BMCR 2024.08.05

Exemplarisches Krisenwissen: Gender in Narrativ und Narration des frühen Prinzipats

, Exemplarisches Krisenwissen: Gender in Narrativ und Narration des frühen Prinzipats. Hypomnemata, 217. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023. Pp. 329. ISBN 9783525302286.

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Das hier zu besprechende Buch von Tim Helmke stellt die überarbeitete Fassung seiner Dissertation dar, die im Jahr 2020 am Fachbereich für Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück angenommen wurde. Die Studie ist dort im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojektes entstanden, in dem unter dem Titel „Die Krise ist weiblich. Soziale Struktur und diskursive Macht als Gender-Problem im klassischen Altertum“ untersucht wurde, inwieweit in Krisensituationen (besonders infolge großer Kriege) in der griechischen und römischen Antike Geschlechterverhältnisse wahrgenommen, bestimmt und unter Umständen neu verhandelt wurden.[1] Helmkes Studie lässt sich also einem Zweig der altertumswissenschaftlichen Geschlechterforschung oder Gender Studies zuordnen, die in jüngerer Zeit insgesamt verstärkte Beachtung gefunden haben.[2] Der Autor setzt sich in seinem Beitrag das Ziel, die „Inszenierung von Weiblichkeit“ (11) in den Werken des Livius (Ab urbe condita) sowie des Valerius Maximus (Facta et dicta memorabilia) zu analysieren, wobei er als zentrale Prämisse festhält, dass Frauenfiguren in den Texten beider Autoren vor allem in Krisennarrativen auftreten. Insbesondere interessiert sich Helmke für die Darstellung von geschlechtlich markiertem Wissen in „Entscheidungssituationen, die prozesshaft gestaltet sind und Übergangsphasen markieren“, um die „Bedeutung der Analysekategorie ‚Geschlecht‘ für die Krisennarration zu klären“ (19).

Nach einer Einleitung (11-34), die Ausführungen zur Methodik der Studie sowie einen Forschungsbericht enthält, bearbeitet Helmke sein Thema in vier Kapiteln, von denen jeweils zwei den Werken des Livius sowie des Valerius Maximus gewidmet sind. Zunächst geht es dabei um „Livius und weibliche Ideale in frührömischen Krisen“ (35-104), bevor „Valerius Maximus und die weiblichen Exempla der Frühzeit“ (105-169) in den Blick genommen werden. In einem weiteren Kapitel analysiert Helmke das Auftreten von Frauenfiguren in der dritten und vierten Dekade des livianischen Werkes (171-238), im letzten Untersuchungsteil stehen Genderstrukturen in solchen Exempla der Facta et dicta memorabilia im Mittelpunkt, die aus der Zeit der römischen Bürgerkriege des ersten Jahrhunderts stammen (239-295).[3] Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie (297-306), eine Bibliographie (307-322) sowie ein Register (Stellen, Namen, Sachen: 323-329) schließen den Band ab.

Obwohl der Begriff im Titel der Arbeit auftaucht und in allen Kapiteln eine zentrale Rolle spielt, verzichtet Helmke auf eine Definition dessen, was im Rahmen der Untersuchung unter dem Terminus „Krise“ zu verstehen ist.[4] Die Lektüre der Studie legt nahe, dass hierunter vor allem die römischen Bürgerkriege, der Zweite Punische Krieg, der Bacchanalien-Skandal des Jahres 186 sowie verschiedene legendenhaft überlieferte Ereignisse der römischen Frühzeit zu fassen seien. Da eine genauere Begriffsbestimmung fehlt, ergeben sich indes Unklarheiten. Zum Beispiel entstammen die Passagen, die Helmke aus der Überlieferung des Zweiten Punischen Krieges im dritten Kapitel untersucht, mehrheitlich gerade nicht dem Kontext der schweren römischen Niederlagen oder der scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen des Krieges, sondern späteren Abschnitten, in denen die Feldzüge auf der Iberischen Halbinsel und in Nordafrika thematisiert werden. Auch die hier geschilderten Ereignisse könnte man unter Umständen noch als Teil eines weiteren Krisennarrativs fassen, doch wäre es vorteilhaft, dies dann auch explizit zu begründen. Ungeachtet der fehlenden genaueren Definition des Untersuchungsgegenstandes erbringt die Untersuchung einige beachtenswerte und instruktive Ergebnisse, die im Folgenden – angesichts des naturgemäß begrenzten Umfangs einer Rezension lediglich auszugsweise – besprochen werden sollen.

