Die Verfasserin (= Vf.) des zu besprechenden Buchs ist Professorin für Geschichte der Spätantike und des frühen Mittelalters an der FU Berlin. Sie legt hier ihre erste Monografie vor, die im Kern auf ihre Wiener Dissertation bei Walter Pohl aus dem Jahr 2013 zurückgeht. Substantielle Überarbeitungen scheint die Vf. für die Veröffentlichung jedoch nicht vorgenommen zu haben. Die Grundthese der Arbeit ist, dass Cassiodor (um 480/5 – um 580), der in der ersten Lebenshälfte als Verwaltungsbeamter am Hof des Ostgotenkönigs Theoderich wirkte, eine erste Fassung seines Psalmenkommentars in seiner Zeit am Hof Iustinians (vor 554) abfasste, wohingegen die gewöhnlich als Werk der monastischen Zeit in Vivarium geltende Endfassung des Kommentars eher den Status einer Überarbeitung habe. Den politikhistorischen Implikationen dieser „Erstfassung“ geht die Vf. nach: „Während die bisherige Forschung die Expositio psalmorum (EP) in erster Linie mit Blick auf das monastische Milieu in Vivarium untersucht hat, soll der Kommentar in diesem Buch im Kontext seiner ursprünglichen Entstehung in Konstantinopel gelesen werden.“ (S. 14) Die Studie ist dabei in drei Teile gegliedert; voran steht eine Einleitung, beschlossen wird sie mit einer Zusammenfassung und diversen Verzeichnissen.
Der erste Teil nimmt in zwei Kapiteln Cassiodor als Exegeten in den Blick. Der Autor wird biografisch und im Blick auf seine politischen Schriften sowie sein exegetisches Hauptwerk, die Psalmenauslegung, vorgestellt. Es folgt eine Verhältnisbestimmung des römischen Autors zum biblischen Israel und zum zeitgenössischen Judentum. Insbesondere dieses Kapitel leidet darunter, dass die Diskussionen der letzten zwanzig Jahre um ein Verständnis des antiken Judentums – gerade auch im Blick auf das Judentum des Westens – nur sehr vereinzelt wahrgenommen und eingearbeitet werden. Hier befremden auch pseudoetymologische Aussagen wie: „die in der christlichen Exegese traditionelle Deutung ‚Israels’ als ‚Gott sehend’“ (S. 109) – Israel (hebr. yisra-el) wird Genesis 32,28V sehr eindeutig als contra deum forte fuisti erklärt. An anderer Stelle stehen steile Sätze wie „immerhin war die christliche Perspektive auf die Juden von Beginn an stark durch die Bibel und ihre Exegese geprägt, weshalb sich die Argumentationsfiguren und die Formen der anti-jüdischen Rhetorik in Exegese und polemischen Traktaten vielfach überschneiden“ (S. 189); ein solches Urteil wird den differenzierten Versuchen der letzten Jahre zu den Trennungsprozessen von Judentum und Christentum nicht ansatzweise gerecht.[1]
Anknüpfend an Jacob Neusner und Hans Blumenberg versteht die Vf. im weiteren Israel als „Soziale Metapher“ (Kap. 2.2, S. 110-119) und versucht aufzuzeigen, wie Cassiodor Israel im Blick auf die Kirche mit Begriffen wie „Gottesvolk“ deutet; hier werden sehr sinnvoll Cassiodors Exegesen einzelner Psalmen ausgedeutet. Keine 80 Buchseiten später wechselt das Interpretament zu Jeremy Cohens Begriffsbestimmung eines „Hermeneutischen Judentums“ (S. 193). Für die Vf. heißt das: „Cassiodors anti-jüdische Rhetorik zielte also nicht in erster Linie (wenn überhaupt) darauf, tatsächlich existierende zeitgenössische Juden zu beschreiben, geschweige denn, mit ihnen in Dialog zu treten. Vielmehr diente sie als Vehikel für innerchristliche Polemik.“ (S. 195)
Im zweiten Teil wendet sich die Vf. in drei Kapiteln der Thematik „Exegese und Ethnizität“ zu. Insbesondere die Interpretation des gentes-Begriffs und die Verwendung des Terminus populus dei werden hier beleuchtet, da nun zeitgeschichtlich neben Römern v. a. auch die Goten in den realpolitischen Blick geraten und eine Interpretation der Kirche aus den Völkern (gentes) einer Neuinterpretation bedarf. Im 3. Kapitel diskutiert die Vf. methodische Ausgangspunkte, v. a. die Frage nach dem gentes-Begriff selbst. Im 4. Kapitel widmet sie sich der Übertragung von populus dei vom biblischen Israel auf das Christentum, in christlich-theologischer Terminologie der Substitionstheorie, obgleich Israel trotz der theologischen Abwertung für Cassiodor weiterhin Volk Gottes zu bleiben scheint. Zugleich erfahren die gentes als die Feinde des biblischen Israel eine Aufwertung, weil sie nun als Teil des populus christianus das Fundament der ecclesia ausmachen (4. und 5. Kapitel).
