Bei dem hier zu besprechenden Buch handelt es sich um eine aus dem Jahr 2008 stammende, von Christoph Riedweg betreute Zürcher Dissertation: Silvio Bär legt in seiner unter dem Titel “Quintus Smyrnaeus Posthomerica 1” stehenden Studie (öder Untertitel “Die Wiedergeburt des Epos aus dem Geiste der Amazonomachie” inspiriert sich an Nietzsches “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik”) einen höchst ausführlichen Kommentar zu den ersten 219 Versen des Auftaktbuchs der Posthomerica vor (136-527), dem eine den besonderen Ansatz des Kommentators allseitig exponierende Einleitung (11-117) vorausgeht. Dazwischen steht ein selbständig konstituierter Text der kommentierten Partie und eine von sprachlichen Irrtümern freie, gut lesbare deutsche Übersetzung (118-135).
Der erste Teil der Einleitung (11-91) bezieht sich auf die Posthomerica als Ganzes und gliedert sich in vier Abschnitte; der erste (11-22) behandelt die äßeren Daten “Name (des Autors)”, “Herkunft” und “Werkdatierung”, der zweite (23-35) enthält einen “Abriß der Überlieferungs- und Forschungsgeschichte” (gegliedert in die Unterabschnitte “Textüberlieferung und Wiederentdeckung”, “Editionen und Übersetzungen seit 1600”, “Forschung seit 1800” und “Die Qualitätsurteile der Neuesten Zeit”), der dritte, schon wesentlich umfänglichere (36-68) befaßt sich mit “Sprache, Form und Intertextualität der Posthomerica” (“Quellenforschung und Intertextualität”, “Bisherige Forschung”, “Sprache und Formgestalt der Posthomerica”), und schließlich ist der vierte und letzte (69-91) den “Wirkungsintentionen und Wirkungspotentialen” des Werks gewidmet (“Die Poetik der Posthomerica”, “Der epische Zyklus”, “Die Zweite Sophistik als Rezeptionshorizont der Posthomerica”).
Dagegen gilt der zweite Teil der Einleitung speziell dem ersten Buch der Posthomerica, und zwar befaßt sich der erste Abschnitt (92-109) mit “Aufbau, narrativer Struktur und Inhalt des 1. Buches”, der zweite (110-117) greift den Untertitel der Arbeit, “Die Wiedergeburt des Epos aus dem Geiste der Amazonomachie”, auf. An den Löwenanteil des Buchs, den Kommentar, fügen sich noch eine reichhaltige Bibliographie (528-551), ein kurzer Anhang über “Parallelüberlieferungen des Penthesilea-Mythos” (552-557), umfängliches statistisches Material über Iteratverse, Hapax bzw. Dis legomena und besonders häufige Adjektive (558-580) und schließlich das ausführliche Register (581-640) an.
