Gegenstand der 2002 an der Paris-Lodron-Universität Salzburg vorgelegten Habilitationsschrift sind die gesiegelten mykenischen Tonplomben, die im Hinblick auf die versiegelten Gegenstände, auf die Art und den Verwendungszusammenhang der Versiegelung sowie auf diejenigen, die die Siegel führten, untersucht werden, um die Bedeutung des Siegelns für das Verwaltungssystem innerhalb der mykenischen Palastkultur darzulegen und darüber hinaus Einblick in organisatorische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse und Zusammenhänge zu gewinnen.
Nach einleitenden Bemerkungen zum Gegenstand der Untersuchungen, zur Forschungsgeschichte, zu den angestrebten Zielen, zum methodischen Vorgehen und zu der mit letzterem verbundenen Gliederung des Werkes wendet sich der Verfasser in einem mit „Rahmenbedingungen“ überschriebenen ersten Teil den historischen Voraussetzungen der mykenischen Siegelpraxis zu. Er unternimmt dabei zunächst den Versuch, eine Vorstellung von Wirtschaft und Verwaltung in der mykenischen Palastkultur zu vermitteln. Erkennbar wird, wie lückenhaft die Kenntnisse von mykenischer Gesellschaft und Wirtschaft sind und wie bedenklich es bei der gegebenen Quellenlage ist, für die Erschließung der mykenischen sozialen und ökonomischen Verhältnisse theoretische Ansätze, Modelle oder Konzepte sowie Vergleiche mit Erscheinungen in anderen Zeiten, Kulturen und Gesellschaften heranzuziehen.
Die bisherigen, teils recht spekulativen Bemühungen aufgreifend und kritisch betrachtend entwickelt der Verfasser ein Schema von vier als grundlegend angesehenen Bereichen der wirtschaftlichen Tätigkeit in der mykenischen Palastzeit—Produktion, Kapitalanhäufung, Tausch und Ausgaben—und knüpft daran die Frage nach der Bedeutung der gesiegelten Tonplomben im Rahmen der mykenischen Palastwirtschaft; er stellt—folgenden Erörterungen vorgreifend—fest, dass man sie sowohl zur Sicherung als auch zur Kennzeichnung von Waren bei verschiedenen administrativen Vorgängen verwendet habe, dass sie Auskunft über die ökonomischen Interessen der herrschenden Elite gäben und dass die Ikonographie der Siegelabdrücke Werte in einer symbolischen Sprache ausdrückten.
Als weitere Voraussetzung für die Bearbeitung der mykenischen gesiegelten Tonplomben wird der Frage nach der Herkunft und der Entstehung der mykenischen Siegelpraxis nachgegangen. Dabei wird der Blick auf das minoische neupalastzeitliche Siegelsystem gerichtet und an Hand vorliegender Forschungsergebnisse ein Überblick über Fundorte und -zusammenhänge gegeben; zudem werden Überlegungen zu den Typen der minoischen gesiegelten Tonplomben und deren Verwendung angestellt. Die Aufbewahrungsorte für Siegelabdruckträger werden als Zentren von Verwaltungstätigkeiten identifiziert, und es wird konstatiert, dass die Mehrzahl der Plomben unterschiedlichen administrativen Zwecken, nur die wenigsten der Sicherung von Waren dienten, dass der Gebrauch von Plomben bei regionalen wie überregionalen administrativen Vorgängen beobachtet werden kann, wobei Knossos eine zentrale Rolle gespielt zu haben scheint, und dass trotz Funden von Plomben außerhalb von Palästen bzw. Verwaltungszentren das Siegeln in nichthöfischen Gesellschaftsschichten nicht anzunehmen sei.
Wiederum vorgreifend folgert der Verfasser, dass die mykenische Siegelpraxis wesentlich auf dem minoischen neupalastzeitlichen Siegelsystem fußte, dass es Gemeinsamkeiten, aber auch nicht unerhebliche Unterschiede gegeben habe, etwa eine Veränderung und Reduzierung bei den Versiegelungsarten.
Der folgende umfangreiche zweite Teil des Werkes—den Titel „Realien“ tragend und sich auf grundlegende und mustergültige Veröffentlichungen vor allem von I. Pini und W. Müller stützend—ist in vier Abschnitte gegliedert. Der erste ist einer sorgfältigen Dokumentation der auf die mykenischen gesiegelten Tonplomben bezogenen Befunde und Fundzusammenhänge auf dem griechischen Festland (Pylos, Theben, Mykene, Midea, Tiryns Menelaion) und auf Kreta (Knossos, Mallia, Chania, Kommos) gewidmet. Die sehr ausführlichen Angaben werden von detaillierten Plänen begleitet.
