Das hier zu besprechende Buch ist aus einer althistorischen Dissertation hervorgegangen, die im Wintersemester 2016/17 unter dem Titel ‚Militärische Niederlagen in der römischen Erinnerungskultur‘ an der Universität Köln angenommen wurde. Der ursprüngliche Titel beschreibt die Zielsetzung dieser Untersuchung wesentlich zutreffender, denn es geht hier weniger um militärisch-administrative oder politische Reaktionen auf römische Niederlagen, sondern um deren Bewältigung in der römischen Historiographie. Die Limitierung auf die Geschichte der römischen Republik ist bedauerlich, denn die parallel dazu erschienene Arbeit von O. Stoll macht deutlich, dass auch die römische Kaiserzeit genügend Material für diese Fragestellung liefern kann.1
Wenn man aber diese Zielstellung erst einmal akzeptiert hat, dann bietet Lentzsch (L.) in seiner Untersuchung einen grundsoliden und gut informierten Beitrag zu der Erforschung dieser Fragestellung.
L. beginnt in seiner Einleitung (1-19) mit einer breiten und gut dokumentierten Geschichte der bisherigen Forschung zu seinem Thema. Im Anschluss daran legt er seine Kriterien für die Auswahl der von ihm genauer diskutierten Bereiche offen. L. geht dabei von der Vorstellung einer gemeinsamen römischen Erinnerungskultur aus, in der ein weitgehender Konsens in der historischen Bewertung bestimmter Ereignisse vorhanden war. Vor diesem Hintergrund werden dann die gegen die Gallier verlorene Schlacht an der Allia und die Kämpfe um Numantia als zeitliche Eckpunkte für seine Untersuchungen ausgewählt. Dabei wird z. B. die Vernichtung der Fabier an der Cremera ausgeschieden, obwohl diese Niederlage deutliche Anklänge an den Opfertod der Spartaner an den Thermopylen aufweisen kann.
Die Limitierung seiner Untersuchung auf drei ausgewählte Gruppen von Gegnern (Kelten, Samniten, Punier) ist auch aus Gründen der Ökonomie nachvollziehbar, obwohl damit u. a. auch die sehr verlustreichen Kriege auf der iberischen Halbinsel und gegen die Germanen herausfallen, die den Römern viele schwere Niederlagen (etwa die Katastrophe von Arausio) bescherten. Es wäre schon interessant, wenn wir sagen könnten, wie ein Livius diese Katastrophen behandelt und gedeutet hat.
In Kapitel 2 ‚Methodische Vorbemerkungen‘ (21-71) liefert L. einen guten Überblick zur aktuellen Diskussion zum römischen Umgang mit Geschichte und Geschichtsschreibung. Bereits in diesem immer noch einleitenden Kapitel wird eine der positiven Charakteristika der gesamten Untersuchung sehr deutlich. L. operiert in der Regel auf der Basis einer gründlichen Kenntnis der einschlägigen antiken Literatur, was sich u. a. an den teilweise sehr ausführlichen Zitaten aus den entsprechenden Autoren ablesen lässt, die den Lesern in den Fußnoten präsentiert werden. Es ist im gewissen Sinne ein fast altmodisches Buch, was der Rezensent durchaus als Kompliment verstehen möchte, da sich L. nicht davor gescheut hat, sich ausführlich mit dem Quellenbestand auseinanderzusetzen.
Die eigentlichen Detailuntersuchungen beginnen in Kapitel 3 ‚Seit dem Bestand unserer Herrschaft der gefährlichste Gegner‘ (73-169) mit der Behandlung der Keltenkriege. Dabei konzentriert sich L. auf die römische Katastrophe an der Allia und die anschließende Besetzung Roms durch die Gallier, ein Ereignis, das nur durch die erfolgreiche Verteidigung des Kapitols etwas gemildert wurde. Neben einer ausführlichen Diskussion, wie diese Ereignisse in der literarischen Tradition behandelt wurden, bietet L. auch einen guten Überblick zu den Erklärungsmustern, die man zur Deutung entwickelte. Dabei ist neben der individuellen Überheblichkeit vor allem die sträfliche Vernachlässigung der religio von Bedeutung. Leider bleibt neben der Aufarbeitung der literarischen Tradition die historische Einbindung des Keltenangriffs etwas auf der Strecke. Die Möglichkeit, den keltischen Angriff auf Rom im Kontext der italischen Politik des Dionysios I. von Syrakus zu sehen, hätte zumindest erwähnt werden können. Im Vergleich mit der Niederlage an der Allia bleiben die anderen römischen Niederlagen gegen die Kelten (149 ff.) eher unbedeutend und haben sich wohl auch nicht so stark in das kollektive Gedächtnis der Römer eingebrannt.
Im Vergleich dazu ist Kapitel 4 ‚Unters Joch – Die Samnitenkriege‘ (171-208) sehr knapp ausgefallen. Aus der wechselvollen und blutigen Geschichte dieser Kriege wird vor allem die peinliche römische Kapitulation von Caudium thematisiert. Die Erklärungsmuster, die sich aus der antiken Literatur ermitteln lassen, sind wie bereits bei den Keltenkriegen moralische Überheblichkeit und sträfliche Vernachlässigung der religio durch die Verantwortlichen. Der Gedanke der Revanche für diese Niederlage und auch das Durchhaltevermögen der Römer werden hier etwas stärker betont.
