BMCR 2009.04.52

Lebendige Kommunikation. Die Verwandlung des Odysseus in Homers Odyssee als kognitiv-emotives Hörerkonzept

, Lebendige Kommunikation. Die Verwandlung des Odysseus in Homers Odyssee als kognitiv-emotives Hörerkonzept. München: Iudicium, 2006. xx, 303. ISBN 9783891295922. €35.00 (pb).

Untersuchungsgegenstand dieses Buches ist die sogenannte Verwandlung des Odysseus im 13. Buch der Odyssee, die neu bewertet werden soll: nämlich nicht mehr rein werkimmanent als Bestandteil des Plots und Ausgangspunkt der Täuschung der Freier, sondern in Bezug auf den Rezipienten, der, so die Hauptthese, in einem “Text-Geflecht” eine Vielzahl von Signalen zur Entschlüsselung der eigentlichen Bedeutung der Verwandlung bekomme. Die Verwandlung führe zu einem Erkenntiszuwachs bei Odysseus und könne darüber hinaus vom Hörer mit der Rache des Poseidon verknüpft werden (p. 13), welche also im zweiten Teil der Odyssee fortwirke. Damit ist diese Arbeit, ohne dass dies freilich explizit ausgesagt würde, der Schule der Unitarier zuzuordnen. Die dem Buch zugrunde liegende Dissertation ist als interdisziplinäre Studie angelegt und am Institut für Deutsch als Fremdsprache der Universität München entstanden.

Im ersten Kapitel mit dem Titel Die Verwandlung — das Problem (pp. 1-24) zieht O., nach einem knappen Forschungsüberblick (pp. 5-9) über die in der Tat teils unzureichende bisherige Interpretation der Verwandlung, unter anderem folgende Konsequenzen: Der Text wird für die eigene Interpretation einfach so akzeptiert, wie er überliefert ist; es werden ausschliesslich eigene ‘Über-Tragungen’ aus dem Griechischen ins Deutsche vorgenommen, um den Text hörbar zu machen und korrekt zu erschliessen (was hingegen den “Homerkritikern” und “Translatologen” nicht so recht gelinge, pp.13-19); und es soll aus der Perspektive des antiken Homer-Hörers (an Stelle des modernen Lesers) heraus interpretiert werden (p. 19f.). Auf diesem Weg — und durch die Präsentation von 20 sogenannten zeitgenössischen ikonographischen Abbildungen, die indes fast alle aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammen — glaubt O., die tatsächliche Bedeutung von Verwandlung und Rückverwandlung des Odysseus entschlüsseln zu können: Ein von Homer bewusst im Text angelegtes Konzept könne durch sprachliche Signale (wieder) decodiert werden.

