BMCR 2021.03.43

“Adel” und gesellschaftliche Differenzierung im archaischen und frühklassischen Griechenland

, "Adel" und gesellschaftliche Differenzierung im archaischen und frühklassischen Griechenland. Historia, 263. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2020. Pp. 443. ISBN 9783515127158. €80,00.

Inhaltsverzeichnis

In dem anzuzeigenden Werk, aus einer Berliner Habilitationsschrift hervorgegangen, wendet sich Jan Meister, der bislang vor allem durch Publikationen zur römischen Geschichte hervorgetreten ist, einem zentralen Thema der griechischen Geschichte zu: dem „Adel“ und seiner gesellschaftlichen und politischen Bedeutung im Prozess der Polisbildung. Dabei spannt er einen weiten zeitlichen Bogen vom frühen 7. bis zum späten 5. Jahrhundert v. Chr.

In der Einleitung präsentiert Meister seine Fragestellung und sein methodisches Programm. Den Ausgangspunkt bildet die berühmte Erzählung Herodots (6,128-130) über die Brautwerbung am Hof des Tyrannen Kleisthenes von Sikyon. Aus der exzessiven Tanzeinlage des Hypokleides und dessen betonter Gelassenheit angesichts des verlorenen Sieges entwickelt Meister das Bild einer archaischen Elite, die nicht von einheitlichen, sondern von konkurrierenden Normvorstellungen geprägt gewesen sei; dieses Bild kontrastiere mit den üblichen in der Forschung zu findenden Vorstellungen von einem normativ homogenen „Adel“. Meister bezieht sich hier vor allem auf die einflussreiche Studie von Elke Stein-Hölkeskamp,[1] die freilich ebenfalls die individuellen Spielräume betont. Ein wirklicher Unterschied besteht darin, dass Meister davon ausgeht, dass es keinen von der Polis unabhängigen „Adel“ gegeben habe, der erst in die Polis habe integriert werden müssen.

In der Forschung wird der Begriff „Adel“ ganz unterschiedlich benutzt, und viele lehnen seine Anwendung auf die griechische Archaik gänzlich ab.[2] Deshalb ist zunächst eine begriffliche Klärung notwendig, und diese liefert Meister in aller Ausführlichkeit und unter reichhaltigem Rückgriff auf soziologische Theorie, unter anderem auf Simmel, Luhmann, Bourdieu und Veblen. Letztlich entwickelt er in Anlehnung an Max Weber „Adel“ als Idealtypus einer deutlich vom Rest der Bevölkerung abgegrenzten Oberschicht mit stabilen, nicht verhandelbaren Kriterien der Zugehörigkeit, für deren Angehörige die Zugehörigkeit an sich gesellschaftliche Vorteile bringe. Dass es einen solchen „Adel“ im archaischen Griechenland nicht gegeben habe, kündigt Meister aufzuzeigen an; hier ist wenig Widerstand zu erwarten, handelt es sich doch seit der Dekonstruktion der archaischen „Geschlechterstaaten“[3] um die communis opinio.

Kapitel 2 („Bäuerliche Lebenswelt im frühen siebten Jahrhundert“) liefert eine sozialhistorische Auswertung der Epen Homers und Hesiods. Dabei wird vieles Unstrittige referiert – die hohe soziale Mobilität, die geringe Institutionalisierung von Herrschaft, die allenfalls lose Organisation der Eliten –, doch Meister setzt auch eigene Akzente: So kritisiert er Winfried Schmitz’ Modell eines „Adels“, der über und außerhalb der dörflichen Gemeinschaft stehe. Gegen diese Vorstellung führt Meister an, dass die homerischen Helden ebenso Angst vor dem Gerede der Gemeinschaft haben wie die Adressaten von Hesiods Erga, sie also ebenso auf ihren Ruf in der Gemeinschaft achten.[4] Im Verlauf des 7. Jahrhunderts v. Chr. beobachtet Meister eine Veränderung der Ehre: Während sie in der homerischen Gesellschaft an den Besitz gekoppelt gewesen sei – ein geras besaß sowohl materiellen als auch symbolischen Wert –, habe die Ausbildung von unbesoldeten Polisämtern dazu geführt, dass sich ein von Besitz gelöster Begriff von Ehre entwickelte, für Meister ein wichtiger Schritt bei der Herausbildung eines „Adels“ gemäß seiner Definition.

