Jan Königs Buch ist ein wahrhaftes μέγα βιβλίον, nicht primär im kallimacheisch-polemischen Sinne, sondern zunächst einmal vom äußeren Anschein: nicht nur fast 500 Seiten dick, sondern auch im heutzutage ungewöhnlichen Großformat (31 cm hoch, 1200 g schwer), mit zahlreichen Tabellen und Graphiken versehen – die Frucht einer mehrere Jahre langen Arbeit an seiner 2022 abgeschlossenen Münchner Dissertationsschrift. Königs Buch ist nicht nur im Wortsinne nicht leicht, es macht es auch seinen Lesern nicht leicht, da es die schon aus zeitökonomischen Gründen oft praktizierte selektive Lektüre (gestützt durch Inhaltsverzeichnis und Register) nur mit Mühe erlaubt. Es ist auch kein Zufall, dass es eine halbseitige Anleitung zur Benutzung des Buches gibt (10), die u.a. das System der Querverweise und Unterstreichungen erläutert.
Das Buch besteht aus drei (Haupt)Teilen, nämlich einer methodisch-theoretischen Grundlegung (Textproduktion und -rezeption. Theoretische und methodologische Reflexionen. 11-48), einem Gang durch die Rezeptions- und Transformationsgeschichte der liebesdidaktischen Elegien Ovids von den antiken Anfängen bis ins 20. Jahrhundert (Einer, Keiner, Hunderttausend: Rezeptionsgeschichte zu Ovids liebesdidaktischem Zyklus. 49-369) – der bei weitem längste Abschnitt – sowie eigenen Interpretationen, die die Ovids Texten inhärente Aufforderung zur Rezeption erörtern (Provozierte Rezeption: Ovids Rollenspiele, 370-418).
Im ersten Hauptkapitel (11-48) entwickelt König, unterstützt von zahlreichen graphischen Darstellungen, sein theoretisches Gerüst, ein Modell der Kommunikation und der Textproduktion. Davon ausgehend versteht König die Rezeption eines Textes als einen kommunikativen Prozess. König baut dabei auf den Ergebnissen des früheren Berliner Sonderforschungsbereichs „Transformationen der Antike“, besonders auf dem dort entwickelten Konzept der „Allelopoiese“ auf, also der Wechselwirkung zwischen Referenzbereich und Aufnahmebereich, wobei die Rezeption in gewisser Weise auch das Ausgangsmaterial formt. Mögliche Formen der Rezeption definiert König mit den Termini „Kopie“ (also exakte Wiederholung), „Kommentar“, „Re.produktion“ (eine nicht textidentische Wiedergabe des Ausgangsmaterials, wobei durch die auffällige Graphie der produktive Aspekt des Prozesse hervorgehoben werden soll), „Ignoranz“ (also: „Null-Wiedergabe“) und schließlich „Kreation“ (eine vom Ausgangsmaterial unabhängige Neuschöpfung). Selbst in dieser beinahe unzulässig komprimierten Darstellung wird deutlich, wie komplex, manchmal auch überkomplex, und voraussetzungsreich Königs Ansatz ist. Anders als so manche theoretische Einleitungskapitel von (gedruckten) Dissertationen kann diese Grundlegung weder en passant gelesen noch gar übersprungen werden, denn dann würde man sich in den folgenden Teilen nicht mehr zurechtfinden.
Der Hauptteil, mehr als dreihundert Seiten lang, gilt der Rezeptionsgeschichte von Ars amatoria und Remedia amoris. König beginnt mit Ovid selbst, mit rem. 357-364, wo Ovid auf die Darstellung sexueller Praktiken in ars 2 und 3 zurückblickt. Auf eine kontextualisierende Darstellung folgt jeweils eine Tabelle mit dem lateinischen Text, begleitet von einer dezidiert am fremdsprachlichen Wortlaut orientierten Übersetzung sowie einer mal kürzeren, meist aber längeren Kommentierung der behandelten Passage. Die von König zusammengetragenen und interpretierten Rezeptionszeugnisse demonstrieren den enormen Fleiß und die ebenso große Findigkeit und Belesenheit Königs. Ich könnte kein einziges Dokument der einschlägigen Ovidrezeption nennen, das bei König nicht behandelt wäre. Für die Antike (52-75) sind das neben Ovid selbst: Seneca rhetor, Martial, Iuvenal, Apuleius, Maximinian, um von kleineren Referenzen wie in der Anthologia Palatina zu schweigen.