Zunächst expliziert O. im zweiten Kapitel Der Horizont des antiken Hörers im Spiegel der frühgriechischen Dichtkunst (pp. 25-76) die für Produktion und Rezeption auch der Odyssee zweifellos wichtigen Merkmale der gesamten archaischen Periode, nämlich die Mündlichkeit und den ‘Sitz im Leben’ der Dichtung qua kultureller Institution. Ohne auf die überreiche einschlägige Forschungsliteratur der letzten Jahre einzugehen (eine Grundtendenz der Arbeit), macht O. vermittels des Schlagwortes “Lebendige Kommunikation”, zugleich Untertitel des Buches, folgende Funktionen der frühgriechischen Dichtkunst aus: Eine preisende, eine emotive, eine therapeutische, eine belehrende, eine machtausübende, eine gemeinschaftserhaltende und eine memoriale Funktion. Vieles ist hier richtig gesehen und in systematischer Zusammenstellung gut durchleuchtet; wichtig ist insbesondere die Feststellung einer therapeutischen Funktion, dass also Vortrag und auch Produktion von Dichtung von negativen Emotionen ‘heilen’ können. Jedoch ist hinsichtlich des Gesamtpanoramas Skepsis angebracht, wenn als Exempel Autoren und Textzeugnisse ganz verschiedener Provenienz mit einer je eigenen Rezeptionssituation dienen: Neben Homer sind dies Hesiod, Solon, Pindar, “die Hymnen” (p. 52, gemeint sind die Homerischen Hymnen) und Sappho; andererseits fehlt zum Beispiel die Chorlyrik. Und die Tragödientheorie der von O. als “Metadiskurs über die Dichtkunst” (p. 62) eingeführten aristotelischen Pötik sollte nicht so einfach auf das Epos angewendet werden, wie dies p. 65f. vorgenommen wird. In diesem, die Einzelinterpretationen der Odyssee vorbereitenden Kapitel, hätte man sich eher eine problemorientierte Darstellung der Rezeptionssituation der homerischen Epen gewünscht, etwa anhand folgender Fragestellungen und unter Zuhilfenahme von Erkenntnissen der Rezeptionsästhetik: Wie könnte man den Hörer — falls es ‘den’ Hörer überhaupt gibt — Homers näher definieren (impliziter versus empirischer Rezipient)? Welche Spannung ergibt sich zwischen Zuhören und (gegebenenfalls) Lesen bezüglich Mündlichkeit und Schriftlichkeit des Epos? Wie fügt sich die anvisierte neue Interpretationsmethode in die Theorien zur Formelhaftigkeit und zu den Wiederholungsstrukturen im Epos?

Das dritte Kapitel Die Kommunikation des Dichters mit seinem Hörer (pp.77-258) bildet den Hauptteil des Buches. Alle 24 Gesänge werden der Reihe nach dahingehend interpretiert, dass vermittels genauer Textbeobachtung nach Schlüsselwörtern gesucht wird, die aufgrund ihrer konstanten Wiederholung und morphologischen Verwandtschaft für den von O. vorausgesetzten “aufmerksamen Hörer” eine Reihe von Themen und Motiven erkennbar machten. Diese Signalwörter könne man, so O., bereits nach den ersten 78 Versen der Odyssee zu insgesamt sechs Gruppen vereinen, aus denen sich dann die entsprechenden thematischen Schwerpunkte dieses Epos eruieren liessen: Heimkehr, Frevel, Verderben, Leid, Rache und Zorn. Für die weitere Untersuchung, wie die entsprechenden Schlüsselwörter im weiteren Erzählen die “mentale Hörerebene” (p. 102) konstituieren, bedient sich O. einer metaphorischen Sprache: Allenthalben finden sich interpretatorische Termini wie “Knoten”, “Fäden”, “Zwiebelschalen-Kontext” (diese drei werden eingeführt p. 93). Eine Vielzahl von Graphiken, Tabellen und Übersichten soll dazu dienen, die sich im kontinuierlichen Nacheinander des Plots entwickelnden wechselseitigen Beziehungen der sechs Themen zu visualisieren und ein vom Dichter systematisch angelegtes Geflecht sichtbar zu machen. Sicherlich dient diese Vorgehensweise, gerade im Verbund mit textnahen Interpretationen und eigenen Übersetzungen, dazu, die einzelnen thematischen Bausteine und deren jeweilige Relation zu einzelnen Personen und Personengruppen (Odysseus, Agamemnon, die Gefährten, die Freier, Götter) aus dem Text herauszufiltern. Auch betont O. zu Recht die Differenz zwischen der mentalen Hörerebene und der Protagonistenebene bezüglich des jeweiligen Wissensstandes (zusammenfassend p. 150). Doch fragt man sich bei alldem, wie sich zu dieser Methode der Textinterpretation die Annahme der Mündlichkeit des Epos und das Konzept des Hörers fügt (letzteres ist ja, wie bemerkt, unscharf bestimmt — es ist einfach “der Hörer”), beziehungweise, worin sich im gesteckten Rahmen der Arbeit die Voraussetzung einer mündlichen Rezeptionssituation eigentlich unterscheidet von einer schriftlichen, wenn nämlich jemand das Epos (oder auch nur Teile davon) liest: Denn letztlich ‘liest’ ja auch diese Interpretation in gut philologischer Manier und einem im Grunde durch und durch konservativen, werkästhetischen Verfahren (Signalwörter, Wortschatz, Motive, Verknüpfungen, logisch nachvollziehbare Entwicklung von Ereignissen und Charakteren) den tradierten Text. Allerdings steht die Klassische Philologie auch bei der Untersuchung anderer, primär auf Mündlichkeit beruhender Gattungen vor ähnlichen Problemen. Gleichwohl wird bei O. die Odyssee zu einem bis ins letzte Detail durchkomponierten Ganzen, zu einem Roman, in dem von Anfang bis Ende alles genau geplant ist und jedes Wort seine spezifische Bedeutung im Sinnganzen hat. Ehe O. zu ihrem Hauptgegenstand, der neu zu bewertenden Verwandlung des Odysseus im 13. Gesang, kommt, betont sie die “Unzerreissbarkeit der Kausalkette Frevel-Verderben” (p. 151), die sich für den Hörer in der ersten Hälfte des Epos am Schicksal Agamemnons und an dem der Gefährten des Odysseus bereits deutlich manifestiert habe. Entscheidend für den “Odysseus-Faden” sei nun, dass sich der Zorn Poseidons auch nach der Rückkehr weiterhin gegen den Frevler Odysseus richte, ja noch vielmehr: dass die Rache für den geblendeten Polyphem jetzt erst so richtig vollzogen werde. Dabei fungiere nun Athene als Vertreterin Poseidons, ihres Onkels: Sie versetze Odysseus in völlige Passivität, beraube ihn seiner μῆτις und vollstrecke schliesslich gar die Rache durch die Verwandlung ihres Schützlings. Athene spiele also nur mit Odysseus, wenn dieser zum “O/B” (= “Odysseus-Bettler”, p. 178) mutiere und weiteres Leid zu erfahren habe: Erniedrigung, körperliche und verbale Angriffe, soziale Isolation. Dies sei die eigentliche Bedeutung der Verwandlung. Nach seiner Rückverwandlung habe Odysseus dann am Ende “eine Erkenntnis gewonnen” (p. 256). Doch könne — dies ist nun ein zentraler Punkt — nur der Hörer diese Erkenntnis mit der Rache des Poseidon verknüpfen, die ihr Ende schliesslich erst jenseits der Odyssee mit dem einst von Teiresias vorgeschlagenen Reinigungsritual finde.

