BMCR 2010.03.61

Der Mythos in den Oden des Horaz: Praetexte, Formen, Funktionen. Hypomnemata Bd. 178

, Der Mythos in den Oden des Horaz: Praetexte, Formen, Funktionen. Hypomnemata Bd. 178. Göttingen: Ruprecht, . 444. ISBN 9783525252857. €85.00.

Breuers Studie präsentiert sich in zwei Teilen: Umfänglichen Prolegomena folgt die Untersuchung des Mythengebrauchs in neun horazischen Oden. Angesichts des Titels ist der Leser von dieser Beschränkung auf Einzelanalysen überrascht. Dennoch liegt hier nicht nur der Kern, sondern auch das eigentliche Verdienst von Breuers Studie. Ausführlich und mit ausgewogenem Urteil erörtert der Autor unter sorgfältiger Beachtung der einschlägigen Forschung die Motive (selten nur die Strukturen) der Einzeltexte, um dann sein besonderes Augenmerk auf die jeweils vorhandenen Mythologeme zu richten.

In den Prolegomena kommt Breuer nach einem raschen Überblick über die Forschungsliteratur zu dem Ergebnis, dass bisher “weitgehend darauf verzichtet [wurde], den Kontext der Einzelstellen zu berücksichtigen und die Eigenarten und Formen der Mythologeme sowie ihre Funktionen innerhalb der jeweiligen carmina für die Interpretation fruchtbar zu machen” (S. 22). Auch seien die Praetexte und Parallelen zwar zumeist bekannt, aber nicht hinlänglich berücksichtigt.1 Diese Lücke will Breuer schließen und damit “gleichsam eine Phänomenologie des horazischen Mythosgebrauches entwerfen” (S. 23). Die folgenden Präzisierungen der eigenen Methode und Textauswahl (letztere nach dem Kriterium der Grenzziehung zwischen Mythos und Nicht-Mythischem [S. 25f.]) sind gründlich, aber auch etwas langatmig dargelegt.

Der Frage “Was ist ein Mythos” entledigt sich der Autor dagegen in atemberaubender Schnelligkeit: Breuer geht von Burkerts Mythoskonzept mit den Elementen “traditionelle Erzählung”, “Sinnstruktur” und “überindividuelle Wirklichkeitserfahrung” aus und konkretisiert es im traditionellen Sinn als “Erzählungen über Götter oder Heroen oder über den Ursprung von Gegebenheiten, Zuständen, Lebewesen und Dingen, auch Festen” (30). Der neuere Diskurs um den Mythos (Hans Blumenberg; Roland Barthes) ist nicht bzw. nur am Rande eingeflossen; Blumenbergs in seiner Rezeptionsgeschichte vielstrapazierter Begriff der “Arbeit am Mythos” erscheint verkürzt auf die poetische Variation. Der Passus zum Mythos in Rom und in der römischen Literatur (S. 30ff.) weicht der Frage nach der Existenz römischer Mythen im klassischen oder modernen Sinn aus und verengt sich rasch auf die Frage, inwieweit die antiken Mythen geglaubt wurden. Aus den Testimonien zur Unglaubwürdigkeit der fabulae kommt Breuer dann etwas gewaltsam zu einer Definition, die für die Antike überhaupt das Bewusstsein einer höheren Wahrheit des Mythos postuliert.

Die Untersuchung zur horazischen Religiosität führt über weite Umwege zu dem Schluss, dass sich aus den Dichtungen kein Aufschluss über die persönliche Religiosität des Horaz gewinnen lässt; auf die für eine methodenbewusste Literaturwissenschaft weithin selbstverständliche Weiterung, dass ein solcher Aufschluss auch für das Verständnis der carmina irrelevant wäre, lässt sich Breuer nur am Rande ein.