Kapitel 5 ‚Rom dunkelste Stunde – Die römisch-karthagischen Kriege‘ (209-432) ist mit weitem Abstand am ausführlichsten ausgefallen und daher schon fast eine kleine eigenständige Monographie einzustufen. Die Konzentration des Autors auf die beiden ersten punischen Kriege ist sachlich durchaus gerechtfertigt, da der 3. punische Krieg für die Römer teilweise eher peinlich, aber niemals existenzgefährdend war. L. bietet hier eine sehr ausführliche und gut fundierte Untersuchung fast der gesamten einschlägigen römischen Historiographie zu diesen beiden Konflikten, deren Resultate in konzentrierter Form in den vielen Fußnoten präsentiert wird.
Von den reichlich vorhandenen Katastrophen des 1. Punischen Krieges werden in exemplarischer Form die von Claudius Pulcher zu verantwortende Katastrophe von Drepana und die Niederlage des Atilius Regulus in Afrika behandelt. Warum man gerade Claudius Pulcher als Übertäter herausgriff, wird nicht recht deutlich. Es gab auch genügend andere Feldherren, die durch Leichtsinn oder schiere Inkompetenz in diesem Krieg Flotten verloren. Pulcher dürfte aber der einzige unter ihnen gewesen sein, der sich durch sein anschließendes Verhal-ten der Meinung des Senates widersetzte (Ernennung seines scriba zum dictator).
Die stark an Einzelpersonen ausgerichtete Geschichtsschreibung wird gut am Beispiel des Atilius Regulus exemplifiziert. Man könnte sein Schicksal fast in die Worte zusammenfassen, dass er zwar sein Heer verloren hatte, aber dennoch als der moralische Sieger vom Platz gehen konnte.
Der 2. Punische Krieg stellt im Vergleich zum ersten Krieg eindeutig ein Sonderfall dar. Wir besitzen nicht nur mit der 3. Dekade des Livius eine durchgehende historische Quelle, sondern dieser Konflikt scheint auch deutlichere Spuren im kollektiven Gedächtnis des populus Romanus hinterlassen zu haben. L. arbeitet das entsprechende Material gewissenhaft auf und kann so die literarische Auseinandersetzung bis weit in die frühe Kaiserzeit hinein verfolgen.
Warum gerade dieser Krieg einen so bedeutenden Einfluss auf die spätere Erinnerungskultur der Römer gehabt hat, lässt sich wohl nicht monokausal erklären. Natürlich war die existentielle Bedrohung Roms durch den Feind wesentlich größer gewesen als im 1. Krieg, der sich ja weitgehend auf Kriegsschauplätzen außerhalb Italiens abgespielt hatte. Es dürfte aber auch daran gelegen haben, dass dieser Krieg wesentlich mehr auf beiden Seiten durch be-deutende Einzelpersönlichkeiten geprägt wurde, auf die man sich leichter als Vorbild beziehen konnte. Der 1. punische Krieg konnte weder mit einem Scipio Africanus noch einem Hannibal dienen. Vor dem Hintergrund der vielen Bürgerkriege und internen Streitigkeiten, die die späte Republik heimgesucht hatten, musste dieser Krieg geradezu wie ein Helden-epos wirken, das den späteren Generationen aufzeigen konnte, was der populus Romanus leisten konnte, wenn er sich im Kampf gegen einen Gegner einig war.
L. hat durch seine gewissenhafte und detailfreudige Analyse der literarischen Überlieferung einen wichtigen Beitrag nicht nur zur Geschichte der römischen Republik, sondern auch zur römischen Geschichtsschreibung für diese Epoche geliefert. Er kennt nicht nur sein Quellenmaterial, sondern hat sich auch intensiv und sehr kenntnisreich mit der vielfältigen Forschungsdiskussion auseinandergesetzt. Alles in allem eine bemerkenswerte Leistung.
Die Arbeit wird durch ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (445 ff.), sowie ein Register der Orte (479-480) und Personen (481-484) beschlossen. Bei der Anfertigung des Personenregisters ist L. sehr arbeitssparend verfahren und hat sich eine Differenzierung der großen Lemmata erspart (vgl. das Lemma Hannibal mit rund 60 Seitenangaben). Dass er aber völlig auf die Anfertigung eines Stellenindexes verzichtet hat, ist bei einer so stark mit antiken Quellen arbeitenden Untersuchung nur schwer zu tolerieren. L. hat sich damit einen Bärendienst erwiesen, denn er hat damit dem interessierten Leser den Zugriff auf die vielen guten Bemerkungen und Erkenntnisse, die sich in diesem Buch finden lassen, unnötig schwer gemacht.
Notes
1. O. Stoll, Vestigia Cladis – Roms Umgang mit militärischem Misserfolg. Niederlagen verdrängen, Siege betonen, Resilienz beweisen, Frank & Timme, Berlin 2019.