BMCR 2021.11.42

Die Vergangenheit vor Augen. Erinnerungsräume bei den attischen Rednern

, Die Vergangenheit vor Augen. Erinnerungsräume bei den attischen Rednern. Hermes - Einzelschrift, 116. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2019. Pp. 415. ISBN 9783515125017. €64,00.

Vorbemerkung: Die Besprechung der Studie hat sich aufgrund der Corona-Pandemie über Gebühr hingezogen, sodass trotz der Absicht, durch die Online-Publikation einen raschen Zugriff auf Inhalt und Ansatz der Untersuchung zu gewähren, bereits weitere Rezensionen erschienen sind.[1] Vor diesem Hintergrund habe ich es als nützlicher erachtet, den Fokus eher auf konzeptionelle anstatt auf inhaltliche Aspekte zu legen, die ohne weiteres an anderer Stelle nachgeschlagen werden können.

Die Untersuchung der attischen Redner und insbesondere der Vergangenheitsbezüge in ihren Werken hat in den letzten Jahren eine merkliche Konjunktur erfahren.[2] Hintergrund dieses wiedergewonnenen Interesses an den Rhetoren des klassischen Athens dürften neue Perspektiven auf die politische Kultur der ersten breit bezeugten Volksherrschaft der Weltgeschichte sein. Genau in diesem Themenspektrum, nämlich der Neueren Kulturgeschichte des Politischen, ist auch die anzuzeigende Publikation angesiedelt, die nicht zufällig auf eine von Karl-Joachim Hölkeskamp an der Universität Köln betreute Dissertation zurückgeht. Die Studie ist – das sei vorweggenommen – ein Musterbeispiel interdisziplinären Vorgehens, wie es aus diesem Umfeld auch nicht anders zu erwarten war. Dazu werden einerseits die drei altertumswissenschaftlichen Teildisziplinen Alte Geschichte, Klassische Archäologie und Altphilologie blendend auf einander bezogen, andererseits geht die methodische und theoretische Perspektive weit über die Altertumskunde hinaus und weiß sich auch geschickt sowohl soziologischer als auch kulturwissenschaftlicher Befunde zu bedienen: „Rituale, Zeremonien, Feste, öffentliche Reden, performative Inszenierungen [und] aufwendige Lebensformen“ (S. 19) als Medien und Monumente des athenischen Selbstverständnisses stehen daher auch im Fokus der Arbeit.

Das Kernmaterial der Untersuchung bilden die Reden des 4. Jahrhunderts v. Chr. (hingegen datieren sehr wenige Orationes bekanntermaßen in das ausgehende 5. Jh. Andokides und Lysias werden ebenfalls einbezogen, ohne die Studie zu dominieren; allein Antiphon bleibt aufgrund des didaktischen Anliegens seiner meisten Texte weitgehend außen vor). Das erste Kapitel widmet sich der Konturierung des Gegenstandes aus antiker und moderner Perspektive. Im Zuge dessen bespricht Kostopoulos sowohl altgriechische als auch aktuelle Raumkonzeptionen, wobei letztere den sogenannten spatial turn entweder einleiteten oder ihm zumindest verpflichtet sind. Gepaart wird diese theoretische Schärfung mit weithin bekannten Konzepten zu Erinnerung und Identität sowie Performanz aus der Feder solch illustrer Autoren wie Jan Assmann, Hans-Joachim Gehrke oder Tonio Hölscher. Eventuell hätten solche Ausführungen noch mehr entlang der Fallstudien entwickelt werden können, um den etwas holzschnittartigen Charakter einzelner Tiefenstudien zu vermeiden.

Das zweite Kapitel widmet sich allein der lykurgischen Rede gegen Leokrates; darin wird paradigmatisch das Vorgehen durch eine ausgesprochen dichte und vorbildliche Lektüre des spätklassischen Politikers durchdekliniert. Am Beispiel des Lykurg versteht Kostopoulos exemplarisch aufzuzeigen, welchen Erkenntnisgewinn ihr Ansatz verspricht: Nahezu alle Punkte, die im weiteren Verlauf der Untersuchung Erwähnung finden werden, sind hier nicht nur bereits versammelt, sondern erstmals auch knapp ausgedeutet. Es entsteht der ansprechende Eindruck einer zweiten, weniger theoretisch aufgeladenen Einleitung, obgleich Redundanzen dadurch nicht zu vermeiden sind.

