BMCR 2017.10.27

Die Odyssee: Homer und die Kunst des Erzählens

, Die Odyssee: Homer und die Kunst des Erzählens. München: Verlag C. H. Beck, 2017. 329. ISBN 9783406708176. €26.95.

Publisher’s Preview

Brauchen wir noch ein Buch über die Odyssee ? Die Frage ist berechtigt. Und die antwortet lautet ‚ja‘, wenn man Die Odyssee: Homer und die Kunst des Erzählens gelesen hat. Inhaltlich reich und an vielen Stellen weit ausgreifend, doch methodologisch klar von einem narratologischen Ansatz ausgehend (wobei ein Fokus auf der in der Klassischen Philologie noch wenig etablierten kognitiven Erzählforschung liegt), packend geschrieben und sowohl für ein Laienpublikum verständlich als auch für Fachleute von Interesse und Belang, gehört Jonas Grethleins Monographie zu der Sorte Bücher, für die man die halbe Nacht aufbleibt, auch wenn am nächsten Morgen wieder die Pflicht ruft.

Einführend wird der nicht-fachmännische Leser mit dem Inhalt der Odyssee sowie den wichtigsten Eigenheiten und Parametern homerischen Erzählens vertraut gemacht (Kap. 1: „Einleitung“, S. 9-39): Beginnend mit einem Abriss der Homerischen Frage, leitet Grethlein über zu den Charakteristika von Formelsprache und typischen Szenen sowie Sprache und Stil, ehe er mit den Ausführungen zu „Erfahrung und Erzählung im Epos“ auf sein eigentliches Hauptinteresse – und somit auf die Hauptstoßrichtung des Buches – zu sprechen kommt, nämlich das Bestreben, „dem Erfahrungscharakter der Erzählung“ gerecht zu werden und zu diesem Zweck „der Odyssee in ihrem Handlungsverlauf [zu] folgen“ (S. 37). Dem Autor geht es, allgemeiner ausgedrückt, um das Phänomen des Erzählens als solches – dabei erweist sich die Odyssee, wie wir noch sehen werden, zum einen als prototypische Erzählung schlechthin; zum anderen lassen sich aber auch fundamentale Unterschiede zwischen antiken und neuzeitlichen Erzählmustern herausschälen, welche die universelle Gültigkeit der Odyssee als ‚Proto-Erzählung‘ wiederum relativieren.

Somit steht der erste Erzählblock der Odyssee, in dem die von Odysseus’ Sohn Telemachos zwecks Erkundigungen über seinen Vater angetretene Reise geschildert wird (Bücher 1-4), am Anfang der angestrebten sequentiellen Lektüre und Analyse (Kap. 2: „Die Telemachie: Erzählungen vom Vater“, S. 41-85). Die zu Zeiten analytischer Schindereien beinahe zu Tode athetierte Telemachie ist – so zeigt Grethlein eindrücklich – nicht nur ein integraler Bestandteil der Odyssee, sondern sie macht das Epos in mancherlei Hinsicht erst zu einem abgerundeten Kunstwerk: Der geographische Rahmen wird abgesteckt (Ithaka als Schauplatz der zu erwartenden Mnesterophonie); Telemachos’ Suche nach seinem Vater erzeugt Spannung (wann tritt Odysseus endlich auf?); die Heimkehrgeschichten der anderen Trojahelden bilden eine Folie, vor der Odysseus, der ultimative Heimkehrer, später brillieren kann. Zu Recht weist der Autor darauf hin, dass der Ausgang der Odyssee von Anfang an bekannt ist und dass somit die Spannung weniger im Inhaltlichen, sondern mehr in der Frage nach dem ‚wie‘ der konkreten narrativen Ausgestaltung liegt. Dies ist grundsätzlich durchaus richtig und stimmt auch mit der Beobachtung überein, dass „Homers Aufmerksamkeit […] eher dem Plot als der Figur [gilt]“ (S. 80) – was, so Grethlein, „in einem spezifisch antiken Verständnis von Persönlichkeit begründet“ sei (S. 82), welches sich (anders als das neuzeitliche Persönlichkeitsverständnis) nicht auf die subjektive Befindlichkeit des Individuums richte, weshalb wiederum auch die verbreitete Auffassung von Telemachos’ Reise als ‚Bildungsroman avant la lettre ‘ als anachronistisch abzulehnen sei. Allerdings ist einzuwenden, dass der positive Ausgang der Erzählung an vielen Stellen im Text systematisch unterminiert wird – sprich, es werden, über die gesamte Odyssee verteilt, in zahlreichen Personenreden immer wieder Zweifel an Odysseus’glücklicher Heimkehr geäußert, und zwar auch von Personen, die seine Rückkehr herbeiwünschen.1 Dies führt zu einer Form der Spannung, die dadurch erst möglich wird, dass der Rezipient einerseits aufgrund der durch den bekannten Mythos vorgegebenen Handlung mit einem positiven Ausgang rechnen kann, ja muss, dass aber andererseits ebendiese mythenontologische Gewissheit mit penetranter Systematik und Wiederholung narrativ untergraben wird. Diese Form der Spannung und Leserlenkung, die sich prominent etwa auch an der Attischen Tragödie beobachten lässt (und die besonders Euripides meisterhaft ausreizt), böte m.E. Raum für weiterführende Überlegungen.

