Der vorliegende Band von Patrizia de Bernardo Stempel ist Teil eines großangelegten akademischen Unternehmens, das sich die Erforschung der keltischen Religion zum Ziel gesetzt hat. Die Koordination des gesamten Projektes liegt in der administrativen Verantwortung der Universität Graz, wo die eigentliche Federführung in den Händen von Wolfgang Spickermann liegt.
Die Gesamtkonzeption des vorliegenden Buches wird erst nach der Lektüre des einleitenden Abschnitts ‚Zur Anlage des Buches‘ (13) verständlicher. Hier wird der Benutzer zunächst darüber belehrt, was er von diesem Buch alles nicht erwarten darf. So wird keine einzige der vielen hundert niedergermanischen Inschriften, auf deren sprachliche Analyse sich dieses Buch konzentrieren möchte, vorgestellt oder zumindest teilweise zitiert. Vielmehr wird man dafür auf eine von der Universität Graz verwaltete Datenbank verwiesen (http://gams.uni-graz.at/context:fercan). Dort findet man nicht nur ein Photo der Inschrift, soweit dieses noch beschafft werden konnte, samt lateinischem Text sowie deutscher und englischer Übersetzung, sondern auch die komplette wissenschaftliche Dokumentation für die jeweilige Inschrift.
Ein solches Vorgehen ist zwar aus Gründen der Ökonomie nachvollziehbar, es trägt aber sicherlich nicht dazu bei, diesen Band besonders benutzerfreundlich zu machen. Auch für die archäologisch-historischen und ikonographischen Kommentare zu den einzelnen Inschriften, die für die genauere zeitliche Einordnung und Bewertung der Zeugnisse unverzichtbar sind, wird man zu einer anderen Monographie weitergereicht. Denn diese Details sollen in einem 2. Teilband ‚Die epigraphische und archäologische Analyse der niedergermanischen Denkmäler‘ behandelt werden, der gemeinsam von W. Petermandl, A. Schmölzer und W. Spickermann verfasst wurde, aber noch nicht erschienen ist.
Ganz am Ende erfährt man dann, dass „die verschiedenen Kommentare zu den einzelnen Theonymen und Beinamen zukünftig in einem Lexikon gebündelt werden sollen“ und die Autorin davon ausgeht, „dass das vorliegende Werk eher punktuell konsultiert als fortlaufend gelesen werden wird“.
Der Band selbst ist relativ klar gegliedert.Nach der Einleitung folgen ‚Symbole und Abkürzungen‘ (15-19) und ein Verzeichnis der verwendeten Literatur (21-45). Dieser Teil ist eine bunte Mischung von Kurztiteln (z. B. Akten Erfurt) und Literaturangaben, die nach dem Harvard-System präsentiert werden. Lediglich für die eigenen Vorarbeiten von De Bernardo Stempel wird eine Ausnahme gemacht, da auf diese in der Regel nur mit einem Kurztitel ohne ausdrückliche Nennung der Autorin oder einer Jahresangabe verwiesen wird. Nach einem Abschnitt ‚Methodologische Vorbemerkungen‘ (49-61), in der De Bernardo Stempel u.a. ausführlich die Gründe für die von ihr verwendete Terminologie darlegt, und einer ‚Anleitung für die Benutzer‘ (65-72) kommt man endlich zum Kernstück des gesamten Buches: der Vorlage des Materials.
Dieser Abschnitt mit dem Titel ‚Die theonymischen Formulare der Einzelgottheiten‘ umfasst die Seiten 73-302 und präsentiert für den Benutzer insgesamt 45 Einzeleinträge, die allerdings teilweise in sich noch untergliedert sind (z. B. 40.a-f zu den ‚Muttergöttinnen mit wasserbezogenen funktionellen Beinamen und/oder mit hydronymischen Zugehörigkeitsnamen‘ (246 ff.). Die Einträge zu den einzelnen Gottheiten sind dann ihrerseits sehr schematisch in 22 Unterpunkte aufgegliedert, die allerdings nicht immer ausgefüllt werden bzw. in einigen Fällen (Unterpunkt 8: Maskulinum oder Femininum) eher trivial sind.
Wie problematisch manche der hier präsentierten analytischen Schlüsse von De Bernardo Stempel sind, möchte der Rez. an einem Beispiel für die Matres paternae ‚Ch’annanef(tiae vel –tum) (Nr. 44 d) aufzeigen. De Bernardo Stempel geht zunächst ohne Diskussion davon aus, dass es sich bei den Channanefaten um einen keltischen Stamm handeln muss, obwohl Tacitus (hist. 4.15.1: ea gens, origine lingua virtute par Batavis), der den Stamm übrigens Canninefates nennt, eher für das Gegenteil spricht. Der einzige Beleg für diese Gottheiten ist eine inzwischen verschollene Inschrift (XIII 8219 = ILS 4781), die bereits bei Abfassung des CIL nicht mehr auffindbar war. Der Kommentar zur Person des Dedikanten („trägt einen kaiserlich orientierten Namen und ein vielleicht aus dem Keltischen übersetztes Cognomen (Victorinus)“) zeigt wenig Kenntnis der römischen Nomenklatur. Der Dedikant trägt den sehr römischen Namen T. Fl(avius) Victorinus und ist als centurio der legio XXX Ulpia Victrix natürlich ein römischer Bürger, dessen Familie das Bürgerrecht seit den Tagen der flavischen Kaiser (69-96) besitzt. Victorinus ist von Victor abgeleitet, einem der häufigsten römischen cognomina.
