BMCR 2017.03.10

Moral History from Herodotus to Diodorus

, Moral History from Herodotus to Diodorus. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2016. viii, 312. ISBN 9781474411073. £80.00.

Preview

Von der Feststellung ausgehend, daß die Vermittlung nützlichen Wissens ein zentrales Anliegen der antiken Historiographie war, setzt Hau in der Einleitung (S. 1-19) dieses mit der Vermittlung einer moralischen Lehre gleich, die “is to be understood in a broad sense, as a strategy employed by an author to teach the reader something about the ethical implications of various human actions and behaviours“ (S. 7), wobei “moral didacticism“ dem “teaching something of moral significance“ (S. 8) entspricht. Indessen fehlt eine Definition dessen, was genau Hau für moralisch hält.1 Sie unterscheidet zwei Arten von “moral didacticism“: die expliziten Äußerungen des Autors in narrativen Pausen (z.B. in den Exkursen) und die innerhalb einer Erzählung verwendeten moralisierenden Strategien, zu denen “evaluative phrasing“, Reden oder ganze Szenen (“moral vignette“, S. 11) gehören. Ebenso kann durch die Aneinanderreihung von Ereignissen nach dem Muster von Ursache und Wirkung oder durch die Wiederholung von gleichen Themen beim Leser implizit ein moralisches Urteil hervorgerufen werden. Bei der Frage nach den Rezipienten der Geschichtswerke meint Hau, daß es sich nicht nur um Politiker und Militärs handle, sondern daß wie in der attischen Tragödie ein breites Publikum angesprochen werde. Sie meint, daß die meisten Historiker “do in fact make an effort to show that those who behave morally tend to be rewarded, if not by outright practical success, then by obtaining a good reputation among their contemporaries or, if nothing else, by posthumously earning the immortal praise of history“ (S. 14), wobei “moral didacticism was not an add-on to ancient historiography invented by rhetorically degenerate Hellenistic authors, but an integral feature of the genre from its very inception“ (S. 18).

Im ersten Kapitel behandelt Hau Polybios (S. 23-72), wobei sie sich zunächst gegen die weit verbreitete Meinung2 wendet, gemäß der Polybios’ Lehre vor allem praktischer und nicht auch moralischer Natur gewesen sei. Sie betont, daß Polybios “did not distinguish between his moral and political views“ (S. 24). Für sie ist die Tatsache, daß Polybios in den Proömien 1,1,1-4 und 3,4,1-6 auch das Thema “of the peripeteiai, or sudden reversals of fortune“ (S. 26) behandele und dem Leser exempla aus der Geschichte gebe, um mit diesen Situationen fertig zu werden, ein Beweis für den das ganze Werk durchdringenden “moral didacticism“ sei. Dies zeige Polybios in Exkursen wie z.B. demjenigen über die Exzesse der Söldner (1,81,5-11). Ebenso lenken wertende Bemerkungen bei der Beurteilung von Seleukos III (4,48,7-13) nicht nur die Rezeption, sondern vermitteln implizit auch moralische Lehren, wie mit dem Erfolg bzw. der Niederlage umzugehen ist; positive Beispiele, wie die Unsicherheiten der τύχη zu meistern sind, liefern die beiden Scipionen. Der Rückgriff auf traditionelle Erzählmuster, gemäß denen in vielen Fällen, “those who behave according to the moral code propounded by the narrator are successful whereas those who behave immorally come to grief“ (S. 39), diene der moralischen Unterweisung der Leser. So entstehe der Eindruck, daß Roms Erfolge auf die moralische Korrektheit seiner Amtsträger zurückgehen. Hau meint, daß bei Polybios die Kategorien von δίκαιον und καλόν mit dem συμφέρον nicht in Widerspruch stehen. Somit ist für Polybios der tüchtige Mensch “brave and intelligent, lives a moderate life, and displays no signs of greed. He is also a good commander, who knows how to combine courage with intelligence, and he never falls into the trap of becoming arrogant in the delusion that good fortune will last“ (S. 67).