Einen starken Akzent setzt Meister in Kapitel 3 („Polisbezug und Adelsbildung“), indem er den Urbanisierungsprozess viel stärker betont, als dies sonst bei Studien zur Polisbildung der Fall ist. Nach seiner Vorstellung bestimmte die Stadt seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. zunehmend die Kategorien, über die gesellschaftliche Differenzierung erfolgte. Erzählungen bei Athenaios, Herakleides, Nikolaos von Damaskos und anderen über Konflikte zwischen Städtern und Landleuten in archaischen Poleis sind für Meister Zeugnisse dafür, wie wichtig der Stadt-Land-Gegensatz war. Insbesondere der demonstrative Konsum sei auf die Stadt konzentriert gewesen, die Städter hätten sich zunehmend von der ländlichen Bevölkerung abgesetzt; Zuweisung von Prestige sei innerhalb der Mauern erfolgt.

Eine ausführliche Forschungsgeschichte liefert das Kapitel 4, mit langen Ausführungen insbesondere zu Grote, Fustel de Coulanges und Jacob Burckhardt. Die Quintessenz des Exkurses ist, dass die bisherigen Arbeiten unreflektiert moderne Vorstellungen von „Adel“, „Staat“ und „Gesellschaft“ auf die griechische Archaik projiziert hätten. Meister hingegen möchte endlich „Perspektiven jenseits klassizistischer Anachronismen“ aufzeigen, indem er nicht die panhellenische Dimension, sondern die Polisbezogenheit des „Adels“ betont: „Wenn man sich befreit von anachronistischen Kategorien, so kann man die Institutionalisierung der Polis wie auch der Wettkämpfe als parallelen Prozess begreifen, der sich aus der Logik elitärer Prestige- und Geltungskonkurrenzen erklären lässt“ (186). Gegen die Vorstellung eines panhellenischen archaischen „Adels“ im Sinne Stein-Hölkeskamps führt er ins Feld, dass von einem solchen „Adel“ nach den Gesetzen der Systemtheorie kein Weg zu den klassischen Oligarchien führe.

Die Logik der Prestige- und Geltungskonkurrenzen möchte Meister in den folgenden Kapiteln entschlüsseln. Zunächst verweist er in Kapitel 5 („Geltungskonkurrenz adelnder Qualitäten und Praktiken“) auf Archilochos’ Lob für den kleinen und krummbeinigen Feldherrn und Xenophanes’ Kritik an der Ehrung von Olympiasiegern: Nicht nur habe es verschiedene Konkurrenzfelder und uneinheitliche Maßstäbe für Prestige gegeben, sondern geradezu eine Disposition zur Devianz. Im Verlauf der Archaik aber sei es zu einer Herausbildung einheitlicher Maßstäbe gekommen, wie Meister in Kapitel 6 unter der Überschrift „Institutionalisierung von Konkurrenz“ darlegt. Eine solche Institutionalisierung habe zum einen durch die Herausbildung der Polisämter stattgefunden, die zu Gradmessern von Ehre geworden seien. Allerdings sei die Konkurrenz milde gewesen; wer ein angesehener Mann war, konnte – anders als in der römischen Republik – früher oder später mit der Bekleidung eines hohen Amtes rechnen. Zum anderen richtet Meister den Blick auf die Agone: Die Herausbildung eines panhellenischen Wettkampfsystems hatte laut Meister insofern Einfluss auf die Rangordnung innerhalb der Polis, als agonistisches Prestige sich nun „nach klar festgelegten Verfahren in die Polis überführen“ (271) ließ: Obwohl es außerhalb der Polis erworben wurde, habe die Polisgemeinschaft dieses Prestige anerkannt und „in objektivierte Ehre“ transformiert.