Die beiden darauffolgenden Kapitel sind der Phaiakis ( Odyssee Bücher 5-12) gewidmet, innerhalb deren wiederum die Apologe (Bücher 9-12), d.h. der in homodiegetischer Rückblende von Odysseus vorgetragene Bericht über die Ereignisse vor seinem Aufenthalt bei Kalypso, von besonderer Wichtigkeit sind. Den Apologen voraus gehen bekanntlich die drei Gesänge des Barden Demodokos (Buch 8), mittels deren Odysseus’ Rolle als selbständiger Erzähler vorbereitet wird. Grethlein hebt in diesem Zusammenhang den Begriff der dichterischen ‚Ordnung‘ (κόσμος) wie auch die gemeinsame Thematik der drei Gesänge hervor, welche wiederum das Wesen des Odysseus spiegeln und auf den später erfolgenden Freiermord verweisen, nämlich den Gegensatz zwischen Gewalt und List, wobei Letztere Ersterer natürlich überlegen ist. Was die Apologe angeht, so hebt Grethlein – in Anlehnung an eine Arbeit von Glenn W. Most2 – zum einen deren ‚pragmatische‘ Bedeutung hervor: Odysseus schlüpft u.a. in die Rolle des Erzählers, um sich seine Heimkehr zu sichern: mittels Geschichten, die von Übertretungen des Gastrechts handeln, werden die Phaiaken an die Einhaltung desselben gemahnt, was auch den Heimtransport einschließt. Zum anderen wird auch die über das rein Episodische hinausgehende Verkettung der in den Apologen geschilderten Ereignisse betont: Über ein Netz von Analogien, Parallelen und Ringkompositionen werden die einzelnen Geschichten zu einem Ganzen verkettet, wobei eine klimaktische Progression wachsender Exotik und Fabelhaftigkeit die Aktivität des Odysseus mehr und mehr beschränkt: „[W]ährend Odysseus Polyphem und die Laistrygonen aus eigenem Antrieb aufsucht, muß er sich Skylla und Charybdis stellen, ob er will oder nicht. Odysseus ist immer weniger Handelnder, immer mehr der Erdulder“ (S. 105). Ferner ist ein Leitfaden, der die Apologe durchzieht, das Motiv der Nahrungsaufnahme – Grethlein spricht hier passend von einer „Dialektik zwischen Essen und Gefressenwerden“: „Den Monstern, die Odysseus und seine Gefährten zu verschlingen drohen, stehen Stationen gegenüber, in denen die Griechen selbst essen, oft mit verhängnisvollen Folgen“ (S. 103). Diese Dialektik lässt sich einerseits mit Grethlein anthropologisch bzw. religiös deuten, d.h. als Hinweis darauf, dass und wie „die Nahrungsaufnahme dem Menschen seinen Platz im Kosmos zu[weist]“ (S. 104).3 Andererseits könnte man hier m.E. auch noch einen Schritt weitergehen und recht eigentlich von einer ‚Poetologie des Essens‘ sprechen: Sowohl Dichtung (wie am Beispiel von Demodokos’ Gesängen gezeigt) als auch Nahrungsaufnahme verlangen eine klare ‚Ordnung‘ (κόσμος), und durch eine (u.U. auch nur geringfügige) Verletzung oder Missachtung gerät selbige aus den Fugen. So gesehen, ließe sich das Essensmotiv in den Apologen als Spiegel von Odysseus’ eigener Erzählerrolle deuten, in der er sich im Moment des Erzählens zurechtfinden muss.

