BMCR 2021.04.21

The Mediterranean diaspora in late antiquity

, The Mediterranean diaspora in late antiquity: what Christianity cost the Jews. Oxford; New York: Oxford University Press, 2020. Pp. 520. ISBN 9780190222277. $99.00.

Die Beobachtung, die der zu besprechenden Monografie zugrunde liegt, ist eine außerordentlich bedeutsame: Im römischen Reich der Zeitenwende gab es eine große Minderheit, die an den Gott Israels glaubte; je nach Schätzung bis zu 10% der Bevölkerung. Vier Jahrhunderte später hat es den Anschein, als sei das Judentum aus einigen Regionen verdrängt. Nun handelte es sich allerdings nicht, wie es mitunter noch immer zu lesen ist, um ein rabbinisches Judentum, sondern um ein religionswissenschaftlich gesprochen sehr offenes Religionsgeflecht, das seinen religiösen Ausdruck in den jeweiligen Landessprachen fand. Entsprechend schwierig war und ist seine Identifikation innerhalb der Kulturen seiner Zeit und der späteren Jahrhunderte, bevor sich einerseits das rabbinische Judentum im Mittelmeerraum durchsetzte (in manchen Regionen wohl erst im Laufe des 8. bis 9. Jahrhunderts) und andererseits das Christentum in seinen verschiedenen Spielarten etablierte. Eine große Frage ist dabei, ob und inwieweit das Christentum eine Spielart des Judentums oder eine „neue“ Religion war, die große Teile des Judentums verdrängte oder eliminierte.

Die Hauptfrage der vorliegenden Monografie ist, was mit dem Diasporajudentum in der Spätantike geschah. Ihrer Beantwortung hat sich die Autorin, die mehrere vielbeachtete Werke zur Rolle von Frauen in antiken Religionen verfasst hat, gestellt. Sie entfaltet ihre Argumentation in zehn Kapiteln. Das erste Kapitel stellt sie unter die Überschrift „The Absence of Evidence as the Evidence of Absence“ und zeigt auf, dass zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert die Zahl an identifizierbar jüdischen Inschriften und Bauwerken sichtbar zurückgeht. Die Beobachtung ist unbestreitbar richtig und die Frage ist, warum das so war. Wie Kraemer zutreffend darstellt, gilt dieser Rückgang – regional unterschiedlich stark – auch für die anderen Religionen der Zeit, bedingt auch durch äußere Einflüsse wie Kriege, Migration und Naturkatastrophen. Hier hätte – die Autorin ist schließlich Religionswissenschaftlerin – durchaus auch gefragt werden können, inwieweit Teile der vorchristlichen nicht-hebräisch- oder -aramäischsprachigen Angehörigen der Religion Israels im Christentum aufgegangen waren, also ohne Zwang „konvertierten“ (so die provokative These von Aryeh Edrei und Doron Mendels,[1] die von Kraemer gänzlich ignoriert wird). Gleichwohl, anders als es die Kapitelüberschrift nahe legt, behauptet die Autorin nicht, dass es im Untersuchungszeitraum kein Judentum mehr gegeben habe, auch wenn die Bezeugung nur dünn sei.

Im zweiten Kapitel wendet Kraemer sich dem brieflichen Bericht des Severus von Minorca über die Konversion von Juden zu, dessen Historizität sie mit guten Argumenten hinterfragt. Die in diesem Brief dargestellten Ereignisse bilden die Hintergrundfolie für die Argumentation der nachfolgenden Kapitel. Ab dem dritten Kapitel liegt Kraemers hauptsächlicher Blick darauf, darzustellen, dass die Gesetzgebung seit Konstantin „concerns not only Jews but also the suppression of other forms of Christianity and of traditional religion“ (p. 79). Entsprechend werden in sieben mehr oder weniger chronologisch angeordneten Kapiteln Gesetzestexte präsentiert, vom Beginn des 4. Jahrhunderts bis 363 (Kap. 3), von 363 bis 395 (Kap. 4), von 395 bis 408 (Kap. 5), von 408 bis 423 (Kap. 6), von 423  bis 450 (Kap. 7) und schließlich von 450 bis 604 im östlichen (Kap. 8) und im westlichen ehemals (Kap. 9) römischen Herrschaftsbereich. Die zeitlichen Gliederungspunkte orientieren sich an charakteristischen Lebensdaten von Kaisern und anderen Herrschern. Seit Konstantin seien die Restriktionen für Juden und Angehörige anderer Religionen und christlicher Nebenrichtungen in Wellen immer einschneidender gewesen. In das sechste und siebte Kapitel eingeflochten ist neben anderem eine kritische Infragestellung der Historizität der Vita Barsumae.

