Dieses vom britischen Althistoriker P.J. Rhodes verfaßte Büchlein stellt eine attraktiv und verständlich geschriebene Einführung dar, die besonders für Studierende und interessierte Laien geeignet ist. Ein Verzeichnis der Abkürzungen, eine Liste mit wichtigen Jahreszahlen und eine Landkarte am Anfang sind wertvolle Orientierungshilfen. Daß Rhodes jedoch viele in der Forschung seit langem kontrovers diskutierte Fragen nicht problematisiert, sondern meistens nur seine eigene Deutung gibt, mindert den Wert dieser Einführung. Trotz der Kürze der Schrift und des berechtigten Anspruchs, lesbar und allgemeinverständlich zu bleiben, hätte Rhodes seine Darstellung angesichts der Komplexität des porträtierten Autors mehr problematisieren und wenigstens in Anmerkungen andere Deutungsansätze diskutieren sollen.
Im ersten kurzen Kapitel “The World of Thucydides“ (S. 1-10) werden einerseits Autor und Werk im historischen, politischen und kulturellen Kontext des 5. Jh. verortet, andererseits Griechenland, der Schauplatz der Geschichte, und die wichtigsten darin handelnden politischen Akteure wie der von Sparta angeführte Peloponnesische Bund und der Attische Seebund vorgestellt. Ebenso werden kurz Thukydides’ Vorgänger Hekataios von Milet und Herodot von Halikarnass erwähnt. Dieses Kapitel ist besonders für Leser ohne weitreichende Vorkenntnisse nützlich.
Das zweite Kapitel “Thucydides the Historian“ (S. 11-49) beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung der von Thukydides behandelten Ereignisgeschichte. Bezüglich der Genese des Werks verzichtet Rhodes aber darauf, die alte von Ullrich1 aufgeworfene Streitfrage zwischen Analytikern und Unitariern zu besprechen. Vielmehr begnügt er sich mit dem Hinweis auf einen möglichen Widerspruch zwischen 2,65,11, wo Thukydides “blames Athens’ failure in Sicily in 415-413 on political weakness at home“, und der Erzählung in den Büchern 6 und 7, in denen sich zeige, daß “the campaign could not have brought long-term success and failed in the short term because of misjudgments in Sicily“ (S. 14), ohne hinzuzufügen, daß dieser vermeintliche Widerspruch von einem gewichtigen Anteil der modernen Interpreten nicht geteilt wird.2 Für Rhodes ist des weiteren das zweite Proömium 5,25f. ein Hinweis dafür, daß Thukydides ursprünglich anläßlich des Nikias- Friedens 421 v.Chr. geglaubt habe, der Krieg sei zu Ende. Es bleibt aber unklar, ob nach Rhodes’ Meinung Thukydides zu diesem Zeitpunkt bereits einen Teil des Werks niedergeschrieben hatte.
Bei der Behandlung der Reden und der Frage nach ihrer Authentizität fragt sich Rhodes, ob im Redensatz 1,22,1 “does xympasa gnome mean simply the overall sense (for instance, in I. 79-87, in Sparta in 432, that Archidamus did not want an immediate war against Athens but Sthenelaïdas did), or is Thucydides claiming more than that?“ (S. 19) und kommt zum Schluß, daß “the minimal interpretation of xympasa gnome represents a degree of authenticity so slight that it would not have been worth claiming, and I believe that, written up in his own way, the speeches contain arguments which actually were used or which he sincerely (though perhaps on occasions mistakenly) believed might have been used“ (S. 21). Die Tatsache, daß in den zeitgenössischen Tragödien ähnliche Argumente wie in den Thukydideischen Reden vorkommen, spricht gemäß Rhodes für “a degree of authenticity“ (S. 21). Dabei hätte sich Rhodes auf die neuere Forschungsliteratur beziehen können, die nicht mehr davon ausgeht, daß Thukydides nur wegen der technischen Unmöglichkeit, den genauen Wortlaut von tatsächlich gehaltenen Reden aufzuzeichnen, fingierte Reden verwendet habe. Vielmehr habe er absichtlich solche verfaßt und ihnen eine besondere exegetische Funktion im Werk zugewiesen, die in der modernen Geschichtsschreibung der Historiker selbst erfüllt.3
Des weiteren behandelt Rhodes die in der Forschung umstrittene Frage nach den Auswahlkriterien des Stoffs bei Thukydides, wobei sein rezeptionsästhetischer Erklärungsansatz gewiß gewinnbringend ist. Insgesamt kann man Rhodes folgen, daß Thukydides “tried hard to establish the facts correctly; and he clearly set about it intelligently, though he was not infallible“(S. 49). Bei der Diskussion der Kriegsschuldfrage (S. 27) meint Rhodes aber, daß Thukydides die Affären um Kerkyra und Poteidaia gegenüber Aigina und dem Megarischen Psephisma hervorgehoben habe, weil er als Athener meinte, Athen sei in diesen Fällen im Recht, während er sich bei den beiden anderen Affären nicht im Klaren gewesen sei und diese deshalb weniger ausführlich behandelt habe. Dies impliziert aber, daß Thukydides’ Urteilsfähigkeit beschränkt und von Patriotismus getrübt gewesen sei. Daß Thukydides von den beiden Debatten um Kerkyra nur eine reproduziere, “because he does not want to emphasise the change in policy“, oder weil “he does not want to interrupt his narrative“ (S. 28), berücksichtigt nicht, daß Thukydides’ Rekonstruktion der Kriegsschuldfrage mehrschichtig und von der Idee, daß Spartas Furcht vor der andauernden Machtzunahme Athens letztlich ausschlaggebend gewesen sei (1,23,6), geprägt ist, was Rhodes erst im folgenden Abschnitt (S. 34f.) kurz erwähnt.4 Daß das Politisch-Militärische im Mittelpunkt von Thukydides’ Geschichtswerk steht, während etwa wirtschafts- und sozialgeschichtliche Themen, die Religion oder das Funktionieren der Demokratie im Hintergrund bleiben, ist dem Gegenstand des Geschichtswerks angemessen und sollte kein Erstaunen hervorrufen.
