Die letzte deutsche Übersetzung des kleinen, unvollständig überlieferten Büchleins von Aineias Taktikos über die Verteidigung einer antiken griechischen Stadt stammt von Hermann Köchly und Wilhelm Rüstow aus dem Jahre 1853 und ist heute völlig veraltet. Im Gegensatz dazu kennen etwa das Italienische,1 das Französische,2 das Englische3 und einige andere Sprachen moderne Übertragungen, die den aktuellen Forschungstand jeweils adäquat widerspiegeln. 4 Angesichts sinkender Kenntnisse des Altgriechischen und (wieder) wachsenden Interesses an antiker Militärgeschichte kommt dem Unterfangen Kai Brodersens, die genannte Lücke zu schließen, ein hohes Verdienst zu. Aineias’ Werk ist nicht nur die älteste Schrift zur griechischen Militärtheorie, sondern es gibt auch Auskunft über durchaus praktische Probleme, denen sich verantwortliche Kommandeure, die mit einem Angriff auf ihre Stadt konfrontiert waren, ausgesetzt sahen. Es handelt sich um eine ergiebige Quelle für diverse Gegenstände, die mit Militär und Krieg im antiken Griechenland, aber auch der Gesellschaft, die sie trug und erlitt, zu tun haben.
Die Anlage des zu besprechenden Werkes entspricht den in der renommierten Reihe Tusculum publizierten Ausgaben von antiken Autoren: Zentral sind der Text und seine Übersetzung (S. 32–185), einführend stehen einige knappe Erläuterungen (S. 7–29), den Abschluss bilden Testimonien und Fragmente aus der Schrift bei späteren antiken Autoren (S. 186–191) sowie ein Anhang mit einer Literaturliste (S. 193–199), einer Konkordanz zu Übernahmen von Stellen des Aineias Taktikos durch Iulius Africanus (S. 199) und einem Register mit geographischen Bezeichnungen und Personennamen (S. 200).
Brodersen übersetzt des Aineias sperrige, wenig elegante, bisweilen technische Sprache in ein flüssiges, angenehm lesbares und gemessen an den schwierigen Voraussetzungen eingängiges, klares Deutsch. Die Aussagen des antiken Militärhistorikers werden verständlich präsentiert, ohne dass ihr Inhalt irgendwie ‚zurechtgebogen’ bzw. verfälscht oder der Vorlage nicht entsprechend rhetorisiert würde. Gerade die Passagen, in welchen Aineias detaillierte Empfehlungen zu Spezialfragen gibt, wie der Verwendung von Geheimschriften oder der Überwachung und Schließung von Stadttoren und entsprechenden Beispielen sind gut erfasst und dem zeitgenössischen Leser auf eine verantwortbare Weise näher gebracht. Die textliche Basis bildet vernünftigerweise die gründliche Ausgabe von Dain, von der nur in wenigen Punkten abgewichen wird.
Da der Aufbau des Werks logisch wenig ersichtlich ist, ist es für die Orientierung des Lesers hilfreich, dass die später eingefügten, doch vermutlich antiken Überschriften der meisten Kapitel unter Kennzeichnung ihrer Unechtheit stehen gelassen wurden. Nützlich für die Erkenntnis zu Person des Autors und zur Rezeption seiner Schrift sind die ebenfalls übersetzten Testimonien und Fragmente, die zumindest erahnen lassen, dass Aineias Taktikos von späteren griechischen Militärhistorikern wie Polybios oder Ailianos recht eifrig gelesen und rezipiert wurde.
Man kann davon ausgehen, dass das Zielpublikum dieser Ausgabe neben Studierenden und Forschenden der Alten Geschichte und der alten Sprachen in erster Linie aus dem viel zitierten interessierten Laien und Militärhistorikern anderer Epochen bestehen soll. Dementsprechend sind die einleitenden Ausführungen eher elementar und knapp gehalten und verzichten auf die Diskussion der diversen Forschungsfragen um Aineias Taktikos und sein Werk. Das rechtfertigt sich nicht nur durch den Charakter der Ausgabe, sondern auch dadurch, dass uiniges mit grosser Wahrscheinlichkeit geklärt ist, anderes hingegen sich kaum klären lässt. Zu Ersterem zählt die Datierung, die mit besten Argumenten in die erste Hälfte des 4. Jh. v. Chr. zu liegen kommt, zu Letzterem die genaue Identifizierung des Autors, der kaum mit einer bekannten Persönlichkeit aus diesem Zeitraum in Verbindung zu bringen ist; die Belege für Aineias von Stymphalos sind zu vage und zu wenig schlüssig, als dass der Taktikos mit ihm gleichgesetzt werden könnte. Zudem sind viele Probleme um Aineias Taktikos insbesondere in Whiteheads trefflicher Ausgabe ausführlich und kompetent behandelt, so dass sich auch vor diesem Hintergrund eine weitere Kommentierung zumindest nicht aufdrängt.
In den gerafften einleitenden Erläuterungen, die konsequenterweise meist auf einer allgemeinen Ebene bleiben, bietet Brodersen – neben einigen notwendigen Angaben zur Textüberlieferung – kurze Hinweise zu den Örtlichkeiten und historischen Figuren, die in Aineias’ Schrift auftreten, erklärt einige Begriffe zu Politik und Verwaltung in einer griechischen Stadt, stellt die Gottheiten vor, die im Werk vorkommen, geht auf das Alltagsleben ein, wie es uns bei Aineias entgegentritt, und erläutert die erwähnten Maße und Zeitangaben. Besondere Beachtung erhält indessen ein Sachverhalt, der in der Forschung einige Kontroversen ausgelöst hat, nämlich die Frage, wie des Taktikos’ Ausführungen zur Sicherung der Stadttore zu verstehen sind. Brodersen gibt eine plausible Interpretation, die auch für militärtechnische Laien nachvollziehbar ist. Außergewöhnlich ist überdies, dass Brodersen knappe Darlegungen zum teilweise bewegten Leben und der Arbeit seiner ‚Vorgänger’ Köchly und Rüstow gibt; das ist in einer Übersetzung nicht unbedingt zu erwarten und wirft ein Schlaglicht auf die Veränderungen, welchen die Beschäftigung mit der antiken Militärgeschichte unterworfen war. Während die beiden Gelehrten des 19. Jh. ein hohes Gewicht auf militärtechnische und strategische Elemente legten, werden sich heutige Leser stärker um den politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und militärhistorischen Gesamtzusammenhang, in dem das Werk angesiedelt ist, kümmern wollen. Dafür liefert Brodersen gewiss einen weiteren Baustein.
Im Ganzen liegt eine erfreuliche Bereicherung der Tusculum-Reihe vor. Brodersens kundige und sorgfältige Übersetzung wird Aineias Taktikos Lesern erschließen, denen die Hürde der fremden Sprache bislang zu hoch war, genügt aber überdies den Ansprüchen, welche wissenschaftliche Forschung und Unterricht an diese Textgattung stellen muss. Es würde mich nicht wundern, wenn der Taktikos im deutschsprachigen Raum zunehmend Gegenstand von altertumswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen würde.
Notes
1. Marco Bettalli: Enea Tattico. La difesa di una città assediata, Pisa 1990.
2. Enéé le tacticien: Poliorcétique. Texte établi par Alphonse Dain. Traduit et annoncé par Anne-Marie Bon, Paris 1967, NDr. 2002.
3. Aineias the Tactician: How to survive under Siege. Translated with Introduction and Commentary by David Whitehead, Oxford 1990, 2. Aufl. Bristol 2002.