Ich übergehe die Nennung einzelner Autoren und Texte des Mittelalters (76-146), für die König herausarbeitet, dass von den erotodidaktischen Werken eine ambivalente Faszination ausging: der problematische Gegenstand, die freie, nicht-eheliche Liebe, und die hohe rhetorische Kunst stehen in einem für die Rezeption produktiven Spannungsverhältnis. Ähnlich umfangreich, mit Dante beginnend, ist die Ovid-Rezeption der Renaissance (147-215), wie sie vor allem in den Liebeskonzeptionen von Petrarca und Boccaccio sichtbar wird; das Misstrauen gegenüber Ovids Erotik steht dem neu erwachten Interesse an den antiken Autoren gegenüber. Ein Ausweg, der sich im Mittelalter wie in der Renaissance auftut, ist die Trennung von Autor und schreibender persona, die Annahme einer literarischen Maske, die gewissermaßen Ovid vor sich selbst rettet. Deutlich schwieriger wird Ovids Position vom 17. bis ins 20. Jahrhundert (216-318), wenn sich – nach einem letzten Aufschwung vor allem im französischen Barock – die Abwertung der lateinischen Literatur gegenüber der griechischen und die mit Ovid kaum kompatible romantische Auffassung von Liebe zusammenfinden, woran auch einzelne abgewogenere oder gar auf Rehabilitation abzielende Stimmen wie die Eduard Nordens (307) nichts ändern konnten. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, besonders nach 1970 wurden dann die erotodidaktischen Werke Ovids in der Wissenschaft, zögerlicher in der Schule und der kulturellen Öffentlichkeit wiederentdeckt (319-358). König spricht sogar von einer neuen aetas Ovidiana (356 u.ö.), was ich noch ein wenig zurückhaltender sehe, aber einig bin ich mir mit ihm, dass der neue Erfolg auch Probleme mit sich bringt, da in Schule und auch kultureller Öffentlichkeit tendenziell eine affirmativ-naive Aneignung zu greifen ist, während die internationale Forschung Aspekte wie Rhetorik, Intertextualität, auch Politik in den Vordergrund stellt.
Das dritte Hauptkapitel (370-418) greift noch einmal den kommunikationstheoretischen Ansatz vom Anfang auf (auch mit leicht variierter Reprise der graphischen Darstellungen) und schließt damit den Kreis. Königs Antwort auf die Frage, wie die so vielfältige und vielschichtige Rezeption zu erklären ist, lautet: „Ovid schreibt mit dem Anspruch, mit einem ihm teils unbekannten Leserkreis zu kommunizieren und er spielt mit diesem Anspruch. ‚Wenn jemand in diesem Volk…‘ – sein erotodidaktischer Zyklus ist deshalb der Versuch, via eines konzisen Ratgebers eine Bandbreite an weiteren Kommunikationsangeboten im Text zu hinterlegen: direkte Komik, versteckte Ironie, explizite Weisungen und indirekte Impulse zur Reflexion“ (415).
Die Anhänge (419-429) bieten detaillierte Aufbauschemata der behandelten Bücher sowie eine Aufstellung der Sprecheraufteilung auf die 1., 2. und 3. grammatikalische Person, womit die Struktur des jeweiligen erotodidaktischen Zugriffs illustriert wird. Es folgt das mehr als dreißig Seiten umfassende Literaturverzeichnis, wobei die Zusammenstellung der Primäliteratur noch einmal eine Art von Repertorium der Ovid-Rezeption bildet, das abschließend durch das Namens- und Stellenregister ergänzt wird.
Königs Buch ist gewiss ein Meilenstein der Forschung zur Rezeption von Ovids erotodidaktischen Werken, viel mehr als nur ein Katalog, sondern eine genaue interpretatorische Durchdringung von Ovids Texten genauso wie der Rezeptionsdokumente, eingebettet in ein schlüssiges theoretisches Konzept. Es ist sehr zu hoffen, dass die nicht immer leichte Lektüre dem Erfolg des Buches nicht im Wege stehen und es seinen Weg in die internationale Forschung nehmen – also seinerzeit rezipiert und weitergedacht werden wird. Die Ovid-Forschung ist genauso eine dauernde Aufgabe wie die Rezeption Ovids selbst eine Geschichte mit notwendig offenem Ende ist, denn die Vielschichtigkeit ist eine dauernde Herausforderung: „Eindeutig ist die literarische Wahrheit dieser Texte nicht, und das ist sicher ebenso eine Kernaussage ovidischer Dichtung: Wer Eindeutigkeit, wer Allgemeingültigkeit sucht, wird enttäuscht, nicht zuletzt in der Liebe. Und Dichtung wäre nicht Wahrheit, wäre sie eindeutig – darin liegt die einzige eindeutige Botschaft ovidischer Rollenspiele“ (417).
Ein kurzes Nachwort: Königs Buch ist in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienen. Die WBG hat am 2. Januar 2024 zu existieren aufgehört, ein geringer, im Moment noch nicht genauer spezifizierter Teil des Programms ist vom Herder-Verlag Freiburg übernommen worden (https://www.herder.de/wissen/). Ob das Buch also weiter im Buchhandel erhältlich ist, ist im Augenblick ungewiss. So bleibt die Hoffnung, dass die im Open-Access-Verfahren publizierte PDF-Version auf Dauer abrufbar bleibt: https://www.fachdidaktik.klassphil.uni-muenchen.de/aktuelles/neu-erschienen_tribute1/index.html.