Am 27. Februar 1944 schrieb Kurt Latte, der die letzten Kriegsjahre versteckt und ohne größere Bibliothek verbringen mußte, an Konrat Ziegler, er lese die Arbeiten Louis Roberts „zur Erquickung.“1 Latte mag bis heute nicht der einzige sein, der aus der ungeheuren Belesenheit Roberts neben großem Nutzen für seine eigenen Arbeiten auch Genuß für sich selbst zog. Es ist nicht übertrieben, Peter Herrmann (1927–2002) in eine Reihe mit Robert zu stellen, nicht nur, weil er ein akademisches Jahr bei Robert in Paris verbrachte und ihm zeitlebens eng verbunden blieb.2 Peter Herrmann war nicht nur einer der führenden Epigraphiker seiner Generation, er verstand es zudem wie kaum ein zweiter, die aus Inschriften gewonnenen Erkenntnisse in größere historische Fragestellungen einzubetten. Neben seiner Studie zum römischen Kaisereid (1968) und den großen epigraphischen Corpora— Tituli Asiae Minoris V 1 (1981) und V 2 (1989) sowie Milet VI 1 (1997), VI 2 (1998) und VI 3 (postum 2006)—veröffentlichte er zwischen 1958 und seinem Todesjahr 2002 zahlreiche Aufsätze, von denen Wolfgang Blümel in den vorliegenden Band 59 aufgenommen hat, wobei auf Rezensionen verzichtet wurde. Die Publikation dieses gewichtigen Buches fällt zusammen mit Herrmanns 90. Geburtstag am 22. Mai 2017, dem auch mit einer wissenschaftlichen Tagung in Herrmanns jahrzehntelanger Wirkungsstätte Hamburg gedacht wurde.
Die versammelten Studien spiegeln deutlich Herrmanns Schwerpunkt, indem sie sich beinahe ausschließlich den Inschriften und der Geschichte Kleinasiens widmen, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf den Städten der Westküste liegt. Mit „Inschriften aus Lydien“ beschäftigen sich die ersten 20 Aufsätze, gefolgt von Studien zu „Inschriften aus Milet“ (Nr. 21–38). Die dritte Sektion untersucht „Inschriften aus verschiedenen Regionen“ (Nr. 39–55), die vierte bringt vier „übergreifende Darstellungen“ (Nr. 56–59), etwa die mittlerweile klassisch zu nennende Analyse des kaiserzeitlichen κοινὸν τῶν Ἰώνων (Nr. 59). Innerhalb dieser Sektionen sind die Aufsätze jeweils chronologisch angeordnet. Ein Beitrag, ursprünglich Ende der 1990er Jahre für eine Festschrift verfaßt, ist hier zum ersten Mal publiziert (Nr. 38: „Zur römischen Zollstation in Milet“).
Die Auswahl ist sehr gelungen; zum einen, weil die hier wiederveröffentlichten Aufsätze die ganze Spannbreite von Herrmanns Forschungen abdecken, zum anderen, weil sie darüber hinaus deutlich seine Arbeitsweise widerspiegeln. Nicht selten beginnt ein Aufsatz mit der Diskussion einer neugefundenen Inschrift, die zunächst detailliert beschrieben und eingeordnet wird. Nie jedoch bleibt die Kommentierung eine schlichte Aneinanderreihung von Einzelbeobachtungen, sondern eröffnet immer eine weite Perspektive, in der die erörterte Urkunde und die dort genannten Personen ihren historischen Ort hatten. Zudem erscheint in den einzelnen Beiträgen alles an seinem Platz: Nichts ist hier—auch nicht bei den frühen Beiträgen—veraltet oder antiquiert, die Sprache ist immer klar, die Quellenbelege und Parallelstellen sind vollständig, Fußnoten sind hingegen oftmals sparsam eingesetzt und nennen tatsächlich nur das Wichtigste. Durch die große Anzahl der aufgenommenen Schriften besteht jetzt überdies die Möglichkeit, daß mehr Leser als bisher auch die weniger bekannten Arbeiten Herrmanns lesen werden, etwa die zwanzig schlicht „Epigraphische Mitteilungen“ betitelten Miszellen (Nr. 49–55), die eine wahre Fundgrube nicht nur zur Epigraphik Kleinasiens, sondern zur Geschichte dieser Region darstellen.
Ausdrücklich zu danken ist dem Herausgeber für seinen Entschluß, die Aufsätze nicht mit dem alten Satzspiegel zu reproduzieren, sondern neu setzen zu lassen und mit gekennzeichneten Ergänzungen zu versehen, die die Arbeit mit dem vorliegenden Band deutlich erleichtern. So hat der Herausgeber keine Mühe gescheut, Verweise auf später erschienene Bände des Supplementum Epigraphicum Graecum, der Steinepigramme aus dem griechischen Osten und andere wichtige Publikationen in geschweiften Klammern beizufügen. Auf diese Weise lassen sich die gelehrten Diskussionen nachverfolgen, als deren Ausgangspunkte die hier abgedruckten Beiträge Herrmanns oftmals gelten dürfen.