Im ersten Kapitel konstatiert Helmke zu Recht, dass Livius in den ersten Büchern von Ab urbe condita „die Idee der römischen Einheit, welche die Gründung der Stadt und ihre sukzessive hegemoniale und institutionelle Festigung nachvollzieht“ als ein wichtiges Motiv der Darstellung immer wieder in den Mittelpunkt rückt (37). Dabei entwickle er „entlang krisenhafter Ereignisse“ auch ein „konsistentes Bild normativer Weiblichkeit“. Helmke arbeitet insgesamt überzeugend heraus, dass Livius die Schilderung diverser Konstellationen, in denen Frauenfiguren prominent auftreten, als eine Form von „Spiegel der frühkaiserzeitlichen Gender- und Werteideale“ gebraucht, um so geschlechterspezifischen Normen der frühen Prinzipatszeit eine größere Autorität zu verleihen – schließlich hätten bereits die exemplarischen Männer und Frauen der Frühzeit entsprechend gehandelt. So sei im Konflikt zwischen Römern und Sabinern zunächst eine Zuspitzung der Situation durch affektives und emotional geleitetes Handeln der männlichen Akteure zu beobachten. Daraufhin überwinden die Sabinerinnen ihre Furcht, die Helmke als weiblich klassifiziert, und stürmen mutig zwischen die kämpfenden Männer, wodurch sie die Lösung des Konfliktes einleiten und zur concordia der wachsenden Gemeinschaft beitragen. Auch in Livius‘ Gestaltung der Lucretia- und der Coriolan-Episode meint Helmke ausmachen zu können, dass weibliche Protagonistinnen zum einen ihre Affekte besser kontrollieren können als die männlichen Figuren, zum anderen „sowohl performativ als auch epistemisch in eine den Männern überlegene Position“ gelangten. Diese Position, die Helmke als transgressiv ansieht, sei „für den Fortgang der Handlung und für die Konstruktion männlicher Handlungsfähigkeit“ entscheidend (56). Dabei erschlössen die Frauengestalten in diesen Episoden mit der concordia (Sabinerinnen), pudicitia (Lucretia) und libertas (Coriolan) den Männern jeweils „Wissen über grundlegende Werte des augusteischen Wertediskurses“ (57), die dann jeweils zur Lösung der Krise beitragen könnten. Die von Helmke angestellten Überlegungen zu diesen Episoden lassen sich durchaus mit Gewinn lesen und eröffnen interessante Einsichten. Allerdings bleibt das mit Abstand umfangreichste Narrativ einer Krise in der ersten Pentade, die Darstellung der Gallischen Einnahme Roms im fünften Buch, hier ganz außen vor, wohl weil Frauenfiguren hier keine so prominente Rolle spielen, wie in den oben genannten Episoden. Doch wenn der Kategorie des Geschlechts eine so große Bedeutung in Livius‘ Konzeption zugewiesen wird, wie es in Helmkes Arbeit der Fall ist, hätte eine entsprechende Untersuchung nur zu weiteren Differenzierung des Befundes beitragen können.

Anhand der Exempla zur römischen Frühzeit, verstanden als Königszeit und frühe Republik bis zum ersten Drittel des vierten Jahrhunderts, in den Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus will Helmke im nächsten Kapitel unter anderem überprüfen, „wie Frauen-Exempla als Abbilder eines tiberianischen Normempfindens konstruiert werden“ (105). Zutreffend ist natürlich die einleitende Feststellung Helmkes, dass der Vergleich zur jeweiligen Darstellung bei Livius zeigt, dass Valerius die betreffenden Episoden in der Regel losgelöst von ihrem historischen und historiographischen Kontext präsentiert. Zudem arbeitet Helmke unter anderem heraus, dass die Frauenfiguren in den von ihm untersuchten Exempla vor allem „auf ihre matronale Rolle beschränkt“ (166) seien, wobei es in der Regel wiederum männliche Akteure beziehungsweise der aus Männern zusammengesetzte Senat seien, die als Bewertungsinstanzen für normentsprechendes Verhalten dienten. Während sich bei Livius punktuell Gendertransgressionen weiblicher Figuren beobachten ließen, fehlten diese bei Valerius. Dafür spiegele sich in den untersuchten Episoden ein frühkaiserzeitlicher Wertediskurs wider, der sich als Niederschlag eines tiberianischen „Wertesystems“ deuten lasse (etwa 112). Einen Unterschied macht Helmke in Hinsicht auf nichtrömische Figuren im Werk aus. Hier seien Frauen wahre Trägerinnen der Exempla, während die Männer „in deutlicher Opposition zur moralischen Exemplarität römischer Männer“ stünden, was wiederum „die moralische Überlegenheit Roms als normatives Idealbild“ im Narrativ des Valerius etablierte (152-153). Indes basiert diese Beobachtung auf einer Untersuchung von lediglich zwei (3,2,ext.9; 6,1,ext.2) der weit über 300 externen Exempla im Werk, so dass eine aussagekräftige Analyse auf einer wesentlich breiteren Datengrundlage erfolgen müsste.[5]