Im Anschluss an dieses die Phaiakis umspannende Kapitel (Kap. 3: „Vom Zuhörer zum Erzähler: Odysseus bei den Phaiaken“, S. 87-119) folgt ein ‚Zoom‘ auf die wohl bekannteste Episode innerhalb der Apologe: die Geschichte vom Kyklopen Polyphem (Kap. 4: „Polyphem: Erzählung, Kunst und Geschichte“, S. 121-158). Nach Ausführungen zu der in den folgenreichen Wortspielen Οὔτις/Ὀδυσσεύς bzw. μήτις/μῆτις gipfelnden List des Odysseus und zur Deutung der Kyklopenepisode als Spiegel des Kontrasts zwischen griechischer Zivilisation und ‚barbarischer‘ Zivilisationsferne erfolgt ein Abstecher in Geschichte und Kunst der frühgriechischen Zeit. In zwei inhaltlich weit ausgreifenden Unterkapiteln, die den narratologischen Rahmen verlassen und somit Exkurscharakter einnehmen, zeigt Grethlein zuerst, wie das Kyklopenabenteuer als Reflex der griechischen Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden im Zuge der frühgriechischen Kolonisationsbewegungen gelesen werden kann und wie selbige in der Odyssee, „gebrochen durch den Spiegel der epischen Imagination“ (S. 139), reflektiert wird – ohne dass jedoch Polyphem, der ja durchaus auch zivilisatorische Züge trägt, pauschal als Paradigma für ‚das Fremde‘ schlechthin gedeutet werden dürfe. Daran schließt ein faszinierender kunsthistorischer Abriss an, in welchem Grethlein seine Sicht auf die in der archaischen Vasenmalerei massiert auftretenden Darstellungen der Blendungsepisode darlegt. Die Beliebtheit des Motivs erklärt sich, so der Autor, aus der Tatsache, dass „[b]ildliche Darstellungen des Blickes“ immer „potentiell reflexiv“ seien (S. 151): „Der Kyklop verliert das Organ, mit dem der Betrachter die Vase wahrnimmt. Die dargestellte Szene negiert das, worauf die Darstellung und ihre Wahrnehmung beruhen, und betont damit die Bedingung ihrer Möglichkeit. Polyphems Verlust des Augenlichtes läßt die Ungestörtheit des Blickes hervortreten, mit welchem der Betrachter das Bild wahrnimmt“ (S. 153).

Der Gesichtssinn und der Blick sind sodann auch im Kontext des Freiermordes von Belang. Dieser, der – in Verbund mit Odysseus’ stufenweise erfolgender Wiedererlangung von Identität und Besitztümern – die zweite Hälfte der Odyssee (Bücher 13-24) in Anspruch nimmt, ist Gegenstand der nächsten beiden Kapitel, deren erstes wiederum narratologisch ausgerichtet ist (Kap. 5: „Rückkehr, Wiedererkennung und Erzählung“, S. 159-203), während das daran anschließende auf die Ethik von Odysseus’ Verhalten fokussiert (Kap. 6: „Ethik und Erzählung“, S. 205-242). Eine umfassende Würdigung dieser beiden inhaltlich überaus reichen Kapitel muss hier aus Raumgründen unterbleiben – es seien deshalb stellvertretend zwei Aspekte herausgegriffen, die mir zentral erscheinen. Der eine Punkt ist, wie erwähnt, die Bedeutung des Blickes im Zusammenhang mit Odysseus’ Rückkehr und Rache: Grethlein spricht in diesem Zusammenhang von einem „konfrontative[n] Blick“, der „zu einem wichtigen Ausdruck von Kontrolle und Aggression“ wird (S. 163); Odysseus nutzt, so Grethlein, das „aggressive Potential des Auges“ (S. 175), um die Kontrolle über seinen Palast, der von den Freiern belagert wird, wiederzuerlangen, ehe es zum Blutbad kommt. Dies lässt sprachlich beispielsweise an der typisch homerischen Wendung ὑπόδρα ἰδών („von unten herauf blickend“) zeigen, die insgesamt neunmal in der Odyssee belegt ist, siebenmal davon bezogen auf Odysseus, wobei sich diese sieben Belege „in auffälliger Weise auf die Bücher 18 bis 22 [konzentrieren], in denen Odysseus […] ein Gegenüber mit seinen Augen fixiert“ (S. 173). Im Kontrast zur Bedeutung des Blickes für Odysseus als handelndes und die Kontrolle zurückerlangendes Subjekt steht der Umstand, dass bei seiner Wiedererkennung durch die ihm nahestehenden Menschen der Gesichtssinn kaum eine Rolle spielt: So erkennt etwa die Amme Eurykleia ihren ehemaligen Zögling haptisch an dessen Narbe, während Penelope ihren Gatten erst wirklich zu erkennen imstande und bereit ist, als er ihre Frage nach dem unverrückbaren Ehebett richtig beantwortet.