Im zweiten Abschnitt werden die sieben Haupttypen der 1053 erhaltenen mykenischen gesiegelten Tonplomben (kanonische und nichtkanonische Schnurplomben, Stopper, Objektplomben, Objektschnurplomben, Noduli, „Tonstempel“, Päckchenplomben) behandelt, und anschließend wird auf deren administrative Verwendung eingegangen, mit dem Ergebnis, dass die kanonischen Schnurplomben, die zudem beschriftet und in der Regel intakt erhalten waren, d. h. anscheinend bewusst verwahrt wurden, zur Kennzeichnung, die absichtlich erbrochenen nichtkanonischen Schnurplomben, die Objekt- und Objektschnurplomben, die Päckchenplomben und die Stopper zur Sicherung verwendet wurden.
Im dritten Abschnitt werden die Siegelabdrücke auf den Plomben besprochen, wobei es dem Verfasser vor allem um „die unterrichtende/informierende Aussage der Identität [des Siegelnden] sowie die ideelle/beeinflussende Wirkungsabsicht des Bildes“ geht. Als Voraussetzung für die Deutung der Bilder der Siegelabdrücke auf den Tonplomben stellt er vorab fest, dass aus der Ikonographie der mykenischen Glyptik keine tragfähigen Hinweise zur Person des Siegelbenutzers zu gewinnen seien, dass aber die Auswahl der Bildthemen, sowie Stil und Ausführung der Siegel Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Stellung der Siegelinhaber erlauben könnten.
Die folgende ikonographische und ikonologische Auswertung der Siegelabdruckbilder auf den mykenischen Tonplomben wird von auf statistischen Überlegungen beruhenden Bemerkungen zum Siegelverhalten der Siegelinhaber eingeleitet, die aber wegen der eingeschränkten Überlieferung der entsprechenden Zeugnisse kaum Aussagekraft besitzen.
Was die Bilderwelt der Siegelabdrücke bzw. Siegel angeht, kann der Verfasser feststellen, dass die Siegelschneider offenbar über ein einheitliches Bildrepertoire verfügten. Darüber hinaus hält er einerseits fest, dass man im Hinblick auf die Bedeutung der anscheinend regelhaften Thematik und Motivik kaum über bloße Vermutungen hinauskommen könne, glaubt andererseits aber, auf ein bestimmtes, von Vorstellungen der palatialen Oberschicht geprägtes Weltbild, auf die Intentionen der Auftraggeber der Siegelbilder und auf die soziale Struktur der mykenischen Gesellschaft schließen zu können.
Was die Frage der Datierung der Siegel, die für die in die späte Phase der mykenischen Palastkultur (Späthelladisch III B Entwickelt bis Späthelladisch III C Früh) datierten Siegelabdrücke verwendet wurden, betrifft, ist der Verfasser mit Recht der schon aus historischen Gründen nicht überzeugenden These entgegengetreten, dass die Abdrücke ausschließlich von erheblich älteren Siegeln stammen und dass mit Siegeln, die etwa der gleichen Zeit wie die Siegelabdrücke angehören, nicht gesiegelt worden sei, sie vielmehr als Amulette, Schmuckstücke oder Votive anzusehen seien. Dabei wurde zu wenig berücksichtigt, dass diese angeblich älteren Siegel keineswegs durchweg sicher datiert sind bzw. die angeführten Kriterien für die Datierung nicht unbedingt immer ausreichend erscheinen, dass es Hinweise auf eine sphragistische Verwendung von Siegeln der fortgeschrittenen Spätbronzezeit gibt und dass der Mangel an Abdrücken von Siegeln der Phasen Späthelladisch III B Entwickelt bis Späthelladisch III C Früh auch darauf zurückgeführt werden kann, dass diese—etwa als einst nicht verwahrungswürdig oder bei der Entsiegelung zerstört oder dem Zufall der Überlieferung geschuldet—nicht erhalten geblieben sind. Darüber hinaus ist, wie auch vom Verfasser angedeutet, zu erwägen, ob die im Hinblick auf Material, Form, technische Ausführung, Stil und Ikonographie stark voneinander abweichenden Siegelgruppen nicht mit gesellschaftbezogenen Phänomenen in Verbindung zu bringen sind, im Sinne einer gruppen- oder schichtenspezifischen Kommunikation (vgl. dazu ähnliche Erscheinungen in der minoischen neupalastzeitlichen Glyptik). Es wäre für den Gegenstand der vorliegenden Untersuchungen, die mykenische Siegelpraxis gewiss förderlich gewesen, wenn die Frage der Datierung und der Verwendung qualitativ unterschiedlicher Siegel der mykenischen Palastzeit etwas intensiver erörtert worden wäre.
Im letzten Abschnitt des zweiten Teiles wird auf die Beschriftung von 113 der 1053 gesiegelten Tonplomben—nur Schnurplomben zur Kennzeichnung—eingegangen. Nach einer knappen Charakterisierung der Funde und Fundzusammenhänge werden die kurzen Beschriftungen ausführlich auf ihren Inhalt hin—häufig mit Blick auf Angaben auf Tontafeln—besprochen, wobei erkennbar wird, dass in vielen Fällen die Interpretation der Lesung und darüber hinaus auch die Zuschreibung an bestimmte Schreiber unsicher ist.
