BMCR 2016.07.04

The Quest for the Good Life. Ancient Philosophers on Happiness

, , , , The Quest for the Good Life. Ancient Philosophers on Happiness. Oxford; New York: Oxford University Press, 2015. ix, 307. ISBN 9780198746980. $74.00.

Preview

Das vorliegende Buch entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts des Centre for Advanced Study in Oslo und umfasst 14 Beiträge zur Ziel- und Glücksthematik in der Antiken Philosophie. Einen gewissen Brennpunkt der Betrachtung bildet Aristoteles; 4 Artikel des Bandes beschäftigen sich (unter verschiedenen Aspekten) mit seinem Verständnis von eudaimonia. Platon ist mit zwei, die Vorsokratik, Epikur, Stoa, Skepsis, Plotin, Aspasius und Porphyrius sowie Augustinus sind mit jeweils einem Beitrag vertreten. Überraschenderweise fehlt Cicero mit seinem thematisch einschlägigen und einigermaßen bedeutsamen Werk De finibus bonorum et malorum; er findet nur im Aufsatz zu Augustinus seine ihm gebührende Berücksichtigung. Sämtliche Beiträge weisen ein hohes philosophisch-philologisches Niveau auf; alle dokumentieren gedankliche Präzision und eine solide Kenntnis des Standes der Forschung. Sie bieten insgesamt einen willkommenen Ein- und Überblick, eröffnen zum Teil neue Perspektiven bzw. setzen neue Akzente, ohne allerdings die bereits bestehende Forschungslage in jeweils zentralen Punkten entscheidend zu überbieten. Eine gewisse Ausnahme stellen in dieser Hinsicht zwei Beitrage des Bandes dar: Eyjólfur K. Emilsson scheint mir mit seinem Aufsatz „On Happiness and Time“ einen philosophisch wesentlichen und bislang kaum hinreichend thematisierten Punkt der Differenz von aristotelischem und hellenistischem, insbesondere stoischem und epikureischem Glücksverständnis zur Sprache zu bringen. Und Christian Tornau korrigiert mit seinem Artikel „Happiness in this Life?“, was Augustinus’ Sicht und Wertung dieses Erdenlebens betrifft, ein häufig in arg düsteren Farben gemaltes Forschungsbild. Im Ganzen ist der Band eine durchaus erfreuliche Publikation zum Thema Ancient Philosophers on Happiness.

Svavar Hrafn Svavarsson zeigt in Kapitel 1 („On Happiness and Godlikeness before Socrates“) in großen Zügen, dass eudaimonia (sc. das großartige, bewunderns- und lobenswerte menschliche Leben) von den Homerischen Anfängen bis zur philosophischen Klassik und darüber hinaus als etwas Göttliches oder Gottähnliches verstanden wurde, doch schrittweise eine zweifache Interpretationsveränderung in Richtung einer Internalisierung und Intellektualisierung erfuhr.

Julia Annas wendet sich in Kapitel 2 („Plato’s Defence of Justice. The Wrong Kind of Reason?“) gegen ein verbreitetes Missverständnis, dass Platons eudaimonistische Begründung der Gerechtigkeit der Fall einer egoistischen Ethik sei. Was sie überzeugend aufweist, ist Platons Argumentationsziel, dass wir Gerechtigkeit um ihrer selbst willen schätzen sollen, weil sie (unter allen, auch den schrecklichsten Umständen) konstitutiv für ein glückliches Leben ist. Worauf sie leider nicht eingeht, wäre die Frage, warum Platon für den Gerechten und im Diesseits ob seiner Gerechtigkeit Leidenden dann noch eine Jenseitsperspektive mit den mythischen Vorstellungen von Totengericht und Insel der Seeligen benötigt. Panos Dimas begründet in Kap. 3 („Wanting to Do What Is Just in the Gorgias “) seine (nicht so ganz neue) These, dass die Figur des Kallikles keinen Hedonismus im Sinne egozentrischer Vergnügensmaximierung, sondern so etwas wie eine desire- satisfaction type theory (vgl. S. 83) vertritt, der es um die ‚tyrannische’ Persönlichkeit zu tun ist, die große Ziele erstrebt, sie mit Intelligenz und Mut verfolgt und die Macht und Mittel findet, sie zu verwirklichen. Sokrates’ Argumente gegen diese Theorie im Gorgias sind anerkanntermaßen skizzenhaft und schwach; sie verlangen für Dimas nach einer kohärenten Theorie der Gerechtigkeit und einer sie fundierenden Psychologie des Menschen, die Platon dann in der Politeia biete.

