Der vorliegende Band stellt die überarbeitete Fassung der im Wintersemester 2005/6 von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg zur Promotion angenommenen Dissertation der Verfasserin (H.) dar.
In ihrer überzeugenden1 Arbeit entwickelt H. zwei zentrale Thesen: 1. Brüderliche und schwesterliche Interaktion unterliegt normativen Erwartungen an die “Rolle”2 Bruder-Schwester. Normgerechtes und der fides entsprechendes Verhalten wird in der stadtrömischen Öffentlichkeit als Zeichen familialer pietas gewertet.3
2. Agieren in geschwisterlichen Rollen hatte die wesentliche soziale Funktion, durch den Aufbau kognatischer Verwandtschaft Familien zu vernetzen und damit zur Kohäsion und Handlungsfähigkeit der römischen Aristokratie entscheidend beizutragen. Geschwister sind nicht nur Teil der agnatisch strukturierten familia, sondern handeln in einer bestimmten, mit Erwartbarkeit behafteten Rolle, die das Verwandtschaftssystem stützt.
Nach theoretischen Erörterungen zum Aufbau von Verwandtschaft (hierbei bildet das Theorem des Verwandtschafts-Atoms von Claude Levi-Strauss die Folie) im ersten Teil der Arbeit wendet sich H. im zweiten Teil der familialen Einzelbeziehung zu. Zunächst werden neben Etymologien der Verwandtschaftsbeziehungen bei Verrius Flaccus literarische Aussagen über Brüder und Schwestern vor allem aus der plautinischen Komödie und den Gerichtsreden Ciceros analysiert und kontrastierend dazu die Position von Bruder und Schwester im römischen Rechtssystem behandelt.4
Im dritten Teil, dem Hauptteil der Arbeit, untersucht H. diese Bruder-Schwester-Beziehung systematisch anhand von Fallstudien. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom 3.Jh. v. bis ins 1.Jh. n.Chr.; schon aufgrund der Quellenlage liegt der Focus auf der stadtrömischen Aristokratie.
Dem mythischen exemplum von Horatius und Horatia, in dem sich ein Katalog von Verhaltensnormen sowie Sanktionen bei Fehlverhalten fassen lässt,5 folgen historische Geschwisterpaare.6
Untersucht werden zunächst die Geschwisterbeziehungen in den gentes Cornelia, Aemilia und Sempronia. Bei den Scipionen zeigt sich, wie personale Möglichkeiten der kognatischen Verwandtschaft ausgenutzt wurden, um die Kontinuität einer agnatischen Linie zu sichern. Aemilius Paullus, der ein durchdachtes familiales Netzwerk zu anderen aristokratischen domus aufbaute, wurde in “interfamilialer Kooperation” zum erfolgreichen Rollenvorbild auch für die in Adoption gegebenen älteren Söhne. Besonders interessant ist die gesellschaftliche Profilierung des Scipio Aemilianus als “guter Bruder”, die das Image einer vorbildhaften, dabei agnatische Grenzen überschreitenden liberalitas, fides, pietas verkörpernden Persönlichkeit für die nächsten Jahrhunderte festschrieb. Sempronia wird in ihrer Doppelrolle als Ehefrau und Schwester zwischen Scipio und den Gracchen analysiert.
Weiterhin werden behandelt: M. Livius Drusus und Livia, M. Porcius Cato als Bruder und Schwager, Servilia und ihre Brüder, M. Iunius Brutus und seine Schwestern, P. Clodius Pulcher und seine Schwestern, T. Pomponius Atticus und Pomponia und abschliessend Octavian und Octavia.
Die familiale Interaktion zwischen den Tullii und den Pomponii lässt sich durch die Briefcorpora Ciceros besonders gut und durchaus auch auf einer alltäglichen Ebene rekonstruieren. Auch hier bewirkte die Adoption des Atticus durch seinen Onkel keine Veränderung der interfamilialen Interaktion. Deutlich wird, dass die Ehe zwischen Q. Cicero und Pomponia von den älteren Brüdern arrangiert wurde, die dadurch ihr adfines Netz stärken wollten ( adfinitas sollte neben amicitia treten) und deswegen auch die misslungene Beziehung jahrzehntelang “coachten” und dabei durch die deutliche concordia zwischen den Geschwistern7 und die Erfüllung der pietas sicherlich den Idealvorstellungen der römischen Oberschicht bezüglich familialen Verhaltens entsprachen.
Octavia stellt als soror principis 8 zwar bereits einen Sonderfall dar, der jedoch in vielerlei Hinsicht die tradierten Rollenerwartungen der römischen Oberschicht erfüllte. Octavian seinerseits erfüllt als Bruder, der honor und Ehe der Schwester verteidigte und als sorgender avunculus von Octavias Kindern mit M. Antonius ebenfalls traditionelle Rollenerwartungen und stellt insofern ein exemplum familialer pietas dar. Zudem stellte Octavia, die versuchte, die Rolle von Ehefrau und Schwester als mediatrix gleichwertig auszufüllen9 (selbst nach der Zurückweisung durch Antonius) die ideale Projektionsfläche für traditionelle Wertvorstellungen der augusteischen Propaganda dar. Als Stifterin der Porticus Octaviae fügte sie dem traditionellen Bild der vorbildlichen Mutter noch die Zeichen ihrer Bildung und ihrer liberalitas hinzu.