Dieser Interpretationsvorschlag hat seinen entscheidenden Aufhänger am Gespräch zwischen Poseidon und Zeus in 13,128-158, in dem Zeus seinem Bruder in Vers 13,144 im Falle einer Nicht-Ehrung seitens eines Menschen “Vergeltung hinterher, immer” erlaubt: ἐξοπίσω τίσις αἰεί. Sogleich rächt sich Poseidon an den Phäaken durch die Versteinerung des Schiffes (eine Verwandlung), doch sei damit die Rache an Odysseus eben noch nicht zu Ende: Der Gott könne sich weiterhin, “immer” rächen; O. sieht also in diesen Worten eine weite Zukunftsperspektive angelegt. Es ist nun sehr problematisch, aus diesem Gespräch, ja aus diesem einen Vers heraus die referierte Interpretation vorzunehmen, die Göttin Athene umzupolen und auf diesem Umweg Poseidon und seinen Zorn wieder in die Handlung eintreten zu lassen — dies alles freilich gänzlich implizit und nur auf der “mentalen Hörerebene”. Denn von Zorn und Rache Poseidons ist in der zweiten Hälfte der Odyssee nicht weiter die Rede. Mit O.s Interpretation aber soll sich allein auf der Hörerebene etwas abspielen, was im Bereich des tatsächlichen, erzählten Geschehens überhaupt nicht zum Ausdruck gebracht wird, weder in den Reden der Personen noch in den erzählten Partien. Dies ist eine recht kühne Herangehensweise, die den Zuhörer schon fast zum Co-Autor Homers macht. Soll der Zuhörer, während ihm Homer oder ein Rhapsode die Gesänge 13 bis 24 vorträgt, fortwährend zusätzlich an diese zweite Ebene denken (das heisst auch, rein praktisch gedacht: denken können)? Soll er — zum Beispiel — in 20,53 κακῶν δ’ ὑποδύσεαι ἤδη und in 20,286 δύη ἄχος einschlägige Hörersignale erkennen (die Verwendung des Verbs ‘tauchen’ sei jeweils ein Hinweis auf die Rache Poseidons, des Meeresgottes)? So wichtig die Beachtung von Schlüsselwörtern ist und so wertvoll viele einzelne weitere Beobachtungen O.s auch zum zweiten Teil der Odyssee sind: Die Grundthese vermag nicht zu überzeugen (gerade angesichts des so sehr beschworenen Hörerkonzeptes), die Durchführung (unausgesprochen einem inter- bzw. intratextuellen Ansatz folgend) führt manchmal zu Überinterpretationen.

