Raphael Schwitter legt in seiner Studie Antiquarianismus in Rom eine systematische Neubewertung des Begriffs Antiquarianismus vor. Er entzieht ihn reduktionistischen und marginalisierenden Deutungen und verortet ihn stattdessen in einem komplexen epistemologischen Rahmen. Das Werk zeichnet sich durch seinen weiten chronologischen Umfang (vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr.) sowie durch das Bestreben aus, den Antiquarianismus nicht lediglich als gelehrte Praxis der Sammlung und Katalogisierung zu behandeln, sondern als eine eigenständige Methode der Wissensproduktion, die auf Instrumenten wie Etymologie, Ätiologie und Genealogie beruht.
Bereits auf den ersten Seiten distanziert sich Schwitter von den durch die moderne Historiographie – insbesondere die der Renaissance und der Aufklärung – geprägten Lesarten, die den Antiquarianismus als eine minderwertige Form ohne theoretischen Anspruch abwerteten. Stattdessen schlägt der Autor eine Neudefinition als erkenntnistheoretisches Modell vor, das dazu dient, die Gegenwart durch die Analyse der Ursprünge zu erhellen. Diese theoretische Position manifestiert sich in einer zweigeteilten Struktur des Werks: einem ersten Teil, der der theoretischen Problematisierung des Begriffs gewidmet ist, und einem zweiten Teil, der sich auf die Analyse der Formen und Inhalte der sogenannten römischen „antiquarischen Literatur“ konzentriert.
Im ersten Kapitel (Wege der Forschung: Deutungslinien und Narrative) steht die Analyse des berühmten Essays Ancient History and the Antiquarian von Arnaldo Momigliano (1950) im Mittelpunkt, in dem eine klare Gegenüberstellung zwischen den „Antiquaren“, die sich der systematischen Sammlung materieller und kultureller Daten widmen, und den „Historikern“, die sich auf die Erzählung politischer Ereignisse konzentrieren, vorgenommen wird. Obwohl Schwitter die Bedeutung und den Einfluss dieses Modells anerkennt, weist er auf dessen Grenzen hin: Die von Momigliano vorgeschlagene Dichotomie erweist sich im Licht neuerer Forschung als übermäßig rigide und von modernen Kategorien geprägt, die rückprojizierend auf die antike Welt angewendet wurden. Dennoch bleibt die Argumentationsstruktur des Kapitels in Teilen an eben jenem bipolaren Schema orientiert, das eigentlich kritisiert werden soll, und läuft so Gefahr, eine binäre Sichtweise der Geschichtsschreibung zu reproduzieren. Ein bedeutender Teil des Kapitels ist der Rezeption der Fasti Ovids gewidmet, die häufig als Beispiel antiquarischer Dichtung angesehen werden. Schwitter bietet eine alternative Lesart an, in der er die hybride und ambivalente Natur des Werkes hervorhebt, das zwischen Gelehrsamkeit, Ironie und literarischem Spiel oszilliert. Die Fasti sind keineswegs ein systematisches Wissenskompendium, sondern involvieren den Leser in eine komplexe Reflexion über das Verhältnis zwischen Text und Erkenntnis. Die Verwendung der Fasti als exemplarischer Fall für die Ambiguität antiquarischen Wissens wirft jedoch methodische Fragen auf: Aufgrund seines stark literarischen und intertextuellen Charakters eignet sich Ovids Werk nur bedingt als generalisierbares Paradigma für das gesamte antiquarische Phänomen.
