Band 1: Einleitung, Zentrale Themen, Literatur, Indices
Band 2: Kommentar zu Aeneis 1-6
Band 3: Kommentar zu Aeneis 7-12
Es kommt selten vor, dass man als Rezensent das Vergnügen hat, eine Publikation besprechen zu dürfen, von der man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen kann, dass es sich nicht nur um das Lebenswerk eines herausragenden Gelehrten, sondern auch um ein angehendes Standardwerk handelt. Gerhard Binder, Emeritus für Latinistik an der Ruhr-Universität Bochum, eröffnet mit seinem dreibändigen Gesamtkommentar zu Vergils Aeneis eine solche seltene, erfreuliche Gelegenheit. Während seit der Jahrtausendwende mehrere neue Kommentare zu Einzelbüchern der Aeneiserschienen sind,[1] liegt die Publikation des letzten Gesamtkommentars bald fünfzig Jahre zurück.[2] Der letzte deutschsprachige Gesamtkommentar ist in seinem Nukleus sogar mehr als hundert Jahre alt.[3] Im Gegensatz zu den meisten neueren Einzelkommentaren ist das Zielpublikum dieses neuen Gesamtkommentars gemäß Vorwort nicht die altertumswissenschaftlich geschulte Fachperson – vielmehr richtet er sich „vor allem an Mediaevisten und Vergleichende Literaturwissenschaftler, an Gymnasiallehrer, Studierende der Klassischen Philologie sowie an Zeitgenossen, die sich Vergils Aeneis am lateinischen Original erarbeiten möchten“ (Bd. 1, 5). Damit soll – so wirbt der Klappentext – „ein Beitrag dazu [geleistet werden], unter veränderten Bedingungen eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur im frühen 21. Jahrhundert vor dem Vergessen zu bewahren“. Gleichwohl wird – so wage ich zu behaupten – auch kein Klassischer Philologe mehr auf Binders Werk, welches summiert 1760 Seiten umfasst, verzichten können und wollen.
Der erste, qualitativ wie quantitativ weit über eine durchschnittliche Einleitung hinausgehende Band inkludiert eine systematische Einführung in „zentrale Themen“ der Aeneis und der Vergilforschung (15–379) sowie eine Bibliographie (380–415) und zwei auf die Kommentarbände bezogene Indices zu den wichtigsten Eigennamen und Sachbegriffen (416–430). Die „zentralen Themen“ sind untergliedert in elf Bereiche: „Vergil und die Aeneis“ (fünf Einträge), „Aeneas-Sage und Aeneis“ (drei Einträge), „Aeneis und Epik vor der Aeneis“ (drei Einträge), „Darstellung“ (acht Einträge), „Götter und göttliche Instanzen“ (sieben Einträge), „Bedeutende Gestalten“ (neun Einträge), „Schlüsselbegriffe, Beiwörter“ (zehn Einträge), „Deutung“ (fünf Einträge), „Wirkungsgeschichte“ (vier Einträge), „Sprache und Metrik“ (vier Einträge) sowie „Geographie und Topographie“ (zwei Einträge). Insgesamt ergeben sich somit sechzig „zentrale Themen“, die fast sämtliche in der Vergilforschung bedeutsamen und für die Aeneis-Lektüre relevanten Aspekte abdecken (vermisst habe ich lediglich einen Eintrag zum Verhältnis der Aeneis zu Vergils anderen Werken, den Georgica und den Bucolica). Sämtliche Z-Einträge sind dank ihren jeweiligen Unterteilungen in Sub-Themen, dank häufigem Gebrauch von Listen und Aufzählungen sowie dank themenspezifischen Literaturhinweisen am Ende jeden Eintrags sehr leser- und benutzerfreundlich gestaltet.