Nachdem die bisherigen Kapitel gesamtgriechische Phänomene behandelten, fokussiert Meister im letzten Teil seiner Arbeit auf die Entwicklungen in Athen. Das Kapitel 7 enthält eine knappe Skizze der Prozesse bis zu den Reformen des Kleisthenes, die Pointe folgt in Kapitel 8. Hier kulminieren die in der Einleitung angerissenen Überlegungen zum Verhältnis von „Adel“ und Polisbildung: Es habe, so Meister, keineswegs ein zuvor existierender „Adel“ der Entstehung von Polis und Demokratie entgegengewirkt, vielmehr sei ein „Adel“ überhaupt erst in der athenischen Demokratie entstanden. In archaischer Zeit sei das Prestigestreben von Angehörigen der Oberschicht noch auf verschiedene Konkurrenzfelder verteilt gewesen, im 5. Jahrhundert v. Chr. hingegen habe es sich auf die Volksversammlung als „dritte Instanz“ konzentriert. Dadurch seien Verfestigungsprozesse in Gang gesetzt worden; die Gruppe von Männern, die 411 v. Chr. den vorübergehenden Sturz der Demokratie herbeiführte, kommt laut Meister seiner idealtypischen Vorstellung von „Adel“ sehr nahe. Als Indizien für die Umstrukturierung der Oberschicht dient Meister die Begrifflichkeit, so die Entstehung von Termini wie kaloi kagathoi, chrestoi oder beltistoi; auch die Abwertung einzelner Demagogen als poneroiund die Betonung der eigenen sozialen Überlegenheit seien als Teil der neuen Konkurrenzsituation aufzufassen. Der Begriff aristokratia schließlich wurde, so eine abschließende These, im Kontext des Umsturzes von 411 v. Chr. geprägt.

Meisters methodischer Ausgangspunkt ist in diesem Kapitel der Vergleich mit den „ähnliche(n) Verhältnisse(n) in der römischen Republik“ (352), wo es zu einer Verschränkung von gesellschaftlicher Stratifikation mit der politischen Ordnung gekommen sei. Dies wirft allerdings die Frage auf, wie in Athen eine politische Integration wie in Rom erfolgen konnte, wenn die für die politische Integration in Rom zentrale Institution des Senats ebenso fehlte wie eine allgemein akzeptierte Ämterlaufbahn. Dass die Athener bei der Abschaffung der Demokratie 411 v. Chr. keinen Widerstand leisteten, lag gemäß den Quellen nicht daran, dass sie vom geballten Sozialprestige eines „Adels“ beeindruckt gewesen wären, sondern an der Einschüchterung durch Terror. Generell spielt Gewalt in Meisters Analysen nur eine Nebenrolle; er zeichnet die Entwicklung von Polis und „Adel“ als evolutionären Prozess nach. Dass Meister die Verschwörer von 411 v. Chr. als Endpunkt des Prozesses betrachtet, wirft gleich mehrere Fragen auf: Gehörten diejenigen angesehenen Athener, die nicht an dem Umsturz beteiligt waren, dann auch nicht zum „Adel“? Und bestand der „Adel“ auch nach dem Ende des oligarchischen Intermezzos weiter? Und wenn Athen „deutlich mehr als eine Fallstudie“ (371) ist, was ist es dann? Ein Sonderfall oder ein Beispiel unter vielen für die Entstehung eines polisbezogenen „Adels“? Diese Fragen bleiben unbeantwortet.

Die Gesamtbewertung fällt ambivalent aus: Meister gibt an vielen Stellen den Forschungsstand oder einzelne Arbeiten unpräzise wieder, so dass seine eigenen Ausführungen origineller oder kräftiger wirken, als sie in Wirklichkeit sind. Dadurch macht er es unnötig schwer, die wirklichen Innovationen zu erkennen. Denn solche sind durchaus vorhanden: Es handelt sich um die erste Studie, welche die gesellschaftlichen und politischen (oder, falls man wie Meister eine unauflösliche Verflechtung von beidem postuliert: der gesellschaftspolitischen) Entwicklungen in Griechenland mit dem Instrumentarium der Systemtheorie zu erfassen sucht; der Rückgriff auf die Begriffe und Konzepte Luhmanns sorgt, bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Kapiteln, für den inneren Zusammenhalt der Arbeit. Bedeutsam ist vor allem Luhmanns Zentrum-Peripherie-Differenzierung: Sie bietet Meister ein Instrument, um die Urbanisierung mit der Polisbildung in einer Untersuchungsmatrix zu analysieren. Im Ergebnis steht ein in sich stimmiges Modell von einer lose strukturierten Oberschicht des 7. Jahrhunderts v. Chr., die sich infolge von Institutionalisierungsprozessen zu einem „Adel“ mit starker Binnenkommunikation und allgemein akzeptierten Maßstäben von Ehre entwickelt.