Im zweiten Kapitel (Perspektiven des Antiquarianismus) setzt sich Schwitter mit der theoretischen Bestimmung des Antiquarianismus in der griechisch-römischen Antike auseinander. Er kritisiert sowohl die terminologische Unschärfe der modernen Tradition als auch den oft anachronistischen Zugriff der neueren Forschung. Begriffe wie antiquarius oder Altertumsforscher seien Produkte einer späthumanistischen Rezeption und hätten keine exakte Parallele im antiken Sprachgebrauch. Trotz dieser Problematik hält Schwitter an der Verwendung des Begriffs fest, schlägt jedoch eine kritische und kontextgerechte Neudefinition vor. Er versteht den Antiquarianismus als transversales epistemisches Modell, das nicht als abgeschlossene Disziplin, sondern als ein Bündel von Praktiken zur ursprungsbezogenen Deutung der Gegenwart fungiert. Im Zentrum stehen dabei drei erkenntnistheoretische Verfahren: Ätiologie, Etymologie und Genealogie. Ziel ist nicht die kontinuierliche Erzählung historischer Abläufe, sondern die punktuelle Erklärung kultureller, rechtlicher oder religiöser Phänomene als Resultate ursprünglicher Gründungsakte. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Analyse der Begriffe reliquia und vestigium, die Schwitter über das rein Materielle hinaus erweitert. Dazu zählen immaterielle Elemente wie Normen, Bräuche oder rechtlich-religiöse Konzepte. Rom erscheint so als ein Raum dichter kultureller Zeichen, in dem jedes Objekt, jeder Begriff oder jede Institution als Spur einer zu dechiffrierenden Herkunft gelesen werden kann. Trotz dieser differenzierten Konzeption bleibt Schwitters theoretisches Modell nicht spannungsfrei. Die Entscheidung, den Begriff Antiquarianismus beizubehalten, birgt das Risiko, gerade jene Unschärfen zu reproduzieren, die es zu überwinden gilt. Auch die systematische Ausarbeitung des Modells neigt mitunter zur Vereinheitlichung und kann die Vielfalt und Fragmentierung der antiken Zeugnisse glätten. Dennoch bietet das Kapitel einen überzeugenden konzeptionellen Rahmen, um die römische antiquarische Praxis nicht als marginales Phänomen, sondern als eigenständige Form historischer Erkenntnis neu zu bewerten.
Das dritte Kapitel (Verlustlisten und Fragmente: Probleme und Perspektiven) setzt sich differenziert und anregend mit der Problematik der Fragmentierung der antiquarischen Überlieferung auseinander. Schwitter schlägt vor, Fragmente nicht nur als zufällige Überreste, sondern als kulturell geprägte Produkte zu betrachten, die spezifischen Selektionsmechanismen unterliegen. In diesem Zusammenhang führt er die nützliche Unterscheidung zwischen „Fragment“ und „Fragmentierung“ ein – ein konzeptueller Zugriff, der vor naiv-rekonstruktiven Lesarten schützt und die vermittelten, historisch kontingenten Bedingungen der Überlieferung in den Mittelpunkt stellt. Gleichwohl bringt das theoretische Gerüst auch gewisse Herausforderungen mit sich. Die Breite des Referenzrahmens – von Petrarca über Wolf und Heyne bis zur romantischen Philologie – erweitert zwar den kulturellen Horizont, führt jedoch dazu, dass der Fokus auf das römische Material teilweise in den Hintergrund tritt. Das Kapitel verliert dadurch mitunter an analytischer Prägnanz, insbesondere wenn es um die konkrete Auswertung antiker Quellen geht. Hinzu kommt, dass die ständige Verschiebung zwischen unterschiedlichen disziplinären Perspektiven – Philologie, Rezeptionsgeschichte, Kulturphilosophie und Methodologie – die Lektüre erschweren und den argumentativen Zusammenhang für weniger spezialisierte Leser unübersichtlich machen kann. Der Anspruch, jede theoretische Grundlage systematisch zu hinterfragen, ist zwar methodisch konsequent, birgt jedoch das Risiko eines lähmenden Skeptizismus, der den praktischen Umgang mit Fragmenten eher verkompliziert als fördert. Trotz dieser Spannungen stellt das Kapitel einen bedeutenden Beitrag dar. Es problematisiert auf originelle Weise ein zentrales und oft vernachlässigtes Merkmal der antiquarischen Wissensüberlieferung und eröffnet eine fundierte Reflexion über die Rolle von Fragmenten in der antiken Wissensgeschichte.
