BMCR 2024.02.42

Die Sukzession von Weltreichen: zu den antiken Wurzeln einer geschichtsmächtigen Idee

, Die Sukzession von Weltreichen: zu den antiken Wurzeln einer geschichtsmächtigen Idee. Oriens et occidens, 38. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2022. Pp. 704. ISBN 9783515131957.

Geschichte wurde lange Zeit weder als geradliniger Weg zu Fortschritt und Freiheit gesehen, noch als offene, rein mechanisch zusammenhängende Folge teleologisch mehr oder weniger „sinn“loser Ereignisse. Es überwogen vielmehr konzeptuelle Zugänge, welche die Gegenwart als unweigerlichen Abfall im Vergleich zu einem früheren, „Goldenen“ Zeitalter interpretierten, oder den Akzent auf die beständige Wiederholung analoger Schemata in der Regierung aufeinanderfolgender Einzelherrscher legten, oder Geschichte als Sukzession in sich geschlossener, mehr oder weniger zyklisch strukturierter historischer Größen interpretierten wie etwa Dynastien, Hegemonialstrukturen („Weltreiche“) oder heilsgeschichtliche Sinneinheiten – und natürlich waren auch die verschiedensten Kombinationen zwischen diesen Zugängen denkbar.

Die vorliegende Studie widmet sich dem Gedanken der Geschichte als Abfolge verschiedener „Weltreiche“ im mediterran-vorderasiatischen Raum im Altertum und stellt die leicht überarbeitete Fassung einer 2019 in Kiel vorgelegten Dissertation dar. Das Thema wurde bislang trotz vieler Einzelstudien noch nie in angemessener Länge monographisch behandelt und ist bis heute geprägt durch eine Vielzahl von zwar logisch scheinenden, nie aber wirklich systematisch nachgeprüften Hypothesen zur Entstehung und Weitervermittlung des Sukzessionsschemas. Somit handelt es sich bei Oelligs Arbeit um die erste erschöpfende Studie zu einem Thema, dessen Bedeutung für die abendländische Geschichts- und Weltsicht kaum zu überschätzen ist: Vom Buch Daniel über die hellenistische und römische Geschichtsschreibung bis zum christlichen Sukzessionsgedanken, der mittelalterlichen Lehre von der „translatio imperii“ und der Erwartung der Wiederkunft des Herrn durchzieht die Vorstellung, Geschichte sei durch eine (manchmal sogar göttlich prädestinierte) Abfolge verschiedener „Weltreiche“ geprägt, deren Legitimation und jeweilige Entwicklung in etwa parallel zu begreifen seien, die gesamte historiographische und auch politikgeschichtliche Entwicklung von Antike und Abendland.

Freilich würde es für eine einzelne Arbeit erheblich zu weit führen, diese Tradition in ihrer Gänze ausführen zu wollen; Oellig legt daher in ihrer Studie den Fokus auf den kritischen Moment der Entstehung dieser Vorstellungen im Vorderen Orient, um dabei herauszuarbeiten, welche verschiedenen Traditionsstränge sich in sumerischer, akkadischer, babylonischer, assyrischer, neubabylonischer, achaimenidischer und hellenistischer Zeit herausgebildet hatten, bevor der Aufstieg Roms und vor allem die Entstehung des Christentums fundamentale Modifikationen der bisherigen Muster erzwangen, die dann bis ins Zeitalter der Aufklärung wirkmächtig bleiben sollten.

