfang des zweiten Buchs heißt es jedoch ausdrücklich, daß Jason von diesem Geschehen nichts erfährt und nach dem Willen Junos auch nichts erfahren darf, da sonst seine Mission gefährdet würde (II 1 ff.). Von dem Zusammenfallen von Anagnorisis und Peripetie (welches Aristoteles musterhaft im Oidipus des Sophokles findet, wo der Held mit dem Erfahren seiner Taten – Vatermord und Inzest – natürlicherweise auch sogleich ins Unglück stürzt) bliebe im ersten Argonautica-Buch nur soviel übrig, daß der Held eine vage Vorahnung über die Folgen eines eigenen Fehlers empfindet, von der Bewahrheitung dieser Vorahnung, die zu einer seine ganze Mission gefährdenden Peripetie führen würde, jedoch nichts erfährt und nach göttlichem Willen nichts erfahren darf. Hier hat man es wohl eher mit einer Vermeidung tragischer Geschehensstrukturen zu tun.
Zentral in Sauers Interpretation des ersten Argonautica Buchs ist der von ihm sehr kritisch betrachtete Begriff des Ruhms (vgl. besonders Sauer 94; 99; 120; 128; 129: das erste Buch als Tragödie über die fatalen Folgen des Ruhmstrebens; 205): Durch seine Ruhmsucht (darin liege seine Hamartia) werde Jason veranlasst, den Argonautenzug überhaupt zu unternehmen, und mit der Versprechung ruhmvoller Unternehmungen ködere er Acastus, den Sohn des Tyrannen Pelias, und verschulde somit letztlich den aus der wütenden Verzweiflung des Pelias resultierenden Untergang seiner Eltern.
Die vergleichsweise häufige Nennung des Ruhmmotivs bei Valerius Flaccus im Vergleich zur vergilischen Aeneis dürfte sich daraus erklären, daß das Handeln der Argonauten zwar letztlich – nicht minder als das der Aeneaden – durch einen Weltplan Jupiters gedeckt ist, dieser Weltplan jedoch die Argonautenfahrt nur als eine Zwischenstation im planmäßigen Ablauf mehrerer Weltreiche sieht, also den Argonauten kein subjektiv befriedigendes „Zwischenziel“ bietet (wie das vergilische Fatum den Aeneaden die Festsetzung in Italien): Die Einholung des Goldenen Vließes ist eben kein weltgeschichtliches Zwischenziel, sondern nur ein heroischer Ruhmestitel, und dementsprechend bedeutend ist der Ruhmesgedanke in den Argonautica. Daß man speziell den Ruhm, das Meer „geöffnet“ zu haben, nicht allzu kritisch betrachten sollte, zeigt vor allem die Tatsache, daß in diesem Ruhmestitel gerade das verbindende Moment zur Gegenwart, nämlich zum Preis des Kaisers Vespasian besteht (I 7 f. tuque o pelagi cui maior aperti / Fama). Wenn Valerius Flaccus mit der kritischen Zeichnung des Ruhmmotivs tatsächlich „seiner eigenen Zeit den Spiegel vorhalten“ wollte (Sauer 205), so müsste sich diese Tendenz primär gegen Vespasians Eroberungsleistung richten – eine problematische Konsequenz, die von Sauer nicht berücksichtigt wird.
Die Ausdeutung der Cyzicus-Episode ist bestimmt durch die Hervorhebung der schuldhaften Verstrickung beider Konfliktparteien – im (vielfach in den Anmerkungen betonten) Gegensatz zu der Arbeit von Gesine Manuwald, Die Cyzicus-Episode und ihre Funktion in den Argonautica des Valerius Flaccus, Göttingen 1999, welche die unglücklichen Ereignisse eher als ein schuldlos von göttlicher Seite über die Menschen hereinbrechendes Verhängnis ansieht. Die ohne Verluste siegreichen Argonauten (151) werden als Täter gesehen (den Einwand, daß sie sich in der nächtlichen Finsternis angegriffen wähnten, lässt Sauer nicht gelten), die Dolionen dagegen als Opfer (151; 172).
Wenig überzeugend erscheint mir eine textkritische Konsequenz, die Sauer aus dem „mangelnden Schuldbewusstseins“ Jasons zieht (145 f. mit A. 642), nämlich die Verteidigung des Verses 273 in seiner überlieferten Position (Jason fordert die Dolionen unmittelbar im Anschluß an die Enthüllung seiner Identität völlig unvermittelt zur schleunigen Bestattung der Toten auf).