Die folgenden sechs Kapitel befassen sich konsequentermaßen mit athenischen Mnemotopen im engeren und weiteren Sinne; das heißt, immobile Erinnerungsräume wie die Akropolis (Kap. 3), die Stadtmauern (Kap. 6) und die Gräber der Ahnen (Kap. 7) werden ebenso auf die „enge Verbindung zwischen Rhetorik, Raum und Erinnerung“ (S. 12) untersucht wie – sagen wir – gegenständliche lieux de memoire, zu denen sie Ehrenstatuen (Kap. 4), Inschriften (Kap. 5) und Tropaia (Kap. 8) zählt. Diese Einteilung verwirrt auf den ersten Blick, denn abgesehen von den narrativ gelungenen Übergängen zwischen den Kapiteln würde man doch eher eine kategoriale Anordnung nach den beiden genannten Typen von Erinnerungsräumen erwarten. Tritt man jedoch einen Schritt zurück, so erschließt sich aus der Vogelperspektive eine weitsichtige Anordnung der Gegenstände, denn die Gliederung folgt konzentrischen Kreisen. Beginnend im Stadtzentrum bewegt sich die Autorin Richtung Peripherie, wo die Siegeszeichen der Polis anzutreffen waren, die sich am weitesten entfernt vom Standort der Redner in der Volksversammlung oder zu Gericht befanden, während die Rhetoren ohne weiteres mit dem Finger auf die Akropolis oder die dort und auf der Agora befindlichen Ehrenstatuen bzw. Inschriften zeigen konnten. Denn „[e]s ist davon auszugehen, dass die Athener die markanten Erinnerungsräume ihrer Stadt aus unterschiedlichen Blickachsen kannten und damit bestimmte Ansichten im (kollektiven) ‚Bildgedächtnis‘ gespeichert waren.“ (S. 43) So gesehen wirken die Kapitel in der Gesamtschau etwas anders als die Autorin selbst einräumt: „Die einzelnen Abschnitte der Untersuchung stehen mehr oder weniger unverbunden nebeneinander und können auch separat gelesen werden.“ (S. 20) Jedenfalls lohnt sich eine Lektüre from cover to cover.

In der Natur der Sache liegt es, dass eine systematisch angelegte Studie wie die hier besprochene Schwierigkeiten hat, Kontinuität und Wandel des untersuchten Gegenstandes zu verdeutlichen. Aber auch das vernachlässigt Kostopoulos nicht und holt es ganz am Ende noch in gebotener Kürze nach (S. 349f.). Das instruktive Fazit fasst aber nicht nur die Ergebnisse der vorherigen Kapitel noch einmal pointiert zusammen, sondern wirft nochmals ein Licht auf den methodisch-theoretischen Rahmen der Untersuchung. Insgesamt kann man den Monumenten, Anspielungen undparadeigmata eine verhältnismäßig starke Trennung zwischen innen- und außenpolitischen Ereignissen entnehmen. Während einerseits die Perserkriege und der Stratege Konon von verschiedenen Medien aufgegriffen werden, auf die die Reden Bezug nehmen, ist Solon stark mit den ihm zugeschriebenen Inschriften verbunden und die Tyrannenmörder wiederum sind klar mit ihrem Standbild assoziiert; das heißt jedoch nicht, dass es nicht auch eine Statue des Reformers gab oder andere Medien mit Harmodios und Aristogeiton in Verbindung gebracht worden wären. Den alle diese Aspekte umklammernden Faktor stellte aber der demos dar; er blieb sowohl in den Reden als auch in den darin erwähnten Monumenten und Räumen die letzte Instanz, was angesichts der demokratischen Ideologie nicht weiter überraschen braucht, aber erst einmal nachgewiesen sein möchte. In diesem Kontext kommt auch immer wieder das Stichwort der Vernetzung, „die zwischen verschiedenen Objekten besteht, und damit auch bestimmte Personen und Ereignisse, die Gegenstand dieser Vernetzung sind […]“ (S. 348), zur Sprache. Die hier beschriebene Wechselwirkung habe erheblich zur athenischen Bürgeridentität beigetragen.