Im zweiten Kapitel zu Diodor (S. 73-123) verfährt Hau nach demselben Muster, wobei sie zunächst die Frage bespricht, ob der “moral didacticism“ von Diodor selbst stamme oder auf seine Quellen zurückgehe, weil die moralisch-didaktischen Partien im Werk ungleichmäßig verteilt seien. Sie neigt zur Auffassung, daß dieser letztlich auf Diodors Quellen (wie Ephoros oder Timaios) zurückgehe: “When there was no moralising in his source, he either forgot about his moral-didactic agenda or considered writing moralising from scratch too much of an effort“ (S. 94). Bisweilen habe er aber “moulded the passages into a coherent moral-didactic system, or the moral lessons in his sources were very similar to begin with“ (S. 121). Diese Vorstellung fußt auf der Hypothese, daß Diodor jeweils nur einer Quelle gefolgt sei und selbst kaum zur ideologischen Färbung seines Werks beigetragen habe. Da wir nur wenige Fragmente aus den Autoren, die Diodors Quellen waren, besitzen, ist ein Vergleich zwischen diesen und Diodor nur selten möglich. Wie bei Polybios findet man in auktorialen Passagen, in Reden und in einzelnen Szenen eine moralisierende Tendenz. Dazu kommt oft eine lenkende göttliche Gerechtigkeit, die sich bei der Bestrafung von Übeltätern manifestiert. Weitere moralische Aspekte, die die Erzählung prägen, sind die Auswirkungen von (typischen Herrscher-)Tugenden wie Frömmigkeit, Menschlichkeit, Mut und Gerechtigkeit. Ebenso lenkt die plastische Schilderung von Lastern wie Grausamkeit und Gewalt auch ohne expliziten Kommentar die Rezeption (S. 113). Ob aber diese Schilderungen vorranging der Belehrung der Leser dienen und nicht bloß Mittel sind, um den Bericht attraktiv zu gestalten, wie es für die Sensationshistorie seit Ktesias typisch ist, ist unklar. Auch Diodor vermittelt eine simple moralische Lehre: “Good men are pious, mild towards those in their power, courageous and just, and know how to stay humble in good fortune; villains are cruel, impious, greedy and often addicted to a life in luxury“ (S. 120).

Das dritte Kapitel (S. 124-168) ist den fragmentarischen hellenistischen Historikern gewidmet. In einer kurzen Einführung bespricht Hau sehr gut das Problem, daß nicht alle Fragmente wörtliche Zitate sind, sondern es sich oft um mit Kommentaren der zitierenden Quelle versehene Paraphrasen handelt. Als Beispiel erwähnt sie das Thema der τρυφή, das nur selten bei Herodot, Thukydides, Xenophon und Polybios erscheint, aber oft in den von Athenaios angeführten hellenistischen Historikern vorkommt. Sie meint, daß Athenaios den Diskurs der τρυφή ergänzt habe, da “it is unlikely that these Hellenistic historiographers differed so widely from their better surviving peers as to recommend the kind of lifestyle that could fit that term“ (S. 127). Indessen könnte gerade der philosophische Diskurs—nach TLG kommen Begriffe der Wurzel τρυφ- je 34mal bei Platon und Aristoteles vor, auch ein Zeichen des Einflusses der Philosophie auf diese hellenistischen Historiker und nicht erst ein Zusatz des Athenaios sein. Es folgt die Besprechung von Timaios, Duris, Phylarchos, Agatharchides, Poseidonios und Hieronymos von Kardia, wobei Hau jeweils die Fragmente, in denen moralische Themen im Vordergrund stehen und die mit den Beispielen aus Polybios und Diodor vergleichbar sind, behandelt. Allerdings vermindert, wie Hau selbst S. 167 zugibt, der fragmentarische Zustand und das Fehlen des weiteren Kontexts die Aussagekraft der einzelnen Fragmente.