Die Datierung der Posthomerica erfolgt ausgesprochen konservativ, mit Oppian dem Älteren als Terminus post quem und Triphiodor als Terminus ante quem (23). Bezüglich der chronologischen Auswertung der auf Papyrus überlieferten Visio Dorothei, die möglicherweise den Blick auf das dichterische Schaffen eines Sohns des Quintus freigibt, übt Bär kluge Zurückhaltung (18 ff.). Eine erste Überraschung ergibt sich bei der Herkunft des Autors: Die allgemein angenommene Provenienz aus Smyrna wird abgelehnt (12 ff.), was damit zusammenhängt, daß Bär das vor dem Katalog der ins Pferd eingeschlossenen Griechen eingelegte Binnenprooemium, die einzige Partie, in der der Dichter über sich selbst redet, nicht biographisch, sondern poetologisch ausdeutet. Dabei wird zurückgegriffen auf eine ausführliche Publikation Bärs in einem Sammelband (Quintus Smyrnaeus und die Tradition des epischen Musenanrufs, in: Quintus Smyrnaeus. Transforming Homer in Second Sophistic Epic, edd. M. Baumbach and S. Bär, Berlin/ New York 2007, 1-26); dort wird der allgemein anerkannte homerische, hesiodische (Musenweihe) und auch kallimacheische (Aitienprolog) Einfluß auf dieses Binnenprooemium detailliert gewürdigt (allerdings entgeht Bär die ziemlich kecke Überbietung gegenüber Kallimachos, die sich darin bekundet, daß die Musen letzterem die Aitien vermitteln, als er gerade erst einen Bart hat, wohingegen der Dichter der Posthomerica von den Musen, noch bevor sein Bartflaum sprießt, “jegliche Dichtkunst” erhält;
Der Abriß der Forschungsgeschichte ist wohlgelungen; zurecht wird die Diskussion über das Verhältnis zur Aeneis als eigener Bereich abgegrenzt, in dem die Ergebnisse des einzelnen Forschers-zumindest vor der abwägenden Monographie von Ursula Gärtner-weitgehend abhingen von seiner dogmatisch weltanschaulichen Einstellung zu der Frage, ob sich ein griechischer Dichter dazu herablassen konnte, einen lateinischen zu imitieren (Bär selbst scheut sich nicht davor, Aeneis-Zitate bei Quintus anzunehmen, vgl. etwa seinen Kommentar S. 455). Ergänzend zur frühen Editionsgeschichte wäre vielleicht ein Hinweis auf nicht minder frühe kreative Auseinandersetzungen mit Quintus angebracht, etwa auf die nur 14 Jahre nach der grundlegenden Ausgabe von Lorenz Rhodomann (1604) herausgegebene Tragödie “Pentesilea” des polnischen Renaissance Dichters Simon Simonides, die insbesondere die nach Bärs Deutung zentrale Frauenproblematik des ersten Buches ausführlich aufgreift (eine Online Ausgabe ist zugänglich dank des Fabulae neolatinae).
Zentral für das Verständnis des ganzen Kommentars sind Bärs in dem Kapitel über “Sprache, Form und Intertextualität” bekundete Anschauungen: Er sieht Quintus eben nicht als einen homerische Versatzstücke aneinanderstückelnden Poetaster, sondern als einen echten Alexandriner (bzw. mutatis mutandis als einen gebildeten Vertreter der Zweiten Sophistik), der seine Vorbilder (unter denen Homer natürlich zentrale Bedeutung hat) sorgfältig und mit einem hohen Grad an dichterischem Bewußtsein auswählt. Dementsprechend sucht Bär “seinen” Dichter von vielfach wiederholten Vorurteilen zu befreien. So weist er etwa nach, daß der Anteil von Iteratversen, d.h. Versen, die vollständig oder beinahe wörtlich wiederholt werden, in den Posthomerica signifikant geringer ist als bei Homer (56), oder daß Quintus den Anteil von Hapax bzw. Dis legomena an seinem Wortschatz wie Apollonius Rhodius gegenüber Homer deutlich verringert hat (59 f.). Solche statistischen Werte (die im statistischen Anhang weiter vertieft