Im Kapitel Antiquarianismus in monographischer Form: Rekonstruktion und Formengeschichte widmet sich Schwitter der Frage, ob sich aus fragmentarisch überlieferten und häufig nur indirekt bekannten Quellen eine eigenständige monographische Form der römischen antiquarischen Literatur rekonstruieren lässt. Ziel ist es, eine funktionale und strukturelle Eigenlogik solcher Texte herauszuarbeiten, die zwar keiner antiken Disziplin im engeren Sinne zuzuordnen sind, jedoch methodische und formale Gemeinsamkeiten aufweisen. Das Kapitel gliedert sich in zwei Abschnitte. Im ersten entwirft Schwitter eine Typologie antiquarischer Werke, die er in drei Hauptkategorien unterteilt: spezialisierte Monographien (etwa zu Recht, Genealogien, Etymologien, Kalendern), kompilatorische Sammlungen (z. B. Kataloge von Erfindern oder ätiologische Texte) sowie enzyklopädische Handbücher. Diese Systematisierung, bei aller Bewusstheit für die lückenhafte Überlieferungslage, zielt auf die Rekonstruktion einer internen Logik der römischen antiquarischen Produktion, die sich sowohl von narrativer Historiographie als auch von antiker Fachwissenschaft abhebt. Im zweiten Teil untersucht Schwitter die spätantiken Werke De mensibus und De magistratibus von Johannes Lydos als späte Ausprägungen der römischen antiquarischen Tradition. Er betont deren systematische Struktur, die vielfältige Quellennutzung sowie das Zusammenspiel von antiquarischem Wissen, Religion und Verwaltung. Problematisch bleibt jedoch, inwieweit diese byzantinischen Texte als Modelle für frühere Epochen herangezogen werden können – eine methodische Fragestellung, die zwar benannt, aber nicht vertieft wird. Schwitter unterstreicht die epistemische Bedeutung der Monographie als Wissensform, räumt aber zugleich die Spannungen zwischen Systematisierung und fragmentarischer Überlieferung ein. Das postulierte „monographische Genre“ bleibt daher ein nützliches, aber riskantes Deutungsinstrument.
Im ersten Kapitel des zweiten Teils seiner Studie (Vorgeschichte – Eine lange griechische Tradition) behandelt Schwitter ein zentrales, bislang aber oft marginalisiertes Thema: das Verhältnis zwischen dem römischen antiquarischen Denken und seinen griechischen Wurzeln. Ziel ist es nicht, eine vollständige Übersicht zu bieten – was aufgrund der fragmentarischen Überlieferung kaum möglich wäre –, sondern vielmehr ein kohärentes Bild der zentralen Ausdrucksformen von Ursprungsinteresse, Erinnerungskultur und Gelehrsamkeit in der griechischen Welt von der archaischen Zeit bis in den Hellenismus zu zeichnen. Schwitter macht deutlich, dass das römische Konzept des Antiquarianismus nur im Lichte seiner griechischen Vorgeschichte verstanden werden kann. Formen des Wissens, die wir heute als „antiquarisch“ bezeichnen würden, finden sich bereits in frühen griechischen Texten: Kosmologien, mythische Genealogien und aitiologische Erklärungen von Kulten, Institutionen und Toponymen dienten dazu, das Gegenwärtige durch Rückbezug auf das Vergangene zu deuten – ein erkenntnisleitendes Interesse, das bereits vor der Entstehung einer eigentlichen Historiographie zu beobachten ist. Zwischen dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. verdichten sich diese Ansätze zu systematischeren Textformen, etwa bei Hekataios, Ephoros, Philochoros oder in der peripatetischen Schule, wo mythische, ethnographische, sprachliche und institutionelle Daten gesammelt und in Monographien geordnet werden. Schwitter analysiert eine Vielzahl von Disziplinen – von Naturphilosophie über Medizin und homerische Philologie bis hin zur stoischen Etymologie und hellenistischer Enzyklopädie – und zeigt, dass all diese Wissensfelder ein gemeinsames Interesse an Ursprüngen und der Bewahrung von Wissen teilen. Dadurch ergibt sich ein Bild antiken Wissens als tief geschichtet, in dem moderne Kategorien wie „Wissenschaft“, „Literatur“ oder „Gelehrsamkeit“ kaum greifen. Besonders gelungen sind die Abschnitte über die alexandrinischen Grammatiker, über Periegeten wie Polemon und über ätiologische Kompilatoren wie Kallimachos und Apollodor. In diesen Kontexten erscheint der Antiquarianismus als hochspezialisiertes, technisch ausgereiftes Wissen, das eng mit der Entwicklung von Bibliotheken und neuen Wissensstrukturen verbunden ist. Zugleich ist die Beschäftigung mit Ursprüngen häufig ideologisch oder identitätspolitisch motiviert – die Rekonstruktion der Vergangenheit ist nie neutral, sondern stets perspektivisch geprägt. Dennoch bleibt der Text nicht ohne Schwächen. Die Fülle an Materialien und Verweisen erschwert an manchen Stellen die Argumentation und wirkt bisweilen zerfasert. Besonders die Passagen zur hellenistischen Wissenschaft und Sprachtheorie sind sehr dicht und hätten von größerer Straffung profitiert. Trotz der methodischen Vorsicht wirkt die Rückprojektion eines einheitlichen „antiquarischen Modells“ auf die griechische Antike mitunter konstruiert – die Quellen liefern nicht immer eine kohärente Struktur, wie sie teilweise suggeriert wird.