Für den Zeitraum zwischen der Regierungszeit Kaiser Konstantins und der Redaktion des Codex Theodosianus konstatiert die Verfasserin, dass nur wenige Gesetze das Judentum betreffen (v.a. pp. 85-6). Stärker gewichtet werden müsste hier zudem, dass auch das Christentum erst ab 392 „Staatsreligion“ war und es entsprechend vorher zwar auch Gesetze im Sinne des Christentums gegeben hatte, der römische Ritus zwar eingeschränkt, aber nicht grundsätzlich infrage gestellt war.[2] Dass das Folgen für die Behandlung des Materials hat, lässt sich exemplarisch an zwei Beispielen zeigen: Für das Jahr 321 wird das Dekret von Kaiser Konstantin für Köln angeführt, demzufolge Juden eine politische Wirksamkeit ermöglicht wurde (p. 89), die intensive Diskussion über diese Konstitution scheint die Autorin jedoch nicht zu interessieren.[3] Für die 380er Jahre nennt Kraemer Johannes Chrysostomus „Reden gegen die Juden“ (pp. 88; 135-6); das religionswissenschaftliche Potential einer Beschäftigung mit den Reden unterschätzt sie aber – aus diesen Reden lässt sich durchaus zeigen, wie wenig etabliert das Christentum in Antiochia zu dieser Zeit war und wie sehr es sich gegen ein starkes und attraktives Judentum vor Ort behaupten musste.

Im zehnten Kapitel wird gleichermaßen als Gegenfrage und Ausblick nach dem Verbleib der Juden in der Antike gefragt. Die Möglichkeit der Konversion wird ebenso erörtert wie z. B. die der Emigration, des Verbleibens in der eigenen Religiosität, des Spiels mit messianischen Ansprüchen, der Anpassung an die Umwelt, des Aufkommens des rabbinischen Judentums usw.; eine Identifikationsform sei dabei die Selbsttitulierung als „Hebräer“ (statt als „Juden“) gewesen. (Nicht in Erwägung gezogen wird, ob der Gegensatz zum Christentum überhaupt jederzeit im Untersuchungszeitraum so bedeutsam gewesen ist.)

Die sorgfältige Aufarbeitung der Rechtstexte durch Kraemer ist verdienstvoll und die Studie studierenswert. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die Quellenauswahl nicht zu einseitig und die Lektüre der Rechtstexte nicht zu positivistisch geraten ist: Wann erlässt man ein Gesetz? Als theoretischen Rahmen oder als Reaktion auf Probleme einer Zeit? Zudem: Warum werden bspw. jüngere Quelleneditionen griechischer Inschriften[4] oder mögliche Schriften jüdischer Autoren in griechischer oder lateinischer Sprache der Zeit[5] nicht in die Betrachtung einbezogen? Warum werden patristische Texte zur Frage wie der genannte Chrysostomus oder Hieronymus kaum oder gar nicht ausgewertet? In dieser Hinsicht wäre noch viel möglich gewesen;die Argumentation wäre dann weitaus überzeugender ausgefallen.

Notes

[1] Aryeh Edrei / Doron Mendels, “A Split Jewish Diaspora. Its Dramatic Consequences,” Journal for the Study of Pseudepigrapha 16 (2007), 91-137; 17 (2008), 163-187; eid., Zweierlei Diaspora. Zur Spaltung der antiken jüdischen Welt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010.
– Auch die kontrovers diskutierte Monografie von Israel Yuval, Two Nations in Your Womb. Perception of Jews and Christians in Late Antiquity and the Middle Ages. Berkeley: University of California Press, 2006, wird nicht einmal erwähnt.

[2] Das bspw. der Konflikt zwischen Symmachus und Ambrosius nur am Rande berührt wird, überrascht.

[3] Vgl. z. B. Werner Eck, Die Teilnahme von Juden am politisch-administrativem Leben der Selbstverwaltungsgemeinden im Westen des römischen Reiches und der Konstantinische Erlass von 321 für die CCAA (= Köln), in: Görge K. Hasselhoff / Meret Strothmann (eds.), Religio licita?. Rom und die Juden (Studia Judaica 84), Berlin; Boston: De Gruyter, 2016, pp. 203-21.

[4] Vgl. z.B. Zanet Battinou (ed.), Corpus Inscriptionum Judaicorum Graeciae, Athens: The Jewish Museum of Greece, 2018.

[5] Vgl. jetzt die Übersicht bei Johannes Heil, “Für ein Corpus jüdisch-lateinischer Texte der Spätantike und des Frühmittelalters. Überlegungen zur Erforschung der vorrabbinischen Kultur des Judentums im westlichen Mittelmeerraum,” Sefer yuḥasin 8 (2020), 65-103.