Die Kapitel 4 bis 7 sind Aristoteles gewidmet. Øyvind Rabbås sieht in Kap. 4 („Eudaimonia, Human Nature, and Normativity. Reflections on Aristotle’s Project in Nicomachean Ethics Book I“) in Aristoteles’ Ethik eine Verbindung von Naturalismus und Rationalismus, die auf einem teleologischen Verständnis der menschlichen Natur basiert und im sog. Ergon -Argument ihren argumentative Spitze erreicht. Es überrascht nicht, wenn Rabbås in Aristoteles’ Projekt weder einen ‚naturalistischen Fehlschluss’ noch eine ‚metaphysisch dubiose Biologie’ entdecken kann (vgl. S. 105).

Hallvard Fossheim geht in Kap. 5 („Aristotle on Happiness and Old Age“) der Frage nach, welche Rolle in Aristoteles’ Glücksvorstellung ein hohes Alter spielt: Für Aristoteles gliedere sich menschliches Leben in zeitliche Stufen mit charakteristischen Stärken, Schwächen und passenden Aktivitäten. Die Stufen seien geprägt teils von naturalen Prozessen, teils von den Aktivitäten und Erfahrungen im Rahmen der naturalen Prozesse. Wie es einem in späteren Lebensphasen geht und was man in ihnen tut, hänge zum Teil davon ab, was man in vorausgehenden getan und erfahren hat (vgl. S. 122). Hohes Alter bedeute große Lebenserfahrung, die Chance zur Weisheit und die Möglichkeit „zu ernten, was man gesät hat“, aber auch ein Erkalten und Schwinden der Lebenskraft. Es bringe eine Lösung von sinnlichen Begierden, aber auch eine Schwächung von Mut und Tatkraft, schränke den Spielraum von Aktivitäten und das Interesse an Freundschaft ein und stelle so gesehen eine erhebliche Herausforderung für Tugend und Glück dar.

Gabriel Richardson Lear beschäftigt sich in Kap. 6 („Aristotle on Happiness and Long Life“) mit der Frage, was Aristoteles meint, wenn er vom teleios bios spricht (etwa NE 1098a16-20; 1101a14-16) und das vollkommene Glück von einer vollendeten Länge des Lebens ( mēkos biou teleion) abhängig macht (NE 1177b24-26; vgl. EE 1219a35-b8). Damit ist nicht, das klärt der Beitrag von Lear überzeugend, der gesamte biologische Lebenszyklus eines Menschen gemeint. Vielmehr besagt es dies: Menschliches Glück realisiert sich in einer Kontinuität tugendhaften (theoretischen oder praktischen, um sich selbst wissenden) Tätigseins, das auf einer festen Disposition beruht, die ihrerseits zu ihrer Entwicklung und Festigung hinreichend Zeit erfordert.

Gösta Grönroos geht in Kapitel 7 („Why is Aristotle’s Vicious Person Miserable?“) der Frage nach, auf welcher Art von seelischem Konflikt nach Aristoteles das Unglück der sittlich Schlechten beruht. Aristoteles spricht davon, dass sie das eine begehren ( heterōn men epithymousin), das andere aber wollen ( alla de boulontai), dass sie seelisch zerrissen sind ( stasiazei gar autōn hē psychē), sich selbst nicht mögen, das Leben fliehen, bis dahin, dass sie sich selbst töten (vgl. NE 1166b7-24). Grönroos sieht, korrekt, wie ich meine, die Differenz zum Unbeherrschten (der um das Gute weiß, aber dem augenblicklich Angenehmen erliegt) darin, dass der Schlechte (wie jeder Mensch) das für ihn objektiv Gute will, das seinem Leben Erfüllung böte, auch einen unartikulierten Sinn für Tugend und das Gute besitzt, doch in Unkenntnis und Selbsttäuschung verharrt darüber, was er da will, stattdessen das Gute im Vergnügen sucht, und an ihm festhält, obgleich er mit ihm enttäuschende Erfahrung macht.