Das sechste Kapitel, Literaturgeschichtliche Entwicklungslinien in Rom (2. Jhd. v. Chr. – 3. Jhd. n. Chr.), bietet eine differenzierte Analyse der Entwicklung der römischen antiquarischen Literatur und strukturiert diese in drei Phasen. In der ersten Phase (Mitte des 2. bis frühes 1. Jh. v. Chr.) konstituiert sich Antiquarianismus als eigenständige Form gelehrter Praxis, insbesondere in Verbindung mit Philologie, Grammatik und Recht. Das Interesse an der Herkunft von Institutionen, Riten und Begriffen nimmt dabei deutlich erkennbare Züge an, auch wenn die Textüberlieferung oft fragmentarisch bleibt. Die zweite Phase (1. Jh. v. Chr.) ist geprägt durch eine breitere thematische Ausdifferenzierung und das Streben nach enzyklopädischer Systematisierung – prominent bei Varro und Verrius Flaccus. Diese Gelehrsamkeit steht in engem Zusammenhang mit kulturellen und politischen Zielsetzungen, vor allem im Kontext der augusteischen Identitätskonstruktion. Die dritte Phase (1. bis 3. Jh. n. Chr.) ist durch verstärkte Kompilation, Reorganisation und Tradierung gekennzeichnet. Schwitter versteht den Antiquarianismus nicht als bloße Ansammlung von Fakten, sondern als aktives epistemologisches Modell zur historischen Sinnstiftung. Er betont die Fähigkeit dieser Wissensform, sich unterschiedlichen kulturellen Anforderungen anzupassen. Allerdings zeigt sich eine gewisse Einseitigkeit: Die Analyse konzentriert sich stark auf textinterne Strukturen, während institutionelle, soziale oder mediale Rahmenbedingungen kaum berücksichtigt werden. Dennoch liefert das Kapitel einen wichtigen Beitrag zur Neubewertung der römischen antiquarischen Literatur. Es widerspricht überzeugend der traditionellen Abwertung dieser Texte als bloße Kompilationen und präsentiert sie als eine dynamische und kulturell bedeutende Form historischer Wissensverarbeitung.
Im abschließenden Kapitel zieht der Autor die Bilanz seiner Untersuchung und unterstreicht erneut den epistemologischen Wert des Antiquarianismus als Instrument zur Sinnstiftung und kulturellen Gedächtniskonstruktion. Schwitter argumentiert die funktionale Vielfalt und formale Fluidität des Phänomens. Dieser Ansatz vermeidet zwar rigide Begriffsbestimmungen, erschwert jedoch mitunter eine klare Abgrenzung des Untersuchungsfeldes. Das Werk endet mit einem Plädoyer für eine Neubewertung der Rolle des Antiquarianismus in der intellektuellen Geschichte Roms, lässt jedoch nicht immer deutlich werden, wie sich theoretisches Modell und konkrete Textproduktion zueinander verhalten.
Insgesamt ist Antiquarianismus in Rom ein Werk von großem Umfang, das durch die Fülle des Quellenmaterials und die theoretischen Anregungen überzeugt. Der innovative Beitrag liegt in der theoretischen Reprofilierung des römischen Antiquarianismus als eigenständigem epistemologischen Modell. Anstatt abschließende Antworten zu geben, wirft das Werk Fragen auf, die zukünftige Forschungen produktiv anregen dürften.