Im zweiten Kapitel, das dem livianischen Werk gewidmet ist, gelingt es Helmke anhand einer Reihe von Passagen aus der dritten Dekade von Ab urbe condita überzeugend herauszuarbeiten, wie Livius die Überlegenheit wichtiger römischer Akteure, vor allem des P. Cornelius Scipio Africanus Maior, gegenüber nichtrömischen Männern als Bestandteil einer moralischen Superiorität Roms insgesamt nutzt. So weiß Scipio gegenüber weiblichen Gefangenen Anstand und Maßhaltung zu wahren, während die numidischen Anführer Syphax und Massinissa ihre Position durch erotische Begierden jeweils selbst schwächen und vom Römer Scipio eines Besseren belehrt werden müssen. In Situationen, in denen die Republik durch politische Auseinandersetzungen oder die Aufdeckung schädlicher Umtriebe geschwächt wird, macht Helmke vorübergehende Wertekrisen aus, die aus einem „fehlenden normativ männlichen Zugriff auf geschlechtlich markierte Ideale“ (237) entstünden. Erst eine (Re)Konstruktion des Wissens über die Bewahrung römischer Tugenden durch männliche Akteure stelle die Ordnung wieder her, wobei es etwa im Fall des Bacchanalienskandals gerade die Hetäre Hispala sei, der es durch eine Transgression ihrer sozialen und geschlechtlichen Rolle gelinge, die führenden Männer Roms auf die Umtriebe hinzuweisen und ihnen die passenden Mittel zum angemessenen Umgang mit den Enthüllungen in die Hand zu geben.

In der Untersuchung einer Reihe von Episoden in den Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus aus dem Kontext der Bürgerkriege meint Helmke im letzten Kapitel die Darstellung einer „Genderkrise zwischen Republik und Prinzipat“ (u.a. 239) konstatieren zu können. Diese macht er unter anderem daran fest, dass Männer auf der Seite der Gegner des späteren Augustus bei Valerius Maximus systematisch aus dem „Narrativ“ der Bürgerkriege ausgeklammert und stattdessen „ihrer Frau hierarchisch unterlegen in den häuslichen Raum verlagert“ (294) würden. Zudem sei im Zeitraum vom Konflikt zwischen Marius und Sulla bis zum Ende der Bürgerkriege generell ein Fehlen „moralisch integrer Männer“ im valerianischen Werk zu konstatieren, was Helmke als „Krise der Männlichkeit“, „Niedergang“ und Zeichen des Endes der Republik deutet. Trotz einiger interessanter Detailbeobachtungen kann das Ergebnis dieses Kapitels nicht überzeugen. So stützt sich die Analyse auf eine recht selektive Lektüre des Werkes, wodurch eine Reihe von Episoden übersehen werden, in denen durchaus normkonformes Verhalten von Männern in der Zeit der Krise der späten Republik präsentiert wird.[6] Nicht zuletzt Cn. Pompeius, der große Gegenspieler des Wegbereiters der iulisch-claudischen Dynastie, erfährt eine durchaus nuancierte und keinesfalls einhellig negative Darstellung.[7] Auch lässt sich aus der Sicht des Rezensenten nicht nachvollziehen, dass die Caesarmörder Brutus und Cassius in den Facta et dicta durchgängig, wie von Helmke konstatiert, „zu den Ergebenen ihrer Frauen“ gemacht und aus dem „Narrativ der Krise der Bürgerkriege“ (293-294) ausgeblendet würden. Beide treten – wie auch andere Gegner Caesars und Octavians/Augustus – in einer Reihe von Exempla in Erscheinung, meist ohne dass ihre Frauen bei dieser Gelegenheit überhaupt genannt würden.[8] Zudem zeigt sich gerade in diesem Kapitel eine gewisse Problematik in der Anwendung der passenden Begrifflichkeit, wenn Helmke wiederholt vom „Narrativ“ schreibt, mit dem Valerius Maximus die Bürgerkriege darstelle. So hat die neuere Forschung zu Valerius in der Tat zeigen können, dass sich durch eine kontinuierliche Lektüre des Werkes tiefere Einsichten ergeben als eine isolierte Betrachtung einzelner Exempla erbringen kann – und dass Valerius eine solche Lektüre wohl auch nahelegen wollte.[9] Allerdings ist Vorsicht dabei geboten, aus dieser Erkenntnis heraus weitgespannte „Narrative“ zu einzelnen Themen im Werk zu identifizieren. Im Gegensatz etwa zum Text des Livius sind die Einträge, die Helmke in beiden Valerius-Kapiteln diskutiert, schließlich weit über die rund 1.000 Einträge der Facta et dicta verstreut, so dass nicht umstandslos davon ausgegangen werden kann, dass seine Leserschaft ein „Narrativ“, das sich durch ein Zusammenwirken von so weit auseinanderliegenden Episoden ergibt, erkannte. Naheliegender erscheint es, zunächst die Anordnung der Exempla in einzelnen Kapiteln (gegebenenfalls auch über Kapitelgrenzen hinweg) zu untersuchen, was jedoch in beiden dem Text des Valerius gewidmeten Abschnitten der Arbeit leider ausbleibt.

