Die Seelenschrift des Aristoteles gehört zu den meistzitierten und am häufigsten kommentierten Werken der Philosophiegeschichte. Der anspruchsvolle Text, dessen äußerst knappem Stil wohl die letzte Feile einer Schlussredaktion fehlt, setzt die Kenntnis der aristotelischen Naturphilosophie und Metaphysik voraus, hat aber inhaltlich mit Psychologie im modernen Sprachgebrauch sehr wenig zu tun. Das Bild der Seele lässt Aristoteles klarer zu Tage treten, indem er deren Kräfte erläutert, allesamt Lebensfunktionen; Wachsen, Ernähren und Verdauen gehört ebenso zur Seele wie Wahrnehmen und Denken. Die Reihenfolge beseelter Entitäten ist so angelegt, dass die jeweils höheren Lebewesen auch über die niedrigeren Lebensfunktionen verfügen und sie zugleich nach Maßgabe ihrer höheren Lebensfunktionen verändern. Auch die Pflanzen, lebendige Wesen ( tà zônta), aber keine Lebewesen ( tà zôa, haben nach Aristoteles eine Seele, sie verfügen allerdings nur über die vegetative Seelenkraft, d. h. die Fähigkeit zu leben, Nahrung aufzunehmen, zu wachsen und sich fortzupflanzen. Dieses Vermögen der Seele ist das gemeinsame Merkmal aller Organismen, d. h. sowohl der Menschen und Tiere als auch der Pflanzen. Tiere und Menschen zeichnet wiederum das Wahrnehmungsvermögen aus, sie können mittels eigener Organe äußere Sinneseindrücke erfassen. Pflanzen sind gerade deshalb ohne Wahrnehmung, weil sie aus erdartigem Material bestehen, was die sinnliche Wahrnehmung nicht zulässt. Ein Lebewesen ist nach Aristoteles dadurch definiert, dass es Wahrnehmung besitzt, und zwar an erster Stelle das Tastempfinden, weil dieses von allen Sinnen am notwendigsten ist. Folglich ist der Tastsinn als einziger Sinn allen Lebewesen gemeinsam. Das dritte Buch befasst sich vorerst mit der Frage der Vollständigkeit der Wahrnehmungssinne und kommt hierauf auf den entscheidenden Mangel der Tiere gegenüber den Menschen zu sprechen, auf das Fehlen der Vernunft. Die Menschen verfügen zusätzlich über die Kraft des Verstandes und des Denkens ( logismòs kaì diánoia), sie haben eine vernünftige Seele. Tieren hingegen sind Allgemeinbegriffe, Urteilsbildung, Schlussfolgerung, geistige Betrachtung, Planmäßigkeit im Handeln, moralisches Empfinden, Freundschaft und höhere Formen der Gemeinschaft fremd. Der vernunft- und sprachbegabte Mensch nimmt nach Aristoteles eine prominente Position unter den Lebewesen ein, denn nur er hat Anteil am Nous.
Damit wäre im Groben das Gerüst der Seelenschrift nachgezeichnet, dem der vorliegende systematische Kommentar folgt. Der Verfasser will, wie er im Vorwort (S. 12) sagt, eine erste Anleitung zur selbstständigen Lektüre und kritischen Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Text liefern und Hilfestellung bieten. Mit vollem Recht bezieht er dabei die von Aristoteles aufgegriffenen Positionen von Vorsokratikern und Platon mit ein, soweit sie der Erklärung der Positionen des Stagiriten dienlich sind (S. 37-67; 195f.). Wie der Autor in der Einleitung weiter ausführt, sei die Seelenschrift für theoretische Fragestellungen der Poetik, der Metaphysik und anderer naturwissenschaftlicher Traktaten äußerst bedeutsam, setze selbst aber recht wenig (S. 14) voraus. Nichtsdestoweniger stellt Hahmann viele fruchtbare Querverweise und erklärenden Bezüge zu nahezu dem gesamten Schrifttums des Aristoteles her (S. 16; 28; 31; 104; 107; 115f.; 123 A. 21; 124; 127f.; 135 A. 32; 163 A. 2; 170f.; 178 A. 1); als Glanzstück sei der Exkurs Die Voraussetzungen der Wahrnehmungen (S. 150-155) mit den wesentlichen Passagen aus der Physik, der Kategorienschrift und einzelner Abhandlungen der Parva naturalia hervorgehoben. Hahmann wendet sich mit seinem Kommentar auch an Nichtspezialisten, dem erste Verständnishürden (S. 15) genommen werden sollen. Deshalb baut er sein Werk so auf, dass es auch ohne Text (bzw. Übersetzung) gut lesbar und verständlich ist. Grundlage ist die Standardausgabe von W. D. Ross (Oxford 1956), von der Hahmann nur an wenigen Stellen abweicht. Der systematische Kommentar folgt fortlaufend, gleichsam Schritt für Schritt, dem mitunter nicht einfachen Argumentationsverlauf des aristotelischen Textes und gliedert sich in die acht Kapitel Prooemium (S. 20-36), Die Diskussion der Vorgänger (S. 37-67), Die vorläufige und allgemeinste Definition der Seele (S. 68-95), Ausarbeitung der verschiedenen Seelenvermögen und Wahrnehmung – Teil 1: Die einzelnen Wahrnehmungssinne (S. 96-155), Wahrnehmung – Teil 2 (S. 156-176), Die Vorstellung (S. 177-192), Der Nous und die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele (S. 193-222) und schließlich Die Bewegungsfähigkeit der Seele (223-242).
