Einige wenige Kapitel umfasst die Biographie Sosipatras in den Vitae philosophorum et sophistarum (VS) des Eunapius von Sardes. Die Religionsphilosophin ist die einzige Frau, die in dieses umfängliche Werk Eingang fand. Mit ihrem aussergewöhnlichen Lebensweg und ihren bemerkenswerten Fähigkeiten als Theurgin sticht sie unter den Philosophen iamblichischer Prägung hervor. Sosipatra erhielt erstmals im ausgehenden 20. Jahrhundert im Rahmen der Frauenforschung die ihr gebührende Aufmerksamkeit. In der Geschichte weiblicher Gelehrsamkeit hingegen war sie längst bekannt. Verwiesen sei beispielshalber auf Lucretia Marinella, die in ihrem Discorso Le Nobilità et Eccellenze delle Donne et i Diffetti e Mancamenti de gli Huomini (Venetia 1600) Sosipatra als Seherin einstuft, die sich in vielen Wissenschaften auszeichnet. Angesichts des beachtlichen Zuwachses an Forschungen zu ihrer Person wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis Sosipatra auch in den Philosophiegeschichten mit einem eigenen Kapitel gewürdigt wird.[1]
Angesichts des bescheidenen Umfangs der Biographie des Eunapius ist die erste und wichtigste Frage für die Rezensentin demnach: Wie kann es gelingen, auf einer geringen Textgrundlage eine Sosipatra-Monographie zu verfassen? Heidi Marx hat sich, um diese Frage schon vorweg zu beantworten, dafür entschieden, Sosipatras Leben in seinem soziokulturellen, politischen und geographischen Kontext sichtbar zu machen. Sie geht von der Prämisse aus, dass Eunapius keinesfalls einen Bericht über Sosipatras Leben geben wollte, der heutigen Standards von «factual accuracy» (2) entspricht, dass er aber dennoch eine überzeugende und anregende Biographie vorlegen wollte. Marx führt mit Sosipatra zugleich in den Neuplatonismus in seinen verschiedenen Ausprägungen ein. Sie fokussiert dabei auf die Religionsphilosophie, die sie am Beispiel der Philosophin auch für eine mit dem Platonismus der Spätantike nicht vertraute Leserschaft sehr gut erklärt, so wie sie sich generell durch ihr grosses didaktisches Geschick auszeichnet.
Im ersten Kapitel («Introduction») zeichnet Marx mit wenigen Strichen das Leben Sosipatras nach und verortet es im Werk des Eunapius, bevor sie die einzelnen Lebensstationen («Sosipatra as Child and Student»; «Sosipatra as Wife, Mother and Widow»; «Sosipatra as Teacher»; «Sosipatra as a Theurgist and Oracle») unter stetem Einbezug aktueller Forschungsliteratur ausbreitet. In ihrer «Conclusion» spricht sie in einer Nebenbemerkung den «highly fictional» Charakter des Sosipatra-Porträts an,[2] der jedoch im Laufe der Studie kaum zur Sprache kommt und vor allem zur Argumentation wenig beiträgt. Angeschlossen wird eine Übersetzung (VS 6, 53–96) auf der Textgrundlage von R. Goulet (Belles Lettres, Paris 2014).[3] Hinzu kommen ein umfängliches Literaturverzeichnis sowie ein Index.
Marx schafft mit dieser Vorgehensweise für eine erste Begegnung mit Sosipatra eine nützliche Basis. Nach Lektüre des Buches hat man einen guten Einblick in die Lebenswelt spätantiker Philosophenkreise gewonnen. Sosipatra hingegen bleibt schemenhaft. Dass die historische Evidenz (soweit sie Sosipatra betrifft) auf der Strecke bleiben müsse, dass es sich vielmehr anbiete, «in many interesting directions for contextualisation» (S. 30) zu gehen, räumt Marx ein. Die Einbettung Sosipatras in die aristokratische Gesellschaft der ersten Jahrzehnte des vierten Jahrhunderts geht in der Tat in recht unterschiedliche – nicht selten unerwartete – Richtungen, wobei sich der Zusammenhang mit Sosipatra nicht immer erschliesst. Viel erfährt man über die Lebensbedingungen von Frauen, so beispielshalber zum Heranwachsen eines Mädchens bis hin zur Gewalt an Frauen in der Ehe.[4] Einige Textstellen, an denen ein genaueres Verweilen beim Eunapius-Text als literarische Konstruktion gelohnt hätte, um die Einzigartigkeit der Sosipatra zu plausibilisieren, bleiben hingegen unterbelichtet. So berichtet Eunapius etwa, dass zwei Fremde (Dämonen) Sosipatra in ihrer Kindheit fünf Jahre unterrichtet hätten. Näheres dazu hält Eunapius zurück. Ein literarischer Schachzug des Biographen?[5] Sarah Iles Jonston hat dazu eine überzeugende Interpretation vorgelegt, die Marx indes nicht erwähnt, wie sie auch Johnstons Begründungen der vollendeten Theurgin im Kontext der iamblichischen Ausrichtung nicht aufnimmt. Johnston legt überzeugend dar, dass Eunapius gefordert war, Sosipatras herausragende Stellung innerhalb der Theurgie darzustellen. Er streicht, so Johnston, deren einzigartige Passivität in allen Lebensstationen und -situationen heraus.[6]
Angesichts der Kürze des Textes des Eunapius und des Fehlens anderer Berichte zu Sosipatra wundert es nicht, dass Vieles auf Vermutung gründet, dass Wendungen wie «may have been» über Gebühr strapaziert werden, dass mit «plausible speculation» argumentiert wird. Analogien werden nicht nur zu anderen Personen der VS hergestellt. Ihr Vergleichsmaterial bezieht Heidi Marx grossteils aus den Schriften anderer Autoren, selbst aus anderen Regionen (z.B. dem spätantiken Gallien) und sogar aus anderen (auch vorchristlichen) Jahrhunderten.[7] Das Ergebnis ist ein gut lesbarer Einblick in die spätantike Gelehrsamkeit mit einem speziellen Fokus auf eine Vertreterin der Theurgie, aber keine Biographie.