Schön ist die Darstellung von Thukydides’ “Modes of Narrative“ (S. 36-49) an Hand von Beispielen aus verschiedenen Büchern, die zeigen, wie die Erzählung durch rhetorische Mittel wie Gebrauch des Superlativs, rhetorische Frage oder Beinahe-Situationen die Ebene des Exemplarischen erreicht.
Im dritten Kapitel “Thucydides the Thinker“ (S. 51-70) versucht Rhodes Thukydides’ politische Gesinnung zu rekonstruieren. Er meint, daß die positive Wertung des Nikias 7,86 ein Hinweis dafür sei, daß Thukydides Sympathien für die Oligarchie hegte (S. 54). Bezüglich des vor allem in den Reden diskutierten Verhältnisses zur athenischen ἀρχή meint er, daß letztlich “Thucydides … was torn between pride in the unprecedented achievement of Athens in his time and the feeling that it had been gained by conduct not at all worthy of praise, and that he returned to the subject in his history so often precisely because he could not resolve the dilemma for himself“ (S. 59). In Bezug auf Thukydides’ Verhältnis zur Religion sind Rhodes’ Ausführungen ziemlich plausibel: Anstatt Phänomene wie Erdbeben oder Mondfinsternisse als göttlich verursachte Ereignisse zu deuten, spielen bei ihm naturwissenschaftliche Erklärungen eine wichtige Rolle. Als Beispiel für den sophistischen Einfluß wird einzig der das ganze Werk prägende Gegensatz von λόγος und ἔργον hervorgehoben.
Das vierte Kapitel “After Thucydides“ (S. 71-85) gibt einen ausführlichen Überblick über die Rezeption des Thukydides vom 4. Jh. bis in die Gegenwart, der im Rahmen einer knappen Einführung fast zu lang ist. Die Darstellung läuft Gefahr, mehr die Entwicklung der Gattung Geschichtsschreibung nachzuzeichnen als die Auseinandersetzung der späteren Historiker mit Thukydides zu untersuchen: ob Polybios (S. 73f.) das Thukydideische Werk überhaupt kannte, ist in der Forschung umstritten, wird aber von Rhodes vorausgesetzt, weshalb er sich wundert, daß Polybios im 12. Buch bei der Kritik von Timaios‘ Rede des Hermokrates nicht die Version des Thukydides heranzieht.4 In Bezug auf die modernen Gelehrten ist schließlich die Tatsache, daß nicht-englischsprachige Forscher außer Acht gelassen werden, ein Manko.
Daran angehängt sind eine kurze Liste mit Hinweisen auf weiterführende Sekundärliteratur (S. 87-90) und ein allgemeiner Index (S. 91f.)
Insgesamt handelt es sich trotz der geäußerten Kritikpunkte, die vor allem mit der Art des Buchs zusammenhängen, um eine pointierte, über weite Strecken originelle und allgemeinverständliche Einführung, die gewiß das Lesepublikum zu einer vertieften Beschäftigung mit Thukydides verlocken kann.
Notes
1. F.W. Ullrich, Die Entstehung des Thukydideischen Geschichtswerkes, herausgegeben und eingeleitet von H. Herter, Darmstadt 1968.
2. Nuancierter etwa B. Bleckmann, Athens Weg in die Niederlage. Die letzten Jahre des Peloponnesischen Krieges, Stuttgart; Leipzig 1998, der S. 329 betont, daß nach Thukydides’ Bericht „gerade am Anfang der Expedition reale Chancen auf einen Sieg bestanden. Der Widerstand von Syrakus wäre vergeblich geblieben, wenn nicht die Fehler der athenischen Kriegführung und der Einsatz des in letzter Minute vor dem Abschluß der Ummauerung eintreffenden Gylippos Syrakus gerettet hätten.“
3. Vergleiche dazu etwa C. Scardino, Gestaltung und Funktion der Reden bei Herodot und Thukydides, Berlin; New York 2007.
4. Dazu immer noch grundlegend K. Ziegler, Thukydides und Polybios, Wissenschaftliche Zeitschrift der E.M. Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Nr. 2/3, Jahrgang V (1955/1956), 161-170.