Oelligs Arbeit ist zweiteilig: Auf eine kurze Einleitung (11-30) folgt ein erster Hauptteil, der dem vor-hellenistischen Vorderen Orient gewidmet ist, als die Grundlage dafür gelegt wurde, die Geschichte der aus der damaligen geographischen und historischen Perspektive bekannten (bzw. relevanten) Welt als Abfolge der assyrischen, medischen und persischen Weltreiche zu interpretieren (31-388). Dieser erste Hauptteil besteht nach einem kurzen Überblick zum Forschungsstand zunächst aus einer umfangreichen Sektion zu Weltkonzeption und Weltherrschaft im Alten Vorderen Orient (38-275). Aus dieser geht hervor, daß die in der älteren Forschung vielfach vertretene Überzeugung, der Sukzessionsgedanke im Dreischritt Assyrien-Medien-Persien sei am achaimenidischen Hof entstanden, anhand des überlieferten Quellenmaterials so nicht verifiziert werden kann. Die Perserkönige stellten sich zwar in jeder Hinsicht in die Nachfolge ihrer Vorgänger; eine richtiggehende dreistufige Geschichtstheologie bzw. -teleologie ist allerdings nicht nachzuweisen. Einzig aus den Inschriften des letzten, historisch versierten neobabylonischen Königs Nabonid läßt sich ein Ansatz zu einer schematischeren Historisierung der politischen Vergangenheit des Zweistromlands herauslesen; eine richtiggehende Geschichtstheologie ist aber auch hier nicht unmittelbar nachweisbar. Die nächste Sektion der Arbeit behandelt dann die Sukzession der Herrschaft über Asien aus griechischer Sicht (276-377), allen voran bei Herodot und Ktesias. Oellig macht zunächst klar, daß der Sukzessionsgedanke neben möglichen orientalischen Quellen immer auch durch das historische Erleben der Griechen gespeist war, welche durchaus unmittelbare Erfahrungen mit dem Assyrerreich, dem neubabylonischen Imperium und den Medern gemacht hatten, bevor sie in den Bannkreis des Achaimenidenreichs gerieten. Aus kaum noch rekonstruierbaren Gründen scheint aber das neubabylonische Reich rasch aus dem historischen Bewußtsein der Griechen geschwunden zu sein, während das kurzlebige Medische eine immer größere Bedeutung erhielt. Ein wichtiger Faktor hierfür war neben der mündlichen Tradition das Geschichtswerk Herodots, in dem das assyrische und das medische Reich unter weitgehender Mißachtung der Neubabylonier fast nahtlos aneinander anschlossen und die Meder trotz der Dürftigkeit ihrer historischen Spuren als imperiale Matrix für die Perser gesehen wurden: Assyrer-Meder-Perser, dies erscheint zumindest de facto bei Herodot als essentieller Dreischritt zum Verständnis der vorderorientalischen Geschichte und wurde auch von Ktesias übernommen. Dieser weilte zwar persönlich am Perserhof, scheint in seinem Geschichtsbild aber doch eher von Herodot als von ansonsten nicht belegbaren achaimenidischen historiographischen Quellen abhängig gewesen zu sein, blähte dabei aber die medische Geschichte im Vergleich zu Herodot über die Maßen auf, betonte gleichzeitig die Vorbildrolle Assyriens für alle Nachfolgerreiche und bemühte sich schließlich um eine geschichtstheologische Symmetrie der verschiedenen Reiche nach dem Muster von Aufstieg, Dekadenz und Niedergang, womit die Weichen für das spätere Grundschema des Sukzessionsgedankens gestellt waren. Abgeschlossen wird dieser erste Hauptteil der Arbeit durch eine kurze Zwischenbilanz (378-388).

Der zweite, wesentlich kürzere Hauptteil behandelt die hellenistische Zeit (389-530), als zunächst die alexandrinische Welteroberung und dann vor allem die seleukidische (modifizierende) Übernahme des asiatischen Königtums Alexanders das bisherige Dreierschema um eine vierte, makedonische Monarchie erweiterten. Die Strukturierung dieses zweiten Hauptteils erfolgt analog zu der des ersten: Auf einen kurzen Forschungsstand (391-399) folgt eine zweite Sektion, die dem Buch Daniel gewidmet ist (400-439), während die dritte sich mit der Zeit Alexanders und der Seleukiden auseinandersetzt (440-523), bevor dann ebenfalls eine kurze Zwischenbilanz präsentiert wird (524-530). Ergebnis ist hierbei die Vermutung, daß die im Buch Daniel postulierte Strukturierung der Geschichte als Abfolge von vier Reichen als Verformung eines seleukidischen Ideologems seitens eines Mitglied der jüdischen Elite zu betrachten ist, das nicht nur ausgezeichneten Zugang zu jüdischer, sondern auch griechischer Bildung hatte. Auffällig ist bei Daniel freilich die Inklusion Babyloniens als des „ersten“ Weltreichs; eine Inklusion, die mit dem Fehlen Babyloniens bei Herodot und Ktesias (sowie der späteren römischen Weltreichslehre) kontrastiert. Eine mögliche Erklärung hierfür könnte die Rehabilitierung der historischen Erinnerung an Babylonien durch Berossus und natürlich die stark auf Babylon fixierte seleukidische Herrschaftslegitimation gewesen sein. Ein direkter Nachweis für eine seleukidenzeitliche Sukzession von vier Weltreichen als eines positiven und konstruktiven Herrschaftsgedankens (und nicht, wie bei Daniel, als einer negativen Niedergangslehre) findet sich allerdings nur indirekt durch die spätere römische Tradition von den in Rom gipfelnden fünf Weltreichen gegeben, eine Auflistung, die freilich auch durchaus unabhängig von seleukidischer Ideologie auf Grundlage von Herodot und Ktesias hat entstehen können, was einen gewissen Anhaltspunkt bei Dionysios von Halikarnassos findet, der als viertes Reich eben nicht das Seleukiden-, sondern das Antigonidenreich nennt.