Abgerundet wird der Band von einem vollständigen Schriftenverzeichnis Herrmanns (703–708), das die alte, bis 1998 reichende Zusammenstellung im Chiron 28, 1998, 1–10 ersetzt. Verwunderlich ist jedoch, warum Milet VI 3 (2006), anders als die ebenfalls postum erschienenen New Documents from Lydia (2007), hier nicht aufgenommen ist; zwar hatte Herrmann große Teile der Inschriften an seine Mitarbeiter abgegeben, selbst aber die Kaiserbriefe sowie weitere verstreute Inschriften und Fragmente ediert, die übrigen Urkunden revidiert (s. das Vorwort von W. Günther—N. Ehrhardt, Milet VI 3, p. IX).
Mehrere Indices (709–718), über die das reiche Material detailliert erschlossen wird, beschließen das Buch. Hier sind andere epigraphische Publikationen ebenso erfaßt wie Quellen, Personen (Könige und Kaiser, „Prominente Persönlichkeiten“, Götter und übrige Personennamen), Geographica, aber auch griechische und lateinische Wörter. Die Verweise sind, soweit Stichproben dieses Urteil zulassen, zuverlässig, aber keinesfalls vollständig. V. a. wichtige Begriffe und Personen sind nicht oder nur teilweise aufgenommen worden.3 Vielleicht wäre ein alle Personen berücksichtigender Index zielführender gewesen als die Rubrik „Prominente Persönlichkeiten“.4 In jedem Fall hätten umfassende Indices nicht nur die Arbeit mit dem Band insgesamt erleichtert, sondern auch Querverbindungen zwischen einzelnen Beiträgen gefördert. Positiv seien hingegen die zahlreichen Abbildungen erwähnt, die durchweg in sehr hoher Qualität abgedruckt sind.
Trotz des hohen Preises darf dieser gewichtige Band in keiner altertumswissenschaftlichen Bibliothek fehlen. Niemand, der sich mit griechischer Epigraphik im weiteren Sinne und mit Inschriften aus Kleinasien im besonderen beschäftigt, wird diesen Band unbeachtet lassen. Doch auch wer nicht oder nur selten mit diesen Urkunden arbeitet, sollte die hier versammelten Beiträge lesen—zum Nutzen für die eigenen Arbeiten und, nicht zuletzt, „zur Erquickung.“
Notes
1. H. Gärtner, „Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten!“ Unpublizierte Briefe Kurt Lattes aus den Jahren 1943–1946, in: GFA 5, 2002, 185–219, hier 200.
2. Zu biographischen Details vgl. den Nachruf auf Herrmann von Chr. Habicht, Gnomon 75, 2003, 474–79, hier 475 und Peter Herrmann, Briefe von der archäologisch-epigraphischen Stipendiatenreise 1955/56 in den Ländern des Mittelmeerraums, hg. v. E. Herrmann—N. Ehrhardt, München 2008, 183–85; zu Herrmanns Verbindung mit den Roberts vgl. seine Nachrufe auf Louis Robert, Gnomon 58, 1986, 81–83 und Jeanne Robert, Gnomon 75, 2003, 190–91.
3. Ich nenne nur ἀγωνοθέτης (438; 447, Anm. 100; 449; 508 [auch συναγωνοθέτης]; 696); ἀρχιερεύς (206, Anm. 23; 381; 436–439; 446; 638; 698–701 u. ö.); αὐτονομία (613); δημοκρατία (613); ἐλευθερία (613); ζυγός (638), λαοί (619); συγχωρέω (336, Anm. 53) χρυσοχόος (615); suffragium (334, Anm. 42). Von den Personen ist Cn. Vergilius Capito auch 625 genannt; A. Iulius Quadratus aus Pergamon fehlt unter den „prominenten Persönlichkeiten“, obschon er von Herrmann als „bekannt“ bezeichnet wird (330).
4. Kaiser Caligula wird auch 160–62; 206, Anm. 23; 208; 391; 427; 430, Anm. 35; 606 erwähnt; Hadrian taucht im Index gar nicht auf, wird aber 142, Anm. 22; 197, Anm. 58; 512; 533; 605f.; 689 genannt. Aus den nicht verzeichneten literarischen Quellen seien u. a. hinzugefügt: Tac. Ann. III 63: 430, Anm. 35 und Philostrat V. Soph. II 25,6: 689.