Selbstverständlich können hier nicht alle sechzig „Z“ besprochen werden; es seien darum exempli gratia nur ein paar wenige herausgegriffen, die mich bei der Lektüre besonders angesprochen haben: In dem Eintrag „Das unvollendete Epos und seine unmittelbare Wirkung“ (Z-04, 40–47) werden alle in der Vergilforschung vorgebrachten Argumente genannt, die (möglicherweise) für einen unvollendeten Status der Aeneis zu sprechen vermögen und zu denen Binder jeweils nuanciert Stellung bezieht. Zu Recht wird etwa konstatiert, dass „Unstimmigkeiten in der Chronologie“ (z.B. dass die Irrfahrten in Buch 3 keinen Zeitraum von sieben Jahren zu füllen vermögen, obwohl sich Dido in Aen. 1,755–756 dahingehend äußert) „angesichts einer elfjährigen Entstehungszeit des nahezu 10000 Verse umfassenden Gedichts nicht überbewertet werden“ sollten (43). Ob dagegen die „Vermutung, Vergil habe mit Halbversen einen besonderen Effekt erzielen wollen, [habe] sie also absichtlich gesetzt“, tatsächlich „jeder Gesetzmäßigkeit antiker Poesie [widerspricht]“ (42), wird wohl weiterhin Gegenstand gelehrter Diskussion (und Uneinigkeit) bleiben. Von besonders hohem Nutzen sind sodann beispielsweise die kommentierte, nach Büchern gegliederte Inhaltszusammenfassung (Z-07, 57–77), der Überblick über die „Standardelemente des Epos“ (Z-12, 96–101) oder etwa auch die geraffte Diskussion von „Ältere[n] und neuere[n] Interpretationsmodelle[n]“ (Z-50, 296–306). Wer die Aeneis begriffs- oder ideengeschichtlich deuten möchte, wird in den Einträgen zu „pater“ (Z-42, 245–249) und „pietas, pius“ (Z-43, 249–255) das notwendige Material finden; wer sich für eine historische Herangehensweise interessiert, wird im Eintrag „Historische Gestalten in der Aeneis“ (Z-35, 214–223) fündig; wer über Frauengestalten im Heldenepos arbeiten möchte, ist mit dem Eintrag zu „Frauen in der Aeneis“ (Z-34, 204–214) bestens bedient.
Die beiden Kommentarbände bieten Erläuterungen zum Originaltext, wobei eine Unterteilung des Epos in insgesamt 446 durchnummerierte (und mit „V“ abgekürzte) Versgruppen vorgenommen wurde.[4] Im Kern handelt es sich also um einen traditionellen Lemmakommentar. Im Unterschied zu einem solchen wurde der Kommentar jedoch in vier Kategorien getrennt (A–D): Am Anfang stehen Erläuterungen zu Sprache, Stil, Metrik und (wo nötig) Textkritik bzw. Überlieferung (A); es folgen Ausführungen zu inhaltlichen Aspekten wie Namen, Mythologie, Geograpie, Geschichte, Realien, usw. (B); daran schließen sich jeweils ein Abriss bestehender Interpretationsansätze und eine Diskussion der wichtigsten Intertexte an (C). Ein vierter und letzter Abschnitt bietet weiterführende Literaturangaben sowie knappe Hinweise zur Rezeption der jeweiligen Szene in der Kunst (D). Ein potentieller Nachteil des Kommentars in dieser Form ist, dass, wer zu einer bestimmten Passage ‚alles‘ wissen möchte, an mehreren Stellen schauen muss – d.h., man muss im Kommentar hin und her blättern und wird auch immer wieder auf die Z-Einträge im ersten Band verwiesen. Gleichwohl überwiegen die Vorteile der gewählten Struktur m.E. ganz klar, da damit der nicht-spezialisierten Leserschaft, welche (wie oben genannt) die Hauptzielgruppe von Binders Werk darstellt, die Arbeit zu selektiven Aspekten ausgewählter Passagen oder Szenen erleichtert wird. Dennoch werden Griechisch- und Lateinischkenntnisse grundsätzlich vorausgesetzt, da Zitate aus den beiden Sprachen in der Regel im Original wiedergegeben und nur teilweise mit einer Übersetzung versehen wurden.
Zu Illustrationszwecken sei auf eine Versgruppe zu einer (wegen ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung nicht ganz zufällig ausgewählten) Stelle kurz näher eingegangen: auf die Szene, die die Tötung des Laokoon und seiner beiden Söhne durch zwei Seeungeheuer schildert (Aen. 2,199–233; Bd. 2, 120–124; V-038). In Kategorie A wird eingangs darauf hingewiesen, dass der „Übergang zur Laocoon-Erzählung […] durch m-Alliteration, die ungewöhnliche Wortstellung bei magis und durch den in Prodigien geläufigen Terminus turbat [markiert wird]“ (120). Es folgen sodann Beobachtungen zur sprachlich-stilistischen Gestaltung (z.B. dazu, dass die „kreisende Bewegung der Schlangen […] in der Szene mehrfach wiederholt [wird]“ und dass sich Vergil „häufig in kurzem Abstand eines Wortes in gleicher oder abweichender Bedeutung [bedient]“, 120), zur Semantik (z.B. zu pontum […] legit in Vers 207: „lego in Verbindung mit pontum,aequor, (litoris) oram u.Ä. Terminus der Seefahrt“, 120) und zur Grammatik (z.B. zu oculos suffeci sanguine in Vers 210: „erweiterter Accusativus respectus bei Partizip Perfekt Passiv“, 121). Während sich Kategorie B auf wenige Querverweise zu den vorhergehenden Szenen beschränkt, finden sich in Kategorie C Ausführungen zur Ringkomposition der Szene und zur Bildhaftigkeit ihrer Ausgestaltung, wobei Binder die bereits von Gotthold Ephraim Lessing (Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, 1766) herausgestellten Unterschiede zur Laokoongruppe hervorhebt. Ferner diskutiert werden die Priesterrolle des Laokoon, der Vergleich von dessen Todesschreien mit einem brüllenden Opferstier sowie der Prodigiencharakter der beiden Seeungeheuer. Dabei wird abschließend festgehalten, dass „Prodigien ebenso wie Gleichnisse […] in der Aeneis oftmals weit über ihren engen Kontext hinaus[reichen]: Der Tod des Stieres im Gleichnis vertritt den – nicht berichteten – Tod des Laocoon, Laocoons Tod weist auf den Untergang Troias voraus“ (123).