Freilich kommt auch Cyzicus selbst nicht ohne tragische Schuld davon: Sein „Jagdvergehen“ wird als Frevel gegen die Göttin Cybele aufgefasst (165 Anm. 721 wird die Parallele zu Agamemnon in der Deutung der sophokleischen Elektra durch Sauers Doktorvater Lefèvre gezogen), obwohl G. Manuwald (vgl. Sauer 136 Anm. 601) in m.E. überzeugender Weise gezeigt hat, daß das Detail, daß der getötete Löwe gerade zum Gespann der Cybele zurückkehrte (III 23), also nicht als Schützling der Göttin kenntlich war, Cyzicus entlastet; überdies hebt Valerius Flaccus in III 26 ( spolium infelix divaeque pudendum) ausdrücklich hervor, daß dieser Jagderfolg trotz seiner objektiv Cybele kränkenden Wirkung eben ein Unglück war.
Cyzicus wird in eine intertextuelle Verbindung zu dem ebenfalls jagdstolzen vergilischen Rutuler Numanus Remulus gestellt (Sauer 166), der sich ebenfalls im Kampf höhnisch gegen Cybele wendet. Dabei bleibt allerdings die höchst unterschiedliche Tendenz der Aussagen unberücksichtigt: Numanus Remulus spricht dem Cybele-Kult in der Tat eine verweichlichende und verweibischende Wirkung zu (Aen. IX 617 ff.), während Cyzicus in der Hitze des Kampfes den Wunsch äußert (III 230 ff.), daß seine Leute denselben Opfermut, den sie bei den martialischen Selbstverstümmelungen des Cybele-Kults beweisen, auch in der jetzigen Kampfsituation an den Tag legen (worin keine Kritik am Kultgeschehen liegt); damit widerspricht er geradezu der Aussage des Numanus Remulus über den verweichlichenden und unkriegerischen Charakter des Cybele-Kults; freilich schwächt dann unmittelbar nach dieser Aussage die Göttin Cybele in geradezu perfider Weise ihrerseits die Kampfkraft des Cyzicus selbst (III 235 ff.).
Der Wunsch des sterbenden Cyzicus, niemals seine Jagdgründe gesehen zu haben (III 241 f. quam nunc incognita vellet / Lustra sibi), wird zu einem selbstkritischen „schmerzlichen Erkenntnisvorgang“ umgedeutet (179), und dem verständnisvollen Zugeständnis des Erzählers, daß auch kein anderer Mensch an Cyzicus‘ Stelle den drohenden Unglückszeichen Glauben geschenkt hätte (III 355 f. sed quis non prima refellat / Monstra deum?), setzt Sauer (187) entgegen, daß diesem „jegliches Schuldbewusstsein“ fehle.
Durch solche Interpretationen wird allen Beteiligten an der Nyktomachie ein erhebliches Maß an persönlicher Schuld zugeschoben, während der Seher Mopsus an der textkritisch unsicheren Stelle III 392 ( Si fors saeva tulit miseros, sed proxima culpa [ culpae Burmann], vgl. Sauer 148 mit A. 654) nur von einer großen Nähe zur Schuld spricht.
Treffender als solche m.E. allzu moralisierende Ausdeutungen (bezeichnend ist die Pauschalaussage von Sauer 118, die Argonauten hätten sich im Gegensatz zu den Aeneaden ihr Schicksal selbst zuzuschreiben) sind die von Sauer hervorgehobenen Fernbezüge der von ihm interpretierten Partien: So werden etwa die Abbildungen auf der Argo (Thetis und der Lapithen-und-Kentaurenkampf, I 130 ff.) mit der Hochzeit von Jason und Medea assoziiert (die Hochzeit macht die Braut nicht wirklich glücklich und führt einen kriegerischen Konflikt herbei, Sauer 96), die fatalen Folgen des „Raubs“ des Acastus mit der Entführung Medeas (Sauer 132 nach dem 132 A. 592 zitierten Zissos) und der für das Ziel der Argonauten nutzlose Kampf gegen den fälschlich für einen Feind gehaltenen Cyzicus mit der Auseinandersetzung mit Aeetes‘ Bruder Perses im VI. Buch (Sauer 194 f.).
Der bleibende Wert von Sauers Monographie dürfte vor allem in seinen Einzelinterpretationen und der Offenlegung solcher Sinnbezüge liegen; damit fügt sich seine Untersuchung in die Tendenz der modernen Forschung zu den flavischen Epikern, welche die sinnhafte Gesamtkomposition dieser Werke betont und eben nicht mehr die nur auf rhetorische Wirkung angelegte Autarkie der Einzelszene. Der von Sauer forcierte unmittelbare Einfluß aristotelischer Theorie (die Verwendung der aristotelischen Begriffe als Analyseinstrument ist natürlich legitim) scheint mir demgegenüber weniger bedeutend und nicht entscheidend für die erzielten Ergebnisse.