H. schliesst noch am Beispiel der Schwestern Caligulas einen Ausblick auf die problematische Situation kaiserlicher Schwestern an, die durch ihr dynastisches Prestige sowohl dem Kaiser selbst als auch der Opposition eine dynastische Alternative boten. Ein synthetisch angelegtes Schlusskapitel fasst die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen zusammen. Es
lässt sich konstatieren, dass die Bruder-Schwester-Beziehung keine grundsätzliche Veränderung durchlaufen hat und als Rollenverhalten in den Bahnen von Kooperation, Repräsentation und geschwisterlicher Solidarität festzuhalten ist. Ihre primäre Funktion lag darin, die kognatische Vernetzung zu gewährleisten und damit die Voraussetzung für überhäusliche Kooperation zu liefern. (318)
Beigegebene instruktive Familienstemmata erleichtern den Überblick bei doch zum Teil recht komplizierten Familienverhältnissen.10
Es zeigt sich, dass die Ergebnisse der modernen psychologischen Geschwisterforschung (persönliche Nähe und Affektivität; gleiche frühkindliche Erfahrungen) der Bruder-Schwester-Beziehung in der römischen Republik nicht gerecht werden.
Gerade nach der Heirat ist besonders ausgeprägte Kooperation und Loyalität nachzuweisen; dabei ist das Verhältnis von Bruder und Schwester nicht von individueller Nähe abhängig.
Geschwister wirken daran mit, die Familie in einem Netz von adfinen Bindungen zu positionieren; die agnatische und die kognatische Abstammungslinie kombiniert war auch immer eine eigene soziale Standortbestimmung.
Gegen die seit Münzers Faktionentheorie immer wieder in der Forschung auftauchenden politischen Bündnisehen setzt H. die integrative Funktion, die “Vernetzung”, die Sicherung des Status “Adelsfamilie”. Die dignitas der agnatischen und der kognatischen Abstammungslinie war auch immer eine eigene soziale Standortbestimmung; eine entsprechende Partnerwahl sicherte den exklusiven Status, den die Familie erreicht hatte; zugleich wirkte sie sozial integrierend.
Den auch in Detailbeobachtungen trefflichen Band, der einen bedeutenden Beitrag zur römischen Familienforschung darstellt, schliessen die Bibliographie und ein Personen- und Sachregister ab.
Notes
1. Die Dissertation wurde 2006 mit dem Günter-Wöhrle-Preis der Stiftung “Humanismus heute” ausgezeichnet.
2. H. weist darauf hin, dass der Begriff der sozialen Rolle durchaus auch schon im Bedeutungsspektrum des römischen Begriffs persona enthalten ist; auch von daher ist eine Analyse der Rolle im System der römischen Familien wertvoll; der Römer handelte in der Regel nicht individuell, sondern in einer — auch familialen —Rolle.
3. Die Problematik der Frauen im Loyalitätskonflikt zwischen Herkunfts- und eingeheirateter Familie schwingt dabei durchaus mit. Durch ihre Doppelrolle als Schwester und Ehefrau ist die Frau zur Vermittlung zwischen zwei Familienverbänden fähig, wenn sie sich dieser Doppelrolle bewusst ist und die Männer Willen zum Konsens zeigen.
4. Die rechtliche Systematik, familiale Verbindungen nach agnatischer und kognatischer Verwandtschaft zu kategorisieren, verdeckt durch den Primat des agnatischen Verbandes hierbei die soziale Praxis, dass soziale Bande zur Herkunftsfamilie bleiben und u.a. über die Geschwisterbeziehungen die adfine Vernetzung der Familienverbände getragen wird.
5. Horatias Tod erklärt sich bei lateinischen Autoren mit ihrer Verweigerung, der in der römischen Familie erwarteten Rolle als Schwester zu folgen; ein positives Gegenbeispiel ist im Mythos um die Sabinerinnen zu finden.
6. Durch die Diversität des Personals und die Möglichkeit, Handeln von Geschwistern über einen längeren Zeitraum in verschiedenen Zusammenhängen zu beleuchten, ermöglicht die Konzentration auf Fallstudien, ein repräsentatives Bild der Bruder-Schwester-Beziehung und ihrer Bedeutung für die römische Aristokratie zu gewinnen.
7. Wie sonst auch ist dadurch allerdings keine zuverlässige Aussage über tatsächlich affektive Zuwendung möglich.
8. So sogar ihre Grabinschrift.
9. In der Münzpropaganda des Antonius wird Octavia als erste Frau in der römischen Reichsprägung in persona dargestellt. Durch die starke Akzentuierung der Ähnlichkeit mit Octavian verweist sie hierbei auf den nicht abgebildeten Bruder. Für den Betrachter wird dadurch ihre Doppelrolle als Schwester des Octavian und Ehefrau des Antonius nochmals akzentuiert. Die Stiftung von adfinitas war die bereits in den Verhandlungen geforderte und von der Öffentlichkeit erwartete Chiffre für Eintracht und Kooperation zwischen den Triumvirn.
10. Leider haben sich hier Fehler eingeschlichen; so heisst M. Ciceros Bruder Q. Cicero (und nicht L. Cicero), und Octavia Minor und Octavian sind natürlich nicht die Kinder aus der Verbindung Atias mit L. Marcius Philippus, sondern mit C. Octavius Thurinus.