Im vierten Kapitel (S. 172-193) behandelt Hau Herodot. Bei der Geschichte des Kroisos (S. 181 ff.) sieht Hau einen Widerspruch zwischen den verschiedenen Begründungen für dessen Fall (Erbsünde, Hybris, sich für den glücklichsten Menschen zu halten, falsche Interpretation der Orakel): “Herodotus never attempts to explain the contradiction between these three different explanations for Croesus’ misfortune, and probably no logical explanation should be attempted“ (S. 184). Indessen ist Herodots Erklärung durchaus stimmig und verbindet zwei Ebenen miteinander: eine menschliche und eine göttliche, deren Zusammenspiel Herodots Werk aufzeigt.3 Insgesamt warne auch Herodot vor der Überheblichkeit im Erfolg und empfehle ein mildes und freundliches Verhalten gegenüber den Mitmenschen.

Das fünfte Kapitel ist Thukydides gewidmet (S. 194-215). Anders als bei späteren Historikern sind bei ihm moralisierende Aussagen nicht explizit, sondern wie im Melierdialog implizit. Dieser diene “to illustrate a clash of morals and worldviews which he saw in his own time, between a traditional … attitude based on notions of divine justice and reciprocity, and a new, Sophistic attitude based on self-interest and the rule of the stronger“ (S. 199). Zu weit geht allerdings Haus Behauptung, daß die auktoriale Feststellung 3,68,5, daß Plataiai im 39. Jahr, nachdem es das Bündnis mit Athen eingegangen war, untergegangen ist, implizit eine Kritik an Athen enthalte, weil es seine Alliierten nicht schütze (“it makes the reader think about the obligations of allies and the destructive force of ruthless self-centredness“, S. 199). Ebenso zu einfach ist auch die Vorstellung, daß auf der Makroebene das Werk nach dem schon bei Herodot wirkenden Muster von “success-overconfidence-disaster“ (S. 201) gestaltet sei und Thukydides Aggressionen als Unrecht verurteile. Das Fehlen von Kritik an Perikles 2,65 ist für Hau “surprising given the fact that Pericles is the politician who leads Athens into the war“ (S. 213 f.). Abschließend meint sie, daß “Thucydides’ didactic message is an intellectual one; he offers understanding of the world, of human motivation and interaction and of military success and failure, but no very certain recipes for how to obtain it“ (S. 215).

Im sechsten Kapitel (S. 216-244) behandelt Hau Xenophons Hellenika. Es folgt wie bei den hellenistischen Historikern ein Kapitel (S. 245-271) über die fragmentarisch erhaltenen Historiker des 4. Jh. (den Oxyrhynchos-Historiker, Ephoros und Theopomp). Dabei betont Hau, daß nicht so sehr Ephoros als vielmehr Theopomp bezüglich der moralisierenden Tendenz der Neuerer gewesen sei.

Die Ergebnisse werden im Kapitel “Conclusions“ (S. 272-277) zusammengefaßt. Das Literaturverzeichnis, der Stellen- und der allgemeine Index (S. 278-312) runden das auch graphisch ansprechend gestaltete Buch, das nur wenig Druckfehler enthält, ab.4