Im Literaturverzeichnis vermisst man nur wenige Titel, doch Titel, die zum «oracle Sosipatra» substantiell beitragen würden, fehlen. Neben Sarah Iles Johnston (siehe Anm. 4) wäre etwa zu nennen Matthias Becker, Eunapios aus Sardes. Biographien über Philosophen und Sophisten. Einleitung, Übersetzung und Kommentar. Stuttgart 2013 (dort beispielshalber S. 308–309 die instruktiven Erläuterungen zur Prophetie der Sosipatra zum Tod ihres Ehemannes Eustathius «nach fünf» Jahren). Nicht anglophone Literatur wird bis auf sehr wenige Ausnahmen nicht zur Kenntnis genommen. Das ist bedauerlich, zumal sich die Gemeinschaft der Studierenden und Forschenden auf dem Gebiet der Spätantike durch ihren Dialog über Sprachgrenzen hinaus auszeichnet. Druckfehler im Fliesstext gibt es kaum, sehr wohl aber in der Bibliographie (z.B. S. 131: korrekt: Schweiger statt Schwaizer; korrekt: Scherrer statt Sherrer).
Heidi Marx will für ein zeitgenössisches Publikum schreiben, dessen Wissen um die Spätantike kaum, wenn denn überhaupt vorhanden ist, so wie es die Reihe Women in Antiquity vorsieht. Auch ist es ihr Ansinnen, ein gut lesbares Buch vorzulegen. Diesen Anspruch hat sie ohne jeden Zweifel erfüllt. Der Titel ihres Buches aber ist irreführend. Sosipatra of Pergamum. Philosopher and Oracle entwirft vor allem das Panorama einer Zeit, wobei die Rolle dieser so einzigartigen Religionsphilosophin als Beispiel von Frauenbildung und Gelehrsamkeit nur bedingt sichtbar wird. Ein Untertitel hätte dieses Manko elegant beheben können.
Notes
[1] Im jüngst erschienenen Band 5 der Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Herausgegeben von Christoph Riedweg, Christoph Horn und Dietmar Wyrwa, Basel 2018) wird Sosipatra immerhin namentlich zweimal erwähnt.
[2] P. 115.
[3] Andere Belegstelle der VS werden aus der Übersetzung der Loeb-Ausgabe von Wilmer Cave Wright (Cambridge Mass. 1921) übernommen. Es hätte gelohnt, auch diese wenigen Textstellen neu zu übersetzen und die Kapiteleinteilung Goulets konsequent zu befolgen. Wright hatte in ihrer Loeb-Edition die Kapiteleinteilung Boissonades (1822) zugrunde gelegt, sodass sich Marx veranlasst sah, zu Seitenangaben zu wechseln.
[4] Dies anhand eines längeren Exkurses zu Monnica, der Mutter des Augustinus.
[5] Sarah Iles Johnston (Sosipatra and the Theurgic Life: Eunapius Vitae sophist. 6.6.5–6.9.24 8, in Jörg Rüpke/ Wolfgang Spickermann (eds), Reflections on Religious Individuality. Greco-Roman and Judeo-Christian Texts and Practices. Berlin/Boston 20212, 99–117).
[6] Johnston (S. 110–114) führt treffliche Beispiele an: u.a. die Instrumente, welche das Mädchen Sosipatra von den beiden Fremden erhält, sowie einen sie adressierenden Liebeszauber, den sie nicht selbst abwehrt, vielmehr einen Verwandten damit beauftragt.
[7] Diese Beobachtung gilt auch für das Bildmaterial, so z.B. für die Abbildung einer Grabstele eines kleinen Mädchens aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert (Abb. 2.1., S. 18) oder den Cameo auf die Apotheose Traians (Abb. 5.2, S. 105).