Das Beispiel dieses Lemmas dürfte eine hinreichende Vorstellung vom Charakter und von der Nützlichkeit von Binders Kommentar vermitteln. Die benutzerfreundliche Struktur der einzelnen Lemmata wird optisch durch den sinnvollen Einsatz von Fett- und Petitdruck sowie von Einrückungen und Punktelisten noch gesteigert. Auf Fußnoten wird traditionsgemäß verzichtet. Druckversehen sind mir keine, Stilblüten nur ganz wenige aufgefallen (z.B. Bd. 2, S. 309: „Ekelhaftigkeit“).
Wie eingangs erwähnt, bezweckt Binder mit seiner herkulischen Kommentararbeit nichts weniger als die Bewahrung „eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur“ vor dem Vergessen. Dass dieses hehre Ziel erreicht werde, ist dem Autor (und uns allen) von ganzem Herzen zu wünschen. Dem hinzufügen möchte ich hier Folgendes: In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist die Tendenz zu monolingualer (sprich: rein englischsprachiger) Forschungsvermittlung und -rezeption aus den Naturwissenschaften (wo selbige längst üblich ist) zunehmend auch auf die Geisteswissenschaften übergeschwappt. Dass diese hauptsächlich aus dem nordamerikanischen Raum kommende Entwicklung in paradoxem Gegensatz zu dem aus ebenjenem Milieu immer lauter zu vernehmenden Ruf nach diversity in der akademischen Welt steht, sei nur am Rande angemerkt. Tatsache ist, dass die Notwendigkeit, nicht-englischsprachige Forschungsliteratur zu lesen und zu berücksichtigen, nach wie vor besteht.[5] Binders Aeneis-Kommentar legt beredtes Zeugnis dafür ab, dass sprachliche Vielfalt auch in der Klassischen Philologie des 21. Jahrhunderts eine Realität darstellt.
Fußnoten
[1] Hier sind v.a. die Kommentare von Nicholas Horsfall zu den Büchern 2 (2008), 3 (2006), 6 (2013), 7 (2000) und 11 (2003) sowie diejenigen von Lee M. Fratantuono (und R. Alden Smith) zu den Büchern 5 (2015), 8 (2018) und 11 (2009) zu nennen (s. Binder Bd. 1, 381–383 für die bibliographischen Details).
[2] R. Deryck Williams, The Aeneid of Virgil, 2 Bände, London 1972/3.
[3] Siehe dazu den Klappentext: „Der letzte deutsche Gesamtkommentar zu Vergils Aeneis von Th. Ladewig, C. Schaper, P. Deuticke und P. Jahn, begründet in der Mitte des 19. Jahrhunderts, erschien in 13. bzw. 9 Auflage in den Jahren 1912 bzw. 1904 und wurde 1973 unverändert neu gedruckt.“
[4] Die textkritische Grundlage bilden die Ausgaben von R.A.B. Mynors (P. Vergilii Maronis Opera, Oxford 1969) und von Gian Biagio Conte (P. Vergilius Maro: Aeneis, Berlin 2009). Allerdings wird nicht vollständig klar, welche die von Binder präferierte ist; im Vorwort (Bd. 1, 7) wird lediglich empfohlen, eine der beiden oder aber den Text der Reclam-Ausgabe (Edith und Gerhard Binder, Vergil: Aeneis. Lateinisch/Deutsch, 6 Bände, Stuttgart 1994–2005) zu benutzen.
[5] Zu der beunruhigenden Entwicklung der Altertumswissenschaften in Richtung Mono-Anglophonie siehe Alexander Rubel, „Quo Vadis Altertumswissenschaft? The Command of Foreign Languages and the Future of Classical Studies“, in: Classical World 112 (2019) 193–223.