werden) sind als solche durchaus interessant und willkommen, aber sie lassen sich nicht durchweg als für den Leser sichtbare Signale stilistischer Absetzung von Homer ausdeuten, wie es Bär versucht. Anders ausgedrückt: Solche Werte sind positivistisch relevant, eignen sich aber kaum als rezeptionsästhetische Kategorie: Kein antiker Leser konnte—ohne Datenbank—mit einer mit Bärs Statistiken annähernd vergleichbaren Genauigkeit die quantitative Frequenz von Iteratversen und Hapax bzw. Dis legomena ermitteln, sofern diese Erscheinungen nicht völlig vereinzelt auftreten. Für den antiken Rezipienten ist dann eben nur der qualitative Aspekt, daß Quintus auf Iteratverse und häufige Hapax legomena genausowenig verzichtet wie Homer, wahrnehmbar, kaum aber die Frequenz solcher Erscheinungen (ähnliches gilt auch für Bärs Statistik über die Häufigkeit der Nebenform
Was die Übernahme einzelner Wendungen aus Homer (und anderen Autoren) anbelangt, so vertritt Bär die Ansicht, daß Quintus damit ein präzises, für den gebildeten Leser nachvollziehbares Verhältnis zu den Vorbildern anstrebt. Das ist gut vorstellbar, insofern gebildete antike Leser gerade den homerischen Text in einer mit moderner Literaturkenntnis kaum vergleichbaren Genauigkeit präsent haben mußten, und im allgemeinen unzweifelhaft; allerdings trägt die These, wenn sie als Grundprinzip der Textkommentierung aufgestellt wird, die Tendenz zur Übertreibung geradezu in sich (vgl. den schematischen Abdruck der Verse 118-137 auf S. 67, wo beinahe jede Wendung zum intertextuellen “Code” erhoben wird). Die verschiedene Qualität solcher Argumente läßt sich an zwei Beispielen aus der Einleitung verdeutlichen: Wenn Bär (68) argumentiert, daß der antike Leser die Versklausel
Die herkömmliche Quellenforschung sieht Bär kritisch, was sich besonders in seinem Umgang mit der vieldiskutierten Frage, ob Quintus die kyklischen Epen noch kannte, zeigt: Diese Fragestellung wird als irrelevant beiseitegeschoben zugunsten der Aussage, daß sich Quintus “in der einen oder anderen Form in die Tradition der Zyklischen Epik einschreibt” (S. 84, neben einer kaum belastbaren Parallele für solche poetologische Bezugnahme aus Triphiodor; zu dieser Ablehnung herkömmlicher Quellenforschung vgl. auch Bärs geradezu apologetische Vorrede vor seiner Zusammenstellung der Quellen für die Penthesilea-Geschichte, S. 552 f.). Dies trifft gewiß zu (und sei es nur in dem Sinne, daß Quintus angesichts kritischer Äußerungen über die kyklische Epik wissen mußte, auf welche Gefahren er sich bei seinem dichterischen Unternehmen einließ), aber man wüßte eben doch gern, in welcher Form diese “Einschreibung” erfolgte, also (um die möglichen Extrempositionen zu nennen, neben denen natürlich Zwischenlösungen denkbar sind) ob Quintus wie wir nur die kallimacheischen und anderen Kunsturteile über den Kyklos kannte und diesen mittels Prosaparaphrasen rekonstruierte oder ob er neben den homerischen Werken noch auf den ganzen Kosmos der archaischen Epik zurückgreifen konnte. Wenn letzteres der Fall wäre, müßte man sich vor allem vor dem (auch gelegentlich bei Bär zu beobachtenden) Verfahren hüten, jede Abweichung von Homer gleich als “alexandrinisch” zu betrachten. Gerade wenn man wie Bär den Text als ein Zusammenspiel von Referenzen auf frühere Texte liest, kann man der Frage, ob möglicherweise ein Parallelsystem solcher Referenzen neben den homerischen für den antiken Leser zwar vorhanden war, aber dem modernen Leser verloren ist, eigentlich nicht gleichgültig gegenüberstehen.