Der Einleitung in die Horaz-Analyse sollen die Untersuchungen zur Rolle des Mythischen bei Hesiod, Archilochos, Alkaios, Sappho, Pindar, in der attischen Tragödie, der griechisch-römischen Komödie, bei Kallimachos, Lukrez, Catull und Vergil dienen. Diesem Thema widmet Breuer insgesamt 86 Seiten; im Rahmen einer Abhandlung zu Horaz’ carmina ist das sehr umfänglich, angesichts der Vielschichtigkeit des Themas mutet die Darstellung aber wie ein Parforceritt an. So ist auch das Resultat wenig tragfähig für die folgenden Analysen. Auf die genannten Autoren verweist Breuer später nur noch knapp, und häufig nicht im Hinblick auf ihren Mythengebrauch; ausführlicher vergleichend analysiert werden im zweiten Hauptteil: zu c. 1,2 Verg. Georg. 1, 498 ff. (S. 314-318); zu c. 1,10 der homerische Hermeshymnos und der Hermeshymnos des Alkaios (S. 331-334); zu c. 1,15 die Ilias, Alkaios fr. 283 Lobel-Page und Horaz epod. 10 (S. 357-365); im letzten Kapitel versammelt die zusammenfassende Darstellung (S. 388-391) zu den “Praetexten” Einzelbeobachtungen.

Durchaus gelungen ist Breuers Analyse von c. 1,27 ( Natis in usum laetitiae scyphis). Merkwürdig nur, dass Breuer ausgerechnet im Kernpunkt seiner Fragestellung hinter bisherige Erkenntnisse zurückfällt. Der Kommentar von Nisbet/Hubbard verweist zu 1,27,19 ( quanta laboras in Charybdi) auf zwei Bedeutungen des Bildes: die Frau/Hetäre als gierig (“symbol of rapacity”) und als unendlich attraktiv (” an overwhelming power of attraction“). Gerade diese Ambivalenz macht die mythische Metapher reizvoll; Breuer sieht nur den ersten Aspekt.

Zu 1,16 weist Breuer mit plausiblen Gründen die These zurück, die angesprochene Schöne ( O matre pulcra filia pulcrior) aus V. 1 sei Helena; ebenso hält er jeden Bezug zur Canidia der Epoden für unhaltbar.

Die (Unterwelts-)Mythen in c. 2,14 ( Eheu fugaces, Postume, Postume) dienen dazu, die Unausweichlichkeit des Todes “anschaulich und konkret” zu machen. Mit gutem Grund sieht Breuer in der Todesmahnung keine Persiflage auf dümmliches Geschwätz beim Gelage, sondern eine ernst gemeinte Mahnung zum Lebensgenuss, der die Erinnerung an den nahen Tod Gewicht verleiht. Dass der glückliche Erbe den Boden mit Wein befeuchten wird (2,14,25 ff.), fasst Breuer nicht als Verschwendung auf, sondern als fromme Trankspende; pavimentum tinguere (27) sei Variation zu libare. Eher sollte man hier allerdings die reizvolle Ambivalenz gelten lassen. — Der Überblick über weitere Unterwelts- oder Todesbilder in den Oden berücksichtigt mit den carmina 2,13; 1,24; 3,11; 4,7 nur Todesdarstellungen in szenischer Form. Breuer kommt zu dem Schluss, dass leisere Töne in der Todesdarstellung eher den konsolatorischen Oden vorbehalten seien, die umfänglichere Ausbreitung der Unterweltsbilder dagegen als Überleitung zu anderen Themen diene (223). — Für die ausgewählten Texte lässt sich dieses Ergebnis nachvollziehen; das Auswahlkriterium der szenischen Plastizität scheint aber doch willkürlich eingeführt; eher sollte es überhaupt um mythisierte Todesdarstellungen gehen, und da müsste c. 1,28 Breuer zu einem anderen Ergebnis führen.

C. 2,7 ( o saepe mecum tempus in ultimum) ist 1999 von Stefan Freund ausführlich auf dem Hintergrund der Motivtradition des Schildverlusts analysiert worden. 2 Freund akzeptiert Zielinskis Konjektur zu Archilochos, fr. 95,4 West und damit die Retterfunktion des Hermes bereits bei Archilochos. Breuer ist hier skeptischer; auch die These, Horaz wolle sich als θεοφιλής stilisieren3, lehnt er unter Berufung auf den Kontext ab: Es gehe dem Dichter vielmehr um eine taktvoll unpräzise Darstellung von Niederlage und Versagen; das mythische Motiv übe eine “wohl ‘verrätselnde’, kaschierende Funktion” aus (237).4—Die Deutung des Mythologems als taktvolle Umschreibung ist sicher richtig; weder der Kontext noch der sonstige Mythengebrauch bei Horaz verbieten aber, weitere Implikationen anzunehmen.