Den Rezensenten haben also nicht alle Abschnitte der Studie in gleichem Maße überzeugen können, und nicht jede Leserin und jeder Leser wird wohl alle untersuchten Passagen genauso deuten werden, wie es Helmke tut. Dennoch lässt sich festhalten, dass Helmke insgesamt eine überaus anregende Studie vorgelegt hat, die die Tragfähigkeit der Analysekategorie ‚Geschlecht‘ für zwei zentrale Texte der frühen Prinzipatszeit demonstriert und so interessante Perspektiven für weitere Forschungen eröffnet. Wer sich zukünftig mit den Themenfeldern „Gender“ und „Krise“ in Texten der späten Republik und frühen Kaiserzeit beschäftigt, wird die Studie daher mit Gewinn lesen.

 

Notes

[1] Projektbeschreibung auf der Website der Universität Osnabrück: https://www.altertumswissenschaften.uni-osnabrueck.de/de/projekt/projektbeschreibung.html.

[2] Siehe etwa (jeweils mit weiteren Hinweisen) Barbara Kowalewski, Frauengestalten im Geschichtswerk des T. Livius (Beiträge zur Altertumskunde 170), München/Leipzig 2002; Rebecca Langlands, Sexual Morality in Ancient Rome, Cambridge 2006; Christoph Ulf, Robert Rollinger (Hg.), Frauen und Geschlechter, Wien 2006; Tanja Scheer, Griechische Geschlechtergeschichte (Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike 11), München 2011; Daniel Albrecht, Hegemoniale Männlichkeit bei Titus Livius (Studien zur Alten Geschichte 23), Heidelberg 2016; Jan B. Meister, Seraina Ruprecht (Hg.), Weiblichkeit – Macht – Männlichkeit. Perspektiven für eine Geschlechtergeschichte der Antike (Geschichte und Geschlechter 79), Frankfurt/New York 2023.

[3] Alle Jahreszahlen zur römischen Geschichte sind, sofern nichts anderes vermerkt wird, als solche „vor Christus“ zu verstehen.

[4] Vgl. hingegen kürzlich Jacqueline Klooster, Inger N.I. Kuin, What Is a Crisis? Framing versus Experience, in: Jacqueline Klooster, Inger N.I. Kuin (Hg.), After the Crisis. Remembrance, Re-anchoring and Recovery in Ancient Greece and Rome, London 2020, 3-14.

[5] In ihrer ausführlichen Studie zu den externen Exempla hat Sarah Lawrence nachweisen können, dass Ethnizität keine zentrale Kategorie für die Bewertung von Individuen und Gruppen bei Valerius Maximus darstellt: Sarah Jane Lawrence, Inside Out. The Depiction of Externality in Valerius Maximus, Dissertation University of Sidney 2006 (fehlt in Helmkes Bibliographie, wie auch die weiteren einschlägigen Arbeiten von Lawrence).

[6] Siehe u.a. Val. Max. 3,2,22a; 3,2,23; 3,8,5.

[7] Siehe hierzu demnächst Tanja Itgenshorst, “Quo te nunc modo, Magne Pompei, attingam nescio …”. Überlegungen zum Bild des Pompeius in den Facta et dicta memorabilia des Valerius Maximus, in: Christian Wendt, Julia Wilker (Hg.), Colloquium für Ernst Baltrusch.

[8] Etwa Val. Max. 1,4,7 Par./Nepot.; 1,5,7; 1,5,8; 3,1,3; 3,2,13; 3,2,14; 4,7,4; 5,1,11; 6,4,5; 9,9,2.

[9] Siehe hierzu die inzwischen klassische Studie W. Martin Bloomer, Valerius Maximus and the Rhetoric of the New Nobility, Chapel Hill/London 1992, sowie zuletzt ausführlich u.a. zur literarischen Gestaltung von Büchern, Kapiteln und Übergängen in den Facta et dicta Thomas Tschögele, Die Erzählungen des Valerius Maximus (Bibliothek der Klassischen Altertumswissenschaften. N.F. 2. Reihe 165), Heidelberg 2022.