Warum gerade die kurz erwähnte Agora keine Aufnahme in diese Reihe erhalten hat, bleibt leider etwas unklar, denn gerade Ehrenstatuen, aber auch Inschriften fanden dort ihren Platz und werden immer wieder erwähnt (zur Agora in Kap. 2 vgl. allein S. 58f.; 64, 68, 72, 74, 77, 79–81, 88). Kostopoulos selbst hält fest, dass Akropolis und Agora „die zentralen öffentlichen Räume mit den meisten historisch-räumlichen Bezügen“ (S. 347) darstellten. Die folgende Feststellung, die Agora sei „nur selten in die Argumentation eingebunden“ (ebd.) worden, konterkariert das ein wenig, denn nicht wenige Informationen über die Agora erhalten wir gerade aus den Reden. Auch die Rhetoren selbst verweisen immer wieder (gelegentlich nur implizit) auf die Bedeutung öffentlicher Plätze – zumindest für das gesellschaftliche und politische Leben ihrer Tage (vgl. exemplarisch Lys. 23,6–7.; Ps.-Demosth. 25,52); das gilt nicht minder für ergasteria (etwa Lys. 24,20; Isokr. 18,9). Vorbildlich ist hingegen, dass jedes Kapitel des Hauptteils durch ein knappes Zwischenfazit abgeschlossen wird, was auch den punktuellen Zugriff auf einzelne Facetten der erkenntnisreichen Studie ermöglicht.

Erfreulicherweise waren typographische Flüchtigkeitsfehler in der gewissenhaft besorgten Publikation kaum auszumachen. Ein umfassendes Register rundet den ausgesprochen schönen Band ab und erschließt das Thema neuerlich, indem der Gliederung gerade bei intensiver Verwendung des Sachregisters ein horizontales Raster hinzugefügt wird, obwohl auch hier überraschenderweise ein Eintrag zur Agora fehlt. Einen ambivalenten Eindruck hinterlässt allenfalls die Belegpraxis, die auf der einen Seite von großer Belesenheit und Kenntnis des Forschungsstandes zeugt, auf der anderen Seite jedoch gelegentlich verschattet, was eigene Deutung des Quellenmaterials ist und was der Forschung entstammt.

Insgesamt sticht der erfolgreiche Versuch hervor, das Modell der politischen Kultur, die aus einem engmaschigen Netz von Symbolen, Gesten und Ritualen bestand, für das klassische Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. fruchtbar gemacht zu haben. Wenn „[e]ine breit angelegte Untersuchung der Verräumlichung von Vergangenheit und den damit verbundenen (Selbst-)Bildern und Wertvorstellungen bei den attischen Rednern […] aber noch aus[stand]“, ist diese „Lücke“ (S. 37) als geschlossen zu betrachten. Letzte Zweifel bleiben allein angesichts der aktuellen Methode der politischen Kulturforschung. Nicht immer scheint gegeben zu sein, dass die zeitgenössischen Akteure die unterstellten Verbindungen und Assoziationen zwischen verschiedenen Medien der literalen und materiellen Kultur – z.B. Reden, Inschriften, Heiligtümer, Münzmotive oder Standfiguren – annähernd oder überhaupt in der Art und Weise aufeinander bezogen, wie der Ansatz unterstellt. Kostopoulos selbst erahnt diese Hürde , denn „[e]s ist aber falsch anzunehmen, dass den Rednern eine genaue Kenntnis der Geschichte zugänglich war, die bereitlag, von ihnen genutzt zu werden.“[3] (S. 33) Es ist die Aufgabe weiterer Anstrengungen, diese Angriffsflächen weiter auszuräumen. Hierfür bietet nunmehr die ebenso vorsichtig wie klug argumentierende Untersuchung von Katharina Kostopoulos auch in methodischer Hinsicht einen blendend reflektierten Ausgangspunkt.

Notes

[1] Für einen schnellen Zugriff vgl. Giorgia Proietti/Marco Ferrario, auf: H-Soz-Kult, 01.03.2021; zudem Giulia Maltagliati, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaft 73, 4 (2020), 185–190.

[2] Vgl. exempli gratia Guy Westwood, The Rhetoric of the Past in Demosthenes and Aeschines: Oratory, History, and Politics in Classical Athens (Oxford classical monographs series), Oxford/New York: Oxford University Press 2020; Giulia Maltagliati, Persuasion through Proximity (and Distance) in the Attic Orators’ Historical Examples, in: Greek, Roman, and Byzantine Studies 60, 1 (2020), 68–97; siehe allerdings bereits Karl Jost, Das Beispiel und Vorbild der Vorfahren bei den attischen Rednern und Geschichtsschreibern bis Demosthenes (Rhetorische Studien 19), Paderborn: Ferdinand Schöningh 1936.

[3] Siehe auch S. 36, wo die Autorin Bernd Steinbock referiert: „Die symbolische Bedeutung eines Monuments sei nie genau definiert worden und hänge immer von der Interpretation durch den Betrachter ab, der seine eigenen Erwartungen, Bedürfnisse und Kenntnisse bei der Interpretation einbringe.“ Inwiefern diese Position ein allzu postmodernes Kommunikationsverständnis offenbart, steht wiederum auf einem anderen Blatt.