Der dritte Teil wendet sich unter der Überschrift „Exegese und Orthodoxie“ in zwei Kapiteln der Haltung Cassiodors in den dogmatischen, v. a. christologischen, Streitigkeiten des 6. Jahrhunderts zu. Obgleich Cassiodors Exegese sich an derjenigen des Theodor von Mopsuestia orientierte, grenzte er sich von jenem in der Folge des Dreikapitelstreits ab und orientierte sich an der Iustinianschen bzw. „nizänischen“ bzw. neuchalkedonensischen Orthodoxie. Gleichwohl vermeidet er eine zu scharfe Abgrenzung vom „Arianismus“ – dem Homöertum – der Goten. Stattdessen mache Cassiodor unter Rückgriff auf die Väterliteratur – insbesondere Augustinus – sowohl die neunizänische Ausdeutung der Trinitätslehre, aber auch die chalkenodensische Zwei-Naturenlehre und die Betonung der Menschwerdung Gottes stark.
Die vorliegende Monografie ist zweifellos ein gewichtiger Beitrag zur Cassiodorforschung. Dennoch hinterlässt die Lektüre einen schalen Beigeschmack. Nicht nur die zahlreichen Redundanzen (z.B. wiederholt die Vf. in der allgemeinen Zusammenfassung auf S. 435 die Gedanken von S. 432; der gesamte Abschnitt 7.4 stellt eine Wiederholung von zuvor Gesagtem dar) – mit einem ordentlichen Lektorat hätten sich bestimmt 50 Seiten kürzen lassen –, sondern v. a. die Unentschiedenheit der Vf. im Blick auf das Ziel der Arbeit irritieren: Mehrfach werden (neue) Ziele formuliert (z.B. S. 29, 35, 66, 103, 213 usf.), aber es fehlt ein roter Faden jenseits der Orientierung am Psalmenkommentar. Daneben verwundern handwerkliche Anfängerfehler, vor denen der Verlag die Vf. anscheinend nicht geschützt hat. Ist die Zahl der Grammatik- und Druckfehler noch überschaubar,[2] sind hier jedoch die zahlreichen Fehler in der Anlage des Literaturverzeichnisses zu benennen.[3]
Notes
[1] Vgl. z.B. die umfangreiche und inzwischen sehr ausdifferenzierte Literatur zum „Parting oft he Ways“, hier zuletzt Jens Schröter et al. (eds.), Jews and Christians – Parting of Ways in the First Two Centuries CE? Reflections on the Gains and Losses of a Model (Beihefte zur Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft, 253), Berlin; Boston: De Gruyter, 2021. – Dagegen spiegelt z.B. S. 106 Anm. 19 einen Forschungsstand von vor 2015.
[2] S. 106 Anm. 19 lies „Edwards“; S. 170: „behandelte Cassiodor anhand von Asaphs Reden über die religiöse Interpretation kriegerischer Ereignisse [was?] und kritisierte …“ (es stellt sich allerdings die Frage, was „Asaph-Reden“ [so auch S. 175] überhaupt sind- in der Bibelwissenschaft werden sie „Aspah-Psalmen, also Gebete oder Lieder Asaphs, genannt); S. 355 lies „Epiphanias“.
[3] An mindestens 20 Stellen finden sich Inkonsistenzen, z.B. wird „van“ bzw. „von“ oder „de“ mal dem Nachnamen vorgestellt, mal dem Nachnamen nachgestellt; mal werden Umlaute wie z.B. „ue“ an anderer Stelle wie „u“ behandelt, mitunter wird die Reihenfolge des Alphabets ignoriert („y“ vor „v“), usw.