Der zweite Punkt, den ich stellvertretend für die zahlreichen der in den letzten beiden Kapiteln diskutierten Aspekte noch herausgreifen möchte, ist die Frage nach der ethischen Rechtfertigung des Freiermordes, welche Grethlein in seinem ‚Ethikkapitel‘ (zusammen mit der Frage nach Odysseus’ Verhalten gegenüber seinen Kameraden sowie der alten Streitfrage nach der homerischen Theodizee) ausführlich auszutarieren sucht. Zweifellos hat er Recht, wenn er betont, dass die Rache des Odysseus aus heutiger Sicht exzessiv blutrünstig erscheint und letztlich – um einen im aktuellen politischen Diskurs viel geschundenen Begriff zu gebrauchen – ‚unverhältnismäßig‘ ist: „weniger eine gerechte Strafe als ein Akt grenzen- und maßloser Rache“ (S. 215). Doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Grethlein bei der Diskussion dieser Frage etwas allzu sehr bemüht ist, ‚es allen recht zu machen‘, d.h. nicht nur der antiken Sicht (die eine derartige Blutrache tolerierte) Raum zu geben, sondern auch vorauseilend Verständnis für allfällige Einwände moderner Leser aufzubringen, die in der Klimax der Odyssee einen Ausdruck unbotmäßiger Brutalität sehen mögen. Ferner ist richtig, dass – wie der Autor zeigt – der homerische Erzähler über das ganze Epos hinweg darum bemüht ist, den Freiermord als gerechte Strafe erscheinen zu lassen, indem er etwa ständig (implizite und explizite) Vergleiche mit dem Ehebruch und der Bluttat der Klytaimnestra und des Aigisthos einflicht. Doch müssen wir gerade aus der Tatsache, dass der Erzähler ganz offensichtlich eine klar einseitige, positive Sicht auf die Mnesterophonie insinuiert, nicht ableiten, dass wir Gefahr laufen, mit solchen ethischen Überlegungen – interessant und relevant sie auch für sich genommen ja sein mögen – etwas von außen an den Text herantragen?

Beschlossen wird Grethleins Monographie von zwei kürzeren Kapiteln: Das eine nimmt das Ende der Odyssee – das sprichwörtliche τέλος – in den Fokus (Kap. 7: „Das Ende erzählen“, S. 243-269). Darin wird u.a. überzeugend gezeigt, dass sich die veraltete (aber zuweilen auch heute noch herumgeisternde) Auffassung, das 24. Buch der Odyssee sei ein späterer und somit ‚unechter‘ Zusatz, aus narratologischer Sicht widerlegen lässt – zumindest insofern, als man klar zeigen kann, dass das Buch zu einem abgerundeten Ganzen des Epos in vielerlei Hinsicht beiträgt und dass somit sein Fehlen eine Lücke hinterlassen würde. Das Schlusskapitel öffnet sodann den Blick auf die Rezeptionsgeschichte und illustriert an einem wenig bekannten, aber eindrücklichen Beispiel die paradigmatische Wirkkraft der Abenteuer des Odysseus (Kap. 8: „Epilog: Reflexivität und Erfahrung“, S. 271-282): Grethlein widmet seine letzten Seiten Primo Levi (1919-1987), dem Shoah-Überlebenden und Autor des autobiographischen Romans Ist das ein Mensch? (1947). „Levi sieht in Odysseus nicht nur den Dulder und Überlebenden. Odysseus ist ihm auch der Ur-Erzähler. […] Gereicht dem KZ-Insassen der leidende Odysseus zum mythischen Vorbild, so wird der Odysseus, der von seine Erlebnissen berichtet, ein Spiegel für den schreibenden Levi. Ebenso wie dieser erzählt er, um seine traumatischen Erfahrungen zu bewältigen“ (S. 276). Damit ist Grethlein in diesem weit ausgreifenden Epilog wieder bei einer seiner Grundfragen angelangt, nämlich, „warum Menschen ihre eigene Geschichte erzählen“ (S. 118). Odysseus ist nicht nur der prototypisch Umhergetriebene und Listenreiche – er ist auch der prototypische Erzähler. Erzählen als Mittel zur Traumabewältigung, als Form der Trauerarbeit, ja als Überlebensstrategie beginnt mit und bei Homers Odyssee.

Notes

1. Vgl. Thomas A. Schmitz, „Ist die Odyssee ‚spannend‘? Anmerkungen zur Erzähltechnik des homerischen Epos“, in: Philologus 138 (1994) 3-23: 4-12.

2. „The structure and function of Odysseus’ Apologoi “, in: TAPhA 119 (1989) 15-30.

3. Zentral ist in diesem Kontext eine neuere Arbeit von Egbert J. Bakker, auf die auch Grethlein wiederholt verweist: The Meaning of Meat and the Structure of the Odyssey, Cambridge (2013); vgl. die Rezension von Jeremy McInerney in BMCR 2014.01.40.