Der dritte Teil des Werkes—mit „Zusammenhänge“ überschrieben—ist der Auswertung und Verknüpfung der zuvor dargelegten archäologischen Fakten gewidmet, wobei das Augenmerk auf die Rolle der Tonplomben im Hinblick auf ihre Bedeutung im Rahmen administrativer Vorgänge gerichtet wird. Für Pylos unterscheidet der Verfasser auf Grund der Art der den Siegelabdrücken zugrundeliegenden Siegel zwei Gruppen von Siegel führenden Personen, die mit unterschiedlichen Verwaltungsaufgaben befasst waren: Angehörige einerseits einer palatialen, andererseits einer provinziellen, gleichwohl dem Palast verbundenen Beamtenschaft, erstere innerhalb des Palastes tätig, letztere zuständig für Lieferungen aus der Region an den Palast.
Im Fall von Mykene werden mehrere Formen administrativer Tätigkeit erkannt: Plomben, die gelagerte Produkte kennzeichnen, und Plomben, die sich sowohl auf Lieferungen an das Palastzentrum beziehen, wobei es Hinweise auf einen überregionalen Güterverkehr gibt, als auch auf Lieferungen vom Verwaltungszentrum an andere Orte.
Den Komplex von größtenteils beschrifteten Tonplomben aus Gebäude III am Osthang des Kadmeion-Hügels von Theben sieht der Verfasser im Zusammenhang mit Lieferungen von Tieren an das Verwaltungszentrum bzw.—weitergefasst—mit Vorgängen, „die in Verbindung mit der Verwaltung der Viehbestände des thebanischen Palastzentrums standen“, und er schließt aus der verhältnismäßig großen Zahl von Plomben mit Beschriftung auf eine schriftkundige provinzielle Beamtenschaft, die auch ein Zeichen dafür sei, dass „der thebanische Palast eine intensive administrative Kontrolle über das abhängige Territorium ausübte“.
Was die Siegelpraxis von Knossos angeht, wird trotz wohl lokal bedingten Abweichungen eine weitgehende Übereinstimmung mit der auf dem Festland geübten festgestellt sowie—für die Spätzeit des Palastes von Knossos von nicht zu unterschätzender Bedeutung—auf ein gleiches administratives System geschlossen und vermutet, dass die kretischen und festländischen Plomben der gleichen Zeit angehören.
Mit einem zusammenfassenden Überblick zur Verwendung der Tonplomben und der Siegel als ausschließlich amtlich angesehene Mittel der mykenischen palatialen Verwaltung und einer Zusammenfassung der im Hinblick auf die Bedeutung des Siegelns in der mykenischen Palastkultur erzielten Ergebnisse wird der dritte Teil des Werkes abgeschlossen.
Beigefügt sind Anhänge, in denen die mykenischen gesiegelten Tonplomben nach Fundorten und -stellen aufgelistet sind und die Konkordanzen zu den Plomben nach der jeweils maßgeblichen Veröffentlichung und nach Inventarnummern bieten, sowie ein Verzeichnis der verwendeten Literatur und ein Abbildungsnachweis.
Nebenbei sei bemerkt, dass dem Text eine etwas straffere Form gut getan hätte und damit manche teilweise wörtliche Wiederholung sowie die eine oder andere missverständliche oder widersprüchliche Aussage hätten vermieden werden können; vgl. in diesem Zusammenhang auch die fehlerhafte Formulierung „. . . aus dem griechischen Festland . . .“ auf der Titelseite statt der richtigen auf dem Einband.
Trotz der recht schmalen Materialbasis, die darauf zurückzuführen ist, dass nur ein verschwindend geringer Teil des seinerzeit Vorhandenen erhalten geblieben sein dürfte, und die die immer wieder, allerdings durchaus mit Vorsicht angestellten statistischen Berechnungen kaum als sinnvoll erscheinen lässt, hat die über die vorbildliche Vorlage der meisten bisherigen Funde mykenischer gesiegelter Tonplomben im Corpus der minoischen und mykenischen Siegel (z. B. in den Bänden II 6, II 8 und V) und in begleitenden Publikationen (z. B. W. Müller—J.-P. Olivier—I. Pini, „Die Tonplomben aus Mykene“, Archaeologischer Anzeiger 1998, 5-55; I. Pini [Hrsg.], Die Tonplomben aus dem Nestorpalast von Pylos [1997]) weit hinausgehende, alle wichtigen Gesichtspunkte berücksichtigende und vorsichtig abwägende Auswertung eine bemerkenswerte Fülle von wesentlichen Erkenntnissen zur Verbindung von wirtschaftlichen Interessen und bürokratischer bzw. politischer Macht in den mykenischen Palastzentren erbracht, auch wenn die eine oder andere Schlussfolgerung etwas weitreichend bzw. sich lediglich im Rahmen des Wahrscheinlichen bewegend erscheinen mag und gelegentlich der Eindruck entsteht, dass das Anstreben einer ausgewogenen Berichterstattung und Kritik bisheriger Forschungsmeinungen ein mitunter durchaus angebrachtes entschiedeneres Urteil beeinträchtigt hat.