In c. 1,6 ( Scriberis Vario fortis et hostium) repräsentieren, so Breuer, die im Zuge der recusatio angeführten mythischen Motive die Gattungen Tragödie und Epos und werten die genannten zeitgenössischen Personen und Ereignisse auf. Die Verteidigung der überlieferten Textform gegen die Umstellungs- und Athetierungswut des 19. Jahrhunderts läuft freilich offene Türen ein; der Leser empfindet zudem hier — im Kontext eines so geläufigen Themas — Breuers Verzicht, stoffliche oder funktionale Parallelen aus dem horazischen Werk anzuführen, besonders deutlich als Manko.

Zu c. 1,1 wendet sich Breuer zunächst kleinen mythologischen Anspielungen und Metaphern zu, in denen er Sinnambiguitäten vermittelt sieht; im Musenhain-Motiv (29ff.) wolle Horaz nicht die Existenz des genialischen Dichters persiflieren, sondern “die Andersartigkeit des Lebensmodells des lyrischen Dichters” (S. 269) demonstrieren, eine nicht neue, aber überzeugende Auslegung. Richtig hebt Breuer hervor, dass nicht alle zuvor genannten bioi negativ konnotiert sind. Merkwürdigerweise verweist Breuer hier nur in einer Fussnote (S. 262, 56) auf Hesiods Musenweihe; Kallimachos, fr. 2 Pfeiffer, Vergil, ecl. 6 und Prop. 3,1 sind gar nicht berücksichtigt.

Zu den diffizilen Fragen, die c. 1,2 aufwirft — welches Leid der Ilia ist beschworen? auf welche Tiber-Überschwemmung verweist Horaz? warum ist der Tiber und nicht der Anio Ilias Gatte und Rächer? welches nefas soll Augustus sühnen, und warum erscheint er in der Gestalt Mercurs? — präsentiert Breuer einen sorgfältigen Überblick über die von den antiken Kommentatoren angebotenen Lösungen und die neuere Forschung. Das in den Endstrophen beschworene scelus deutet er mit einem Großteil der Forschung als Verurteilung des Bürgerkriegs (und nicht der Ermordung Caesars).—Etwas oberflächlich bleibt der Vergleich mit Vergil, Georgica 1, 481ff.: Die zweifellos vorhandenen Motivvariationen sind der Zoll, den ein Dichter einem anderen leistet, dem er nacheifert, nicht aber unumstößliche Hinweise auf weitestgehende Selbstständigkeit. Und natürlich verwendet auch Vergil das Motiv der Göttlichkeit der Rettergestalt Augustus, nämlich im Prooemium der Georgica, 1, 24ff. (vgl. auch Prop. 3,4,1; 4,11,60)!

Zu c. 1,10 ( Mercuri, facunde nepos Atlantis) führt die vergleichende Betrachtung des homerischen Hermeshymnos Breuer zu dem Ergebnis, “von einem engen Anschluss des Horaz an den homerischen Hymnus” könne “keine Rede sein” (332). Eines der Argumente ist, dass Horaz die drastischen Züge, explizit die Blähungen des Hermes-Kindes (295f.) und die eristischen Motive, ausspart. Gerade hier sollte aber die Interpretation ansetzen; sie könnte im Rekurs auf weitere Stellen in der ‘Veredelung’ und Sublimierung typische Züge der horazischen Mythengestaltung eruieren. Bedauerlich, dass sich Breuer darauf nicht einlässt.In der weiteren Analyse destruiert Breuer verschiedene Theorien zur Bedeutung Merkurs für Horaz: Merkur als besonderer Schutzgott des Dichters (so u.a. Hommel5), Horaz als vir Mercurialis (so u.a. Neumeister6), Merkur als Repräsentant des Augustus (so insbes. Lo Cicero7); in der dezidierten Kritik schlägt sich die manchmal simplifizierende, aber doch auch wohltuend nüchterne Ablehnung des Autors gegenüber allem Spekulativen besonders deutlich nieder.