Der analytische Teil wird ergänzt durch Teil 3 ‚Eine niedergermanische Bilanz‘ (303-327), in dem u. a. Sprachschichten, die Semantik und die Namen der Stifter behandelt werden. Abgeschlossen wird die gesamte Untersuchung durch einen wenig differenzierenden Index (351-397), in dem die Namen von Gottheiten, Orts- oder Stammesnamen, Namen von modernen Forschern, aber auch Fachtermini und gelegentliche Quellenverweise nebeneinanderstehen.
Die Druckgestaltung und generelle Qualität der Publikation bewegen sich auf einem sehr hohen Niveau, wie man es mit Recht von einem Akademieverlag und auch dem im Handel geforderten Preis von Euro 144.– erwarten kann.
Es ist nicht leicht, zu einem ausgewogenen Urteil zu kommen. Die investierte Arbeit, um dieses Material zu sammeln und auszuwerten, ist beträchtlich gewesen und verdient uneingeschränkte Anerkennung. Auf der anderen Seite ist die Entscheidung, die Ergebnisse gerade in dieser speziellen Form der Fachwelt zu präsentieren, nicht unbedingt glücklich zu nennen.
Es wird deutlich, dass es für De Bernardo Stempel eine Herzensangelegenheit ist, möglichst viel von dem ausgewerteten Material mit dem Etikett ‚keltisch‘ versehen zu können, doch zuweilen scheint die Autorin bei dieser Absicht etwas zu weit zu gehen. Exemplarisch scheint dem Rez. dafür der Abschnitt 3.5 ‚Die Namen der Stifter und der Begünstigten‘ (317-327) zu sein. Unter den dort diskutierten lateinischen Personennamen sind sicherlich sehr viele, für die eine ursprünglich keltische Herkunft unstrittig sein dürfte. Doch bei einigen Namen kommt ein Epigraphiker und Historiker schon etwas ins Grübeln, wenn er lesen muss: „Isauricus aus *Isaros ‚Ungestüm‘ mit Diphthongierung in der betonten Silbe“ (319) oder „Catullinius, ein Pseudogentiliz aus einem mit agentiven lo-Suffix gebildeten keltischen Namen für einen ‚In der Schlacht Agierenden‘ Kämpfer“ (318). Ist es nicht möglich, dass Isauricus vielleicht genau das meint, was es ist, nämlich ein cognomen, das vom Volk der Isaurer abgeleitet ist, oder das Pseudogentiliz Catullinus sich auf das lateinische cognomen ‚Catullus‘ bezieht?
Wir wissen einfach viel zu wenig, um sagen zu können, nach welchen Gesichtspunkten z. B. Eltern für ihre Kinder die Individualnamen bzw. im klassischen römischen Namenssystem der tria nomina ihre cognomina ausgewählt haben. In ausgewählten Fällen, in denen wir mehrere Generationen einer Familie kennen, können wir feststellen, dass die Eltern, die etwa zur Gruppe der liberti gehörten, für ihre Kinder gezielt sehr römisch-klingende Individualnamen oder cognomina auswählten, damit sie sich besser in ihre Umgebung einfügen konnten. In anderen Fällen wissen wir, dass man z. B. Rekruten, deren einheimische Namen für römische Unteroffiziere zu schwer auszusprechen waren, einfach einen neuen lateinischen Namen gegeben hat.
Viele Dinge, die bei einer genauen Analyse des Materials an sich bereits vorab geklärt werden müssten, werden in dieser Untersuchung leider nicht besprochen, wobei für den Rez. nicht recht deutlich wurde, ob diese Fragen irgendwann noch an einer anderen Stelle angesprochen werden sollen oder ob man sie einfach als irrelevant eingestuft hat. Dies beginnt bereits bei der Abgrenzung des untersuchten Gebietes, wobei ‚niedergermanisch‘ hier wohl stellvertretend für das Territorium der Provinz Germania inferior stehen soll. Diese Provinz ist allerdings ein völliges Kunstgebilde, das von der römischen Administration geschaffen wurde, wobei eine Abgrenzung zur Bevölkerung und vor allem den religiösen Verhältnissen in den beiden benachbarten Provinzen (Germania superior, Belgica) m. E. nicht möglich ist, da wir auf beiden Seiten der Provinzgrenzen von einer weitgehend identischen Zusammensetzung der Bevölkerung ausgehen müssen.