Das wichtigste Ergebnis von Bärs Überlegungen bezüglich des Verhältnisses zur Zweiten Sophistik besteht darin, daß die Posthomerica den Rezeptionsbedürfnissen zweier Gruppen von Lesern entgegenkamen, einerseits den
Durchweg überzeugend sind Bärs Ausführungen zum Aufbau des ersten Posthomerica Buchs: Er stellt die Ringstruktur als bestimmendes Merkmal heraus, in deren Zentrum das “Frauenredepaar” steht, eine grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen zwei Trojanerinnen, ob Frauen am Kampf teilnehmen sollen. Das Unterliegen von Hippodameias emanzipatorischem Votum zugunsten einer Kampfbeteiligung gegen Theanos konservative Argumentation ist, wie Bär herausstellt, nicht nur retardierendes Element, sondern antizipiert geradezu auch das Unterliegen der Penthesilea gegen Achill im Kampf. Insofern darf man in der Tat “Identitäts und Geschlechterdiskursivität” (115) als ein zentrales Thema des ersten Buches ansehen (die Ausdeutung der Doppelaxt als Symbol für “Anderssein” bzw. “Nicht-Frau Sein” im Kommentar, S. 442 f., dürfte allerdings auf Überinterpretation beruhen). Bär versteht also Penthesilea als ein homerischen Geschlechtsnormen nicht entsprechendes Wesen (hierzu passen gut die im Kommentar mehrfach nachgewiesenen Kontrastbezüge zu Andromache [vgl. besonders Bär 323 ff.], die ja gerade in der Ilias die gedichtsinterne Adressatin von Hektors berühmter Zurechtrückung der Geschlechterverhältnisse ist [Il. VI 490 ff.]) und die ganze Amazonomachie als ein “per se unhomerisches Thema” (114; zur Problematik des iliadischen Rekurses [III 188 f.] auf einen anderen Amazonenkampf, in welchem Priamos den Amazonen feindlich gegenübertrat, vgl. Bärs Kommentar S. 167 f.). Es ergibt sich freilich, wenn man dieser Deutung folgt, m.E. eine zwingende, so von Bär nicht gezogene Konsequenz: Wenn Quintus im programmatischen ersten Buch seines Werks tatsächlich in derart nachdrücklicher Weise den Untergang und das Scheitern eines homerischen Normen nicht entsprechenden Wesens zelebriert (und dann im Fortgang des Werkes wieder herkömmliche Kampfhandlungen zwischen Männern schildert), so bekennt er sich schlußendlich doch wieder als erzkonservativer Homeride, und es bleibt fraglich, inwiefern aus dem “Geist der Amazonomachie” tatsächlich etwas inhaltlich Neuartiges (von der Poetologie einmal abgesehen) entstehen kann.
Der Kommentar, das Herzstück von Bärs Buch, führt die erst in der jüngeren Vergangenheit beginnenden kommentierenden Bemühungen um die Posthomerica fort, die sich bislang in Einzelkommentaren zu PH XII (Campbell, Leiden 1981) und PH V (James/ Lee, Leiden/ Köln 2000) niedergeschlagen haben. Bärs Kommentierung zeugt von einer vorbildlichen Genauigkeit und Detailfreude. Im Forschungsüberblick wird der Kommentar von Campbell als “Extrembeispiel” für eine Beschränkung auf das “erschöpfende Herzählen sprachlicher Parallelstellen” genannt (42). Bärs eigener Kommentar käme auf dieser Skala wohl dem anderen Extrem nahe: Er legt größten Wert auf eine interpretierende Ausdeutung der von ihm gefundenen Parallelen, und in der Folge solcher Ausführlichkeit vermag seine höchst stattliche Monographie mit ihrem Kommentar kaum mehr als ein Viertel des ersten Posthomerica Buchs abzudecken. An den oben besprochenen Beispielen zweier in der Einleitung behandelter intertextueller Bezüge (
Das Resüme hat insgesamt positiv zu lauten: Von Bärs umfangreicher Studie und besonders dem in seinem Kommentar gesammelten Material wird die Forschung zu Quintus Smyrnaeus noch lange zehren (die interpretatorischen Ausdeutungen der Intertextualität bleiben freilich im Einzelfall zu prüfen); auf eine vergleichbar ausführliche Kommentierung des Rests vom ersten Buch und der übrigen unkommentierten Bücher der Posthomerica wird sie wohl noch lange warten müssen. Zugleich dürfte Bärs Werk erheblich dazu beitragen, Quintus von seinem (erst relativ spät in seiner Rezeptionsgeschichte erworbenen) schlechten Ruf als inspirations- und konzeptlosem Versemonteur zu befreien.