Höchst sorgfältig ist auch c. 1,15 ( Pastor cum traheret) analysiert, wenngleich Rez. sich Breuers Ablehnung eines allegorischen Bezugs auf Antonius nicht anschliessen mag. Richtig verweist Breuer darauf, dass die Beschuldigung des Paris nicht kongruent ist mit der in augusteischer Propaganda verankerten Lesart des Bürgerkriegs gegen Antonius und Kleopatra als bellum externum; diese Lesart setzte sich aber doch erst allmählich durch, und noch die horazische Epode 9 weiß nichts von ihr; wenn 1,15, wie meist vermutet, zu den früheren Oden gehört, muss sie von solcher Wertung noch nicht beeinflusst sein.8 Wenn aber die allegorische Auslegung nicht ausgeschlossen werden kann, ist Breuers Kategorisierung von 1,15 als “Ode rein mythischen Inhalts” ohne Verankerung im Nicht-Mythischen (auch wenn diese ggfs. in der Verhüllung des Allegorischen liegt) brüchig.

Das Kapitel “Ergebnisse” fasst die vorangegangenen Analysen knapp zusammen und listet insbesondere die Funktionsweisen des Mythos in den einzelnen Kontexten und Aussagen zur Relevanz der Praetexte auf. Wie kaum anders zu erwarten, ist die Differenzierung in beiden Bereichen zu stark, als dass verallgemeinernde Aussagen getroffen werden könnten.

Breuer bietet zu allen analysierten Texten Übersetzungen; dass diese auf größtmögliche Textnähe abzielen, ist im Prinzip nachvollziehbar, führt aber manchmal zu unbeholfenen Wendungen: Nicht nur professionelle Segler werden über die Möglichkeit, “die Segel rückwärts zu richten” (1,34,3f. retrorsum/ vela dare), grübeln; auch “Becher, die zum Gebrauch der Fröhlichkeit bestimmt sind” (1,27, 1: natis in usum laetitae scyphis) wirken nicht eben einladend. Aber das sind Kleinigkeiten.

Das Verdienst von Breuers methodisch konservativer Arbeit liegt in der ausgiebigen Analyse ausgewählter horazischer carmina. Dabei treten zahlreiche Phänomene des horazischen Mythengebrauchs und einige Aspekte der horazischen Rezeptionstechnik zutage, die sich aber nicht zu Gesetzmäßigkeiten verallgemeinern lassen. Dass Breuer dies nicht gewaltsam versucht, ist positiv zu vermerken; größer aber wäre der Wert der Studie, wenn sie innerhalb des horazischen Odenwerks Vergleichbares zumindest benennen und damit die Ergebnisse auf eine etwas breitere Basis stellen könnte.

Notes

1. Angesichts der sorgfältigen Quellenuntersuchungen bei Nisbet/Hubbard und auch bei Syndikus überrascht diese Kritik.

2. Stefan Freund, Horaz, Archilochos und der Krieg, in: RhM 142 (1999), 308-320.

3. So Helmut Krasser, Horazische Denkfiguren. Theophilie und Theophanie als Medium der poetischen Selbstdarstellung des Odendichters (Hypomnemata 106), Göttingen 1995, 33.

4. Zu bedenken ist aber, wie Horaz in c. 3,4,25ff. dasselbe Motiv aufgreift: vestris amicum fontibus et choris / non me Philippis versa acies retro, / devota non extinxit arbor […] : Hier besteht ein deutlicher Konnex zwischen Götter- bzw. Musennähe und Rettung.

5. Hildebrecht Hommel, Horaz, Heidelberg 1950, 126 (nicht im Literaturverzeichnis).

6. Christoff Neumeister, Horaz und Merkur, in: A&A 22 (1976), 185-194.

7. Carla Lo Cicero, Mercurio e Orazio (Carm. 1,10), in: Pan 7 (1981), 99-112.

8. Vgl. Dorothee Gall, Geliebte Caesars, Verderben Marc Antons, Feindin Roms. Kleopatra in der Literatur der Antike, in: Kleopatra und die Caesaren. Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Hamburg 28.10.2006-4.2.2007 (Publikationen des Bucerius Kunst-Forums), München 2006, 142-150, und Michael P. Schmude, Horaz, Ode I 15 (“Pastor cum traheret…”) und Antonius und Kleopatra in der augusteischen Dichtung, Anregung 40 (1994), 179-185.