Ein vierter, sehr kurzer Teil besteht dann in einem Ausblick auf die letzte und langfristig folgenreichste Modifikation der Weltreichslehre durch die Hinzufügung des fünften und „letzten“ Weltreichs, nämlich Rom (531-554), die sich erstmals in einem Fragment des ansonsten völlig unbekannten Aemilius Sura nachweisen läßt und dann bei zahlreichen Vertretern der frühkaiserzeitlichen Geschichtsschreibung, wenn auch das Ideologem der imperialen Sukzession wohl Oellig zufolge kein expliziter Bestandteil der Principatsideologie war. Die Arbeit wird abgeschlossen durch eine Zusammenfassung (565-583 – in englischer Sprache dann 584-600) und die üblichen Verzeichnisse (zum einen Personen-, Götter- und Gruppennamen, zum anderen Toponyme; ein Stellenregister fehlt leider, was in Anbetracht der großen Zahl und Diversität der benutzten Quellen enorm hilfreich gewesen wäre).

Insgesamt handelt es sich um eine ausgezeichnete, sauber redigierte und auf neuestem wissenschaftlichen Stand argumentierende Studie, die in manchmal geradezu epischer Breite der Frage nach den vorderorientalischen und antiken Wurzeln des Gedankens von der Geschichte als Sukzession großer Weltreiche nachgeht und dabei bis in tiefste Zeiten vorstößt. Besonders bemerkenswert ist dabei zum einen die große interdisziplinäre Geläufigkeit, mit der die Wissenschaftlerin mit den grundverschiedenen Quellengattungen und methodischen Fragestellungen der zahlreichen betroffenen Zivilisationen umgeht, zum anderen die große Vorsicht, mit der sie vor zu übereilten oder einseitigen Hypothesen zurückschreckt. Freilich ist es manchmal nicht einfach, in der fast herodoteischen Fülle an Informationen, Exkursen und Kontextualisierungen dem roten Faden der Argumentation zu folgen, zumal dieser angesichts der (sehr lobenswerten) Vorsicht der Autorin eine echte Stilübung im Konjunktiv ist und daher kaum eine wirklich definitiv belastbare Argumentation erlaubt. Aber läßt man sich einmal auf den Duktus ein, schälen sich aus den 700 Seiten der Dissertation doch beachtliche Resultate heraus, die nicht zum mindesten der Tatsache zu verdanken sind, daß die Autorin niemals ohne guten Grund geradlinige Kontinuitäts- und Quellenketten konstruiert, sondern das Fehlen an zeitgenössischer Evidenz oder die grundlegenden Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von chronologischer Konsequenz, bewußter Rückbindung und echter Sukzession sehr ernst nimmt und sich im Zweifelsfall lieber des Urteils enthält, wodurch scheinbar sekundär scheinende Quellen oder Traditionsstränge auf einmal ein erheblich größeres Gewicht als vorher angenommen erhalten. Wer auch immer sich mit der Geschichte der imperialen Sukzessionstheorie vor Beginn der römischen Kaiserzeit und der christlichen Geschichtslehre beschäftigt, wird an diesem Werk nicht vorbeikommen.