Hau hat sicherlich Recht, daß die Vermittlung von Nutzen ein vorrangiges Ziel der antiken Historiker gewesen ist. Indessen ist zu beachten, daß die Rezipienten je nach Historiker, Gesellschaft und Epoche variierten. Die moralischen Vorstellungen in der Polisgesellschaft des 5. und 4. Jh. sind nicht dieselben wie in den hellenistischen Flächenstaaten; ebenso ist zu beachten, daß die Pathologie des Krieges bei Thukydides (3,82 f.) den Bürgerkrieg innerhalb der Polis beschreibt und die daraus gezogenen Lehren nicht automatisch auf die Beziehungen zwischen den Poleis übertragbar sind. Das von Herodot intendierte Publikum ist nicht dasselbe wie die von Thukydides und Polybios angesprochenen Mitglieder der politisch-militärischen Elite oder die Leser von Diodors Geschichstwerk, die auch Unterhaltung suchen. Ob ‚moralisierende‘ Deutungsmuster wie etwa das seit Thukydides wichtige Thema des Leidens tatsächlich der moralischen Unterweisung der Leser dienen und nicht, besonders im Hellenismus, vornehmlich eine literarische Funktion besitzen (die Größe der erzählten Ereignisse zeigt sich gerade im Leiden), sollte bedacht werden. Vor allem aber ist die Vermittlung von Nutzen oft praktischer und nicht moralisch-ethischer Natur. Wie Polybios’ Erklärung 9,12 zu militärischen Erfolgen bzw. Mißerfolgen zeigt, sind nicht moralische Qualitäten, sondern intellektuelle Fähigkeiten der Feldherren ausschlaggebend. Bei vielen komplexen Einzelfragen, die das Buch behandelt, wird einschlägige (meist nicht-englischsprachige) Sekundärliteratur nicht berücksichtigt. Daher fehlen der Diskussion wichtige Elemente, so daß die Argumentation manchmal etwas oberflächlich erscheint: So ist etwa nicht nur in Bezug auf die Motivation bei Herodot, wie oben gezeigt, sondern auch bezüglich von Thukydides’ Methodenkapiteln die Diskussion weiter gediehen, als Hau (S. 195 f.) angibt.5

Insgesamt gibt Haus umfassende Arbeit interessante Anregungen und Denkanstöße. Doch vermag die einseitige Fixierung, überall “moral didacticism“ erkennen zu wollen, nicht vollends zu überzeugen.

Notes

1. Erstaunlich ist, daß Hau das grundlegende Werk von K.J. Dover, Greek Popular Morality in the Time of Plato and Aristotle, 2. Aufl., Indianapolis / Cambridge 1994 nicht berücksichtigt.

2. So etwa P. Pédech, La méthode historique de Polybe, Paris 1964 und K. Sacks, Polybios on the Writing of History, Berkeley / Los Angeles / London 1981.

3. Dazu C. Darbo-Peschanski, Le discours du particulier. Essai sur l’enquête hérdotéenne, Paris 1987. Zum Versuch, die verschiedenen Ebenen der Motivation miteinander in Einklang zu bringen, vgl. C. Scardino, Gestaltung und Funktion der Reden bei Herodot und Thukydides, Berlin / New York 2007, 90-99 mit weiterer Literatur. Hinsichtlich der von Hau betonten “reciprocity“ (S. 190) ist J. de Romilly, „La vengeance comme explication historique dans l’oeuvre d’Hérodote“, REG 84 (1971) 314-337 grundlegend.

4. So S. 5, Anm. 13 lies ‘Nünlist‘ statt ‘Nunlist‘ und S. 254 ‘assembly‘ statt ‘asssembly‘. Ebenso bei den Akzenten etwa S. 65 lies ‘ἀνδρεία‘ statt ‘ἀνδρεῖα‘; S. 68 ‘ἀσέβεια‘ statt ‘ἀσεβεῖα‘; S. 96 und 286 ‘εὐσέβεια‘ statt ‘εὐσεβεῖα‘; S. 107, ‘εὔνοια‘ statt ‘εὐνοῖα‘; S. 112, ‘ἀρεταί‘ statt ‘ἀρεταῖ‘; S. 152 ‘ἀδυνατούσης, Οὕτως, ἅπαν, τὴν‘ statt ‘ἀδυνατοῦσης, Ούτως, ἄπαν, την‘; S. 154 ‘ὑπερβολήν,‘ statt ‘ὑπερβολὴν,‘; S. 251 und 263 ‘οὔτε‘ statt ‘οὐτε‘.

5. So z.B. F. Egermann, „Thukydides über die Art seiner Reden und über seine Darstellung der Kriegsgeschehnisse“, Historia 21 (1972), 575-602 und H. Erbse, Thukydides-Interpretationen, Berlin / New York 1989; zu den Emotionen P. Huart, Le vocabulaire de l’analyse psychologique dans l’oeuvre de Thucydide, Paris 1968.