Im vierten Kapitel Die Odyssee und das Verwandlungskonzept im Spiegel der frühgriechischen Dichtkunst (pp. 259-294) unternimmt O. einige weiterführende Interpretationen anhand zum Teil gängiger Forschungsschwerpunkte, vor allem dem der Performanz (unter Anwendung der Sprechakttheorie, besonders pp. 260-265). Gut herausgearbeitet wird hier, wie die Emotionen des Hörers durch die spezifische Gestaltung mancher Szenen der Odyssee, in denen eine Art interner Zuhörerschaft vorhanden ist, erzeugt und gelenkt werden (pp. 270-272, mit graphischer Visualisierung der “Kognition-Emotion-Kette”). Erhellend ist auch die Folgerung, dass es in der Odyssee verschiedene Funktionsebenen gebe: Über die Protagonistenebene hinaus eine “Art von Lehr-Lern-Diskurs” (p. 279) für den Rezipienten. Weiterhin versucht O. eine Einbettung ihrer Odyssee-Interpretation in die Ritualforschung: Hinter der Rückkehr des Odysseus sei ein Initiationsritus zu sehen. Zudem fungiere Odysseus als exemplum für sterbliche und göttliche Frevler (p. 293). Etwas zu weit ausgreifend erscheinen die abschliessenden Überlegungen zur Verbildlichung der Technik eines für sein Werk planvoll vorgehenden Dichters als “Gewebe”, “Geflecht” und “Baukunst” (pp. 280-291).

Das Fazit muss zwiespältig ausfallen: Lesenswert ist das Buch wegen seiner textnahen Vorgehensweise und wegen der Herausarbeitung von thematischen Linien und Bausteinen (gerade auch durch Visualisierungen, Graphiken und Übersichten); es erscheint so fast als eine Art Kommentar zur Odyssee, der durchaus zu einem tieferen Verständnis beitragen kann, weil die Themen und Motive dieses Epos fortwährend strukturiert werden: Auch der Student und der nicht-deutschsprachige Leser können davon profitieren. Indes fehlt ein Begriffs-Index, der die Verwendung der vielen neuen interpretatorischen Termini systematisch durchschaubar machen könnte; so nämlich sind die Lektüre und das Nachvollziehen mancher Folgerungen manchmal ein hartes Brot. Am problematischsten aber ist die eigenwillige Auffassung O.s von der wahren Bedeutung der Verwandlung des Odysseus.1

Notes

1. Einige Äusserlichkeiten: Für den Gräzisten ist es nicht unbedingt von Vorteil, dass fast alle Zitate aus dem Griechischen nur in Umschrift geboten werden; dies zielt wohl auf einen breiteren Leserkreis ab. Durchgehend vermisst man weiterführende Hinweise auf einschlägige Forschungsliteratur; im Literaturverzeichnis ist weniger als ein Drittel der verwendeten Sekundärliteratur spezifisch der Homer-Forschung zuzuordnen (auf p. 298 ist statt “Liddle” “Liddell” zu schreiben).