Diese Stimmigkeit wird allerdings mit einem hohen Preis erkauft: Der Rückgriff auf soziologische Theorie erfolgt hier nicht, um eine komplexe und widersprüchliche Überlieferung handhabbar zu machen, sondern ohne ausreichenden Kontakt mit den Quellen. Dies heißt nun nicht, dass Meister keine Quellen auswerten würde; er zieht sie durchaus heran, zumeist aber in den Abschnitten, in denen er bestehende Forschungsergebnisse reproduziert. Sein eigenes Modell dagegen besteht in allen zentralen Elementen den Lackmustest mit den Quellen nicht: Die These einer Monopolisierung von Luxus in der Stadt, die zentral für seine Stadt-Land-Differenzierung ist, basiert auf wenigen Versen archaischer Lyrik und späteren, von Meister selbst als „hochgradig dubiose Überlieferungen“ (125) bezeichneten Erzählungen. Der in diesem Punkt eindeutige archäologische Befund lässt sich in sein Modell nicht integrieren, denn die Ausgrabungen extramuraler Heiligtümer liefern überreiche Belege für Symposien und Luxusgüter, also genau für die von Meister angesprochenen Elemente demonstrativen Konsums, außerhalb der Stadt. Sehr gezwungen wirkt es auch, wie Meister den Ostrakismos in die Zentrum-Peripherie-Differenz hineinpresst: Der Zweck der Institution sei die „sporadische Mobilisierung der Bürger aus der Peripherie“ (346) gewesen, mit der man ein Gegengewicht zur sonstigen Dominanz des Zentrums geschaffen habe. Als Quellengrundlage dient ihm allein die bekannte, aber wenig belastbare Anekdote von der Begegnung des Aristeides mit dem bäurischen Analphabeten (Plutarch, Aristeides 7,7). In der vieldiskutierten Frage nach der sozialen Herkunft archaischer Athleten erklärt Meister das von Aristoteles zitierte Epigramm über einen Fischer, der in Olympia siegte, zu einem authentischen Zeugnis des frühen 5. Jahrhunderts (257), ohne auf die einschlägigen Gegenargumente einzugehen.[5] Und für die angeblichen klaren Regeln, nach denen die Polisgemeinschaften agonistische Siege in Ehre umgewandelt hätten, verweist Meister auf Xenophanes, Fragment 2 (270f.): Dies zeigt allerdings – wie auch die übrigen Quellen[6] –, dass in den Poleis kontrovers darüber diskutiert wurde, welche Folgen ein agonistischer Sieg für den Status eines Mannes haben solle.

Es wäre wünschenswert, wenn der Autor sich bemühen würde, die offensichtlichen Schwachstellen in seinem Modell mit größerer handwerklicher Sorgfalt auszubessern – erst dann wird man beurteilen können, wie belastbar es ist. Eins hat er mit seiner Arbeit auf jeden Fall erreicht: den Nachweis, dass das Nachdenken über den griechischen „Adel“, ob man den Begriff nun gebrauchen mag oder nicht, noch lange nicht zum Ende gekommen ist.

Notes

[1] Elke Stein-Hölkeskamp, Adelskultur und Polisgesellschaft. Studien zum griechischen Adel in archaischer und klassischer Zeit, Stuttgart 1989.

[2] In der jüngeren Vergangenheit z.B. Hans van Wees – Nick Fisher, The Trouble with ‘Aristocracy’, in: dies. (Hrsg.),‘Aristocracy’ in Antiquity: Redefining Greek and Roman Elites, Swansea 2015, 1-57.

[3] Félix Bourriot, Recherches sur la nature de génos, Lille 1976; Denis Roussel, Tribu et cité, Paris 1976.

[4] Anders als von Meister dargestellt (68), sieht Schmitz diesen Aspekt allerdings genauso: Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004, 100 Anm. 338.

[5] Z.B. Bronislaw Biliński, Un pescivendolo olimpionico (Aristoteles Rhet. I 7 1365a – Ps. Simonides fr. 110 D.), Nikephoros 3, 1990, 157-175.

[6] S. dazu das laufende DFG-Projekt „Mehr als Ruhm und Ehre. Ehrungen und Leistungen griechischer Poleis für siegreiche Athleten“ (Philosophische Fakultät, Universität Mannheim).