Von der komplizierten ethnischen Zusammensetzung der einheimischen Bevölkerung in diesem Raum erfahren wir kaum etwas, obwohl solche Vorüberlegungen bei der gezielten Untersuchung von ‚keltischer‘ Religion sicherlich angebracht gewesen wären. Wir müssen daher in der Provinz Germania inferior von einem ethnisch stark durchmischten Grundstock der Bevölkerung ausgehen, bei dem neben den keltischen Bevölkerungsanteilen sicherlich auch größere germanische Anteile, die wie die Ubier und Bataver ursprünglich aus dem rechtsrheinischen Gebiet zugewandert waren, zu vermuten sind. Daneben müssen wir aber auch noch mit keltischen Zuwanderern aus dem eigentlich innergallischen Bereich rechnen, zu denen dann größere ursprünglich mediterrane Gruppen (immerhin ist Köln eine der frühkaiserzeitlichen coloniae veteranorum gewesen) gestoßen sind. Und schließlich sollten auch die möglichen Zuflüsse von substantiellen Gruppen, die vom Balkan (thrakische Rekruten) und aus dem Vorderen Orient (man beachte die aus dem Osten des Imperium Romanum kommende Glasproduktion im Kölner Raum und die Hinweise auf eine sehr frühe jüdische Gemeinde in Köln) kamen, und ihre religiösen Traditionen nicht unberücksichtigt bleiben.
Wir können wohl davon ausgehen, dass es im Laufe der Jahrhunderte in dieser Bevölkerung nicht nur zu ehelichen Verbindungen gekommen ist, die über die Grenzen der jeweiligen Volksgruppen hinausreichten, sondern auch ein reger religiöser und sprachlicher Austausch stattfand. In welchem Umfang man da als Individuum über eine ausgeprägte ethnische Identität verfügte, lässt sich wohl kaum klären.
Auch ein weiterer Punkt mahnt zur methodischen Vorsicht. Die Masse des epigraphischen Materials, mit dem hier operiert werden muss, konzentriert sich, was dem allgemeinen Trend bei den Inschriften aus der Provinz Germania inferior entsprechen dürfte, auf den Zeitraum 2. Jh. bis etwa Mitte 3. Jh. n. Chr. Mit anderen Worten, die entscheidende Anfangsphase, die man vom Beginn der römischen Herrschaft unter Augustus bis etwa in die Zeit Kaiser Trajans datieren darf, entzieht sich weitgehend unserem Zugriff. In genau diesem Zeitraum haben sich allerdings die für die weitere Entwicklung determinierenden Prozesse vollzogen:
- Es wurde von der einheimischen Bevölkerung die aus dem Mittelmeergebiet importierte Sitte übernommen, ihre Gottheiten überhaupt in Form von beschrifteten Votivsteinen zu ehren. Dies war aber ein Prozess einer kulturellen Anpassung, bei dem zunächst wahrscheinlich größere Teile der Bevölkerung effektiv ausgeschlossen wurden, weil diese Leute kaum den dadurch notwendigen finanziellen Mehraufwand bezahlen konnten. Sie können also in unserem Material nicht nachgewiesen werden.
- Im Verlauf dieses religiösen Anpassungsprozesses wurde man dazu gezwungen, zum ersten Mal die Namen der Gottheiten, die man bisher lediglich in einer einheimischen (keltischen, vielleicht auch germanischen) Phonetik angerufen hatte, schriftlich zu fixieren. Es bedeutete, dass man zur gleichen Zeit diese Namen auch noch an eine dafür überhaupt nicht vorgesehene lateinische Phonetik, die die Römer mitgebracht hatten, anpassen musste. Die hohe Zahl der schriftlichen Varianzen und auch die Einführung von Sonderbuchstaben dokumentieren die enormen Schwierigkeiten, mit denen die einheimische Bevölkerung hier konfrontiert wurde. Um diese Situation zu illustrieren, reicht es völlig aus, wenn man daran erinnert, welche Probleme wir selbst heute noch haben, Personen- oder Ortsnamen korrekt aus dem Kyrillischen in unser eigenes Schriftsystem zu übertragen. Dieser formative Prozess dürfte sich aber weitgehend vollzogen haben, bevor unsere epigraphische Überlieferung überhaupt einsetzt. So komplexe Fragestellungen lassen sich nicht durch einen eindimensionalen methodischen Zugang behandeln, sondern sie erfordern die aktive Mitwirkung vieler unterschiedlicher Forschungsrichtugen, zu denen u. a. die lateinische Epigraphik und die römische Geschichte zählen. Erst dann wird man die Chance erhalten, sich der damaligen Realität wirklich zu nähern.