Jeder Abschnitt ist übersichtlich strukturiert, jede zu kommentierende Sinneinheit wird gut überschaubar gegliedert (vgl. bes. S. 70; 98ff.; 157f.), oft greift Hahmann wichtige, schon in einem früheren Kapitel behandelte Gedanken und Fragestellungen wieder auf und ruft sie den Lesern und Leserinnen ins Gedächtnis zurück (s. bes. S. 71; 146; 171f.); dadurch dass er Hauptgedanken knapp und einprägsam in kurzen Zusammenfassungen auf den Punkt bringt, bietet er viele kluge Orientierungshilfen im aristotelischen Gedankenlabyrinth (vgl. S. 74; 223ff.). Bei all dem steten Bemühen um Lösungen von Deutungsproblemen und um gute Verständlichkeit des nicht selten rätselhaften Textes werden Schwierigkeiten und Grenzen der Interpretierbarkeit des Textes oft freimütig einbekannt (S. 66, 159; 204; 210; 215). Hahmann verfügt über eine bewundernswert fundierte Kenntnis der gesamten Forschungsliteratur, geht aber wohldosiert damit um, was dem Lesefluss und der Konzentration auf den jeweiligen aristotelischen Gedankengang sehr förderlich ist. Unterschiedliche Textvarianten und Lesarten des griechischen Originals werden ebenso kenntnisreich diskutiert (S. 82 A. 9; 184 A. 4; 200 A. 3) wie Fragen der Übersetzung (S. 80 A. 5; 113 A. 13; 144 A. 34; 180 A. 2).
Auch durch die Zuhilfenahme der antiken Kommentatoren (wie etwa des Philoponos auf S. 147 A. 36 und 185 A. 5 sowie des Simplikios auf S. 149 A. 37 und 186 A. 6; vgl. auch den Hinweis auf die Deutungskontroverse zwischen Alexander von Aphrodisias und Thomas von Aquin auf S. 207) und durch kluge eigene Bespiele (S. 188; 198; 199; 200) macht Hahmann so manchen Sachverhalt klarer.
Als Kritik sei lediglich angemerkt, dass es manche Leser und Leserinnen als lästig empfinden könnten, dass Hahmann in seinen Erklärungen sehr oft lapidar ohne Seiten- oder Kapitelangabe auf später verweist (so etwa S. 57; 63; 73; 97; 97 A. 2; 114; 124; 131; 134); es hätte keine große Mühe gekostet, wie etwa auf S. 87 A. 7; 100; 192, anzugeben, auf welcher Seite man denn nun die aus Gründen der Straffung und Konzentration gerade nicht weiter zu verfolgende Gedanken oder Themenbereiche später im Text findet.
Das Schlusskapitel über die antiken Kommentare der Seelenschrift (S. 243-255) ist thematisch auf Fragen des Denkens und der Wahrnehmung fokussiert und behandelt den Traktat De anima des Alexander von Aphrodisias, Themistios‘ Paraphrase der aristotelischen Seelenabhandlung, Philoponos‘ Kommentar zu den ersten beiden Büchern von Aristoteles‘ Über die Seele, Pseudophiloponos mit seinem Kommentar zum dritten Buch sowie die lateinische Übersetzung von dessen Traktat über den Nous ( De intellectu), schließlich noch den lange dem Simplikios zugeschriebenen, wahrscheinlich von Priskianos von Lydien stammenden Kommentar.
Opulente Literaturangaben (S. 256-264) beschließen ein höchst willkommenes Buch, das man nur mit Nachdruck empfehlen kann.