Panos Dimas befasst sich in Kap. 8 („Epicurus on Pleasure, Desire and Friendship“) mit Epikurs Theorie des Glücks. Er sieht in ihm einen “unerschütterlichen Hedonisten der egoistischen Art“ (S. 164), und zwar sowohl im deskriptiv- psychologischen als auch im normativ-ethischen Sinn. Ob dies Epikurs Theorie treffend kennzeichnet, ist fraglich. Gewiss sucht Epikur die Freundschaft im Blick auf den Nutzen und das Vergnügen für sich selbst, doch er weiß genau, dass Freundschaft nur Bestand hat, wenn der Freund den Freund so liebt, wie man sich selbst liebt (vgl. Cicero, De fin. I, 67; Dimas 180 f.), ja auch zu extremem Opfer für den Freund bereit ist. Beachtenswert und treffend scheint mir dagegen Dimas’ Vorschlag, nur im Zustand katastematischer Lust Epikurs höchstes Gut zu sehen, während kinetische Lust immer mit dem Prozess der Behebung eines Bedürfnisses verbunden ist und (als etwas in sich Wertvolles) im Blick auf die Erreichung des Ziels auch einen instrumentellen Aspekt aufweist.

Katerina Ierodiakonou versucht in Kap. 9 („How Feasible is the Stoic Conception of Eudaimonia ?“), das stoische Konzept von Tugend und Glück als höchst anspruchsvoll und stringent, aber als nicht weniger realisierbar als alle anderen Ideale antiker Ethiken aufzuweisen. Hier wäre ein Eingehen auf Ciceros Rezeption und Kritik der stoischen Theorie im Vergleich zu den anderen antiken Theorien durchaus angebracht gewesen. Weisheit und Tugend mag man wie die Stoa im Sinne nichtgraduierbarer Eigenschaften verstehen. Doch dass alle Laster gleich sind, und dass man als Tor, der Fortschritte in Richtung Tugend macht, dadurch nicht weniger lasterhaft wird, bleibt ein Paradoxon der Stoiker, das nicht ohne weiteres mit dem Hinweis auf die rhetorische, protreptische oder pädagogische Bedeutung dieser Aussage aufzulösen ist (vgl. S.190; 196). Und vielleicht hatte Cicero doch recht mit dem Hinweis, die stoische Zielbestimmung (der Ineinssetzung von Tugend und Glück) wäre passend und realisierbar, wenn wir Menschen aus reinem Geist bestünden.

Svavar Hrafn Svavarsson erläutert in Kap.10 („The Pyrrhonian Idea of a Good Life“), wie sich für Pyrrhon und seine späteren Adepten der Zusammenhang von radikaler Skepsis und dem Ziel der Seelenruhe darstellt. Dabei steht natürlich Sextus Empiricus’ komplexer Erklärungsversuch im Zentrum, wie der Skeptiker auf Seelenruhe zielt und sie zufällig auf dem Weg der Enthaltung von allen Geltungsansprüchen findet. Alexandrine Schniewind befasst sich in Kap.11 mit Plotins Weg zur eigenen Definition des Glücks („Plotinus’ Way of Defining ‚ Eudaimonia’ in Ennead I, 4 [46] 1-3“) über die Kritik von Definitionsformeln von Vorgängern., bei der die Kritik an der stoischen Zielbestimmung zentral ist. Sie führt zur eigenen, zur Plotinschen Definition von Glück, das in der höchsten, der ersten, der intensivsten Form von Leben, dem Leben des Geistes bestehen soll.

Eyjólfur K. Emilsson macht in seinem Beitrag in Kap. 12 („On Happiness and Time“) auf einen wesentlichen Unterschied in Aristoteles’ Glückskonzept und dem der die hellenistischen bzw. neuplatonischen Philosophen (Epikurs, der Stoa und Plotins) aufmerksam. Für Aristoteles ist das Leben ebenso wie das gute Leben etwas, was sich in der Zeit entfaltet, was eine temporale Struktur besitzt. Dementsprechend hat für ihn das Leben als zeitliches Ganzes, die Erfolge und Misserfolge seiner Bestrebungen, Absichten und Wünsche, seine gesamte narrative Struktur Bedeutung für seine Bewertung. Für Epikureer, Stoiker und Neuplatoniker dagegen ist ein glückliches Leben vollendet im Jetzt bzw. jenseits aller zeitlichen Extension; das Glück erhöht sich nicht dadurch, dass es länger währt; entscheidend ist allein die aktuelle seelische Disposition, die sich in allen möglichen Situationen bewährt. Dies ist richtig und wichtig. Der Unterschied betrifft das menschliche Selbst- und Weltverhältnis in seinem Kern. Man würde gern mehr darüber lesen.

Miira Tuominen befasst sich in Kap. 13 („Why Do We Need Other People to Be Happy? Happiness and Concern for Others in Aspasius and Porphyry“) mit Aspasius’ Kommentar zur Nikomachischen Ethik und mit Porphyrius’ Traktat De abstinentia. Sie zeigt in überzeugenden Analysen auf, wie Aspasius Aristoteles’ Verständnis der Sozialität des Menschen und seiner Verwiesenheit auf Gemeinschaft und Freundschaft in den Anspruch verwandelt, nicht nur für sich, sondern auch für seine Mitbürger, ja für alle Menschen, denen man begegnet, möglichst viel Gutes zu tun, und darin das Glück des Menschen begründet sieht. Im Unterschied dazu propagiere Porphyrius, wir sollten Sorge tragen und wohltätig sein für alle Lebewesen, um größtmögliche Gottähnlichkeit (und darin unser Glück) zu erreichen. Er wendet sich gegen die stoische Beschränkung des Bereichs der Gerechtigkeit auf die Menschen; er möchte vielmehr alle Sinnenwesen von ihm umfasst und insbesondere ihre Tötung zum Verzehr als Ausdruck speziesistischer Egozentrik und Genusssucht verstanden wissen.

Den Abschluss des Bandes bildet ein ebenso subtiler wie kluger Beitrag von Christian Tornau zur christlichen Rezeption und Transformation paganer antiker Glückstheorie: Kap. 14: „Happiness in this Life? Augustine on the Principle that Virtue is Self-sufficient for Happiness“. Glück erhält in augustinisch-christlicher Perspektive einen pointiert eschatologischen Charakter und wird zum Geschenk göttlicher Gnade, die ihrerseits Voraussetzung der Tugend ist. Und christliche Tugend realisiert sich in diesem Leben in Glaube, Hoffnung, sehnsüchtiger Gottes- und tätiger Nächstenliebe, im Jenseits in erfüllter Gottesliebe. Augustinus bewahre, so Tornau, den Nexus zwischen Tugend und Glück in zweifacher Form: Der Christ ist im Elend und trotz des Elends dieses Lebens in gewisser Weise „der Hoffnung nach glücklich ( spe beatus)“; vgl. Conf. X, 29. Er ist im anderen Leben in seiner erfüllten Gottesliebe vollkommen glücklich. Tornau macht damit dankenswerterweise auf einen in der Augustinus-Forschung wenig beachteten Punkt aufmerksam, den später Thomas von Aquin durch die Rezeption der aristotelischen Ethik im Sinne des „unvollkommenen Glücks“ des Christen in dieser Welt weit ausführlicher und systematischer würdigen wird.