Diese Akten eines Kolloquiums in Lyon von 2013 versammeln neben einer Einleitung von M. Vallozza 23 Beiträge in zwei Abteilungen: ‚I — Discours d’Isocrate. Texte et fonction rhétorique; II — Philosophie politique d’Isocrate. Entre mythe et histoire’. Übergreifend ist jedoch eine weitgehende methodische Gemeinsamkeit: Die meisten Artikel gelangen von Einzelbetrachtungen zu umfassenden Thesen über Isokrates als Gesamtgestalt. Die bunte Widersprüchlichkeit der Resultate, in denen er abwechselnd als grundsätzlicher Verfechter aller drei Verfassungsformen, als einsamer Moralist ebenso wie als Anpasser in jeder Richtung, als reflektierter Formalist und inkonsistenter Stümper vorgeführt wird, scheint nicht zu stören. Sie stehen bezugslos nebeneinander. Trotz vieler Verweise, einer großen Literaturliste und hilfreichen Indices gibt es wenig argumentative Auseinandersetzung.
Die wenigen sachlich ergiebigen Artikel beschränken sich auf ein Einzelthema, so zur Textüberlieferung und – herstellung (St. Martinelli Tempesta), zum Alkibiades-Porträt in der Rede ‚Über das Gespann‘ in seinem Verhältnis zu den historischen Quellen (B. Eck), zum erzieherischen Sinn des ‚Euagoras‘ (E. Alexiou), zur Bedeutung der Gerichtsreden für Rechtsgeschichte und Isokrates-Forschung (A. Maffi), sowie eine anschauliche Problemübersicht zur Geschichte der isokratischen Schule (M. Pinto).
Die Artikel mit größerem Anspruch erscheinen in verschiedener Hinsicht methodisch unzureichend. Eine Bereitschaft, sich auf die geistige Eigenständigkeit des Isokrates einzulassen, die doch zunehmend in den Blick kommt,1 ist kaum vorhanden. So werden schon die für ihn elementaren Begriffe ‚Philosophie‘, ‚Sophistik‘, ‚Eristik‘ nicht in seinem Sinne verstanden, sondern in dem uns geläufigen, der von Platon geprägt ist.2 Dass auch andere wichtige Termini wie φύσις, τύραννος, πλεονεξία von ihm in eigener Weise gefasst sind, steht nicht zur Diskussion. Der für sein rednerisch- erzieherisches Konzept grundlegende Begriff des καιρός3 kommt praktisch überhaupt nicht vor, auch nicht in einem der interessantesten Artikel, der immerhin versucht, eine eigene theoretische Position des Isokrates zu formulieren: J.-P. Levet deutet seine Δόξα-Konzeption als Kern einer ‚Arkan‘-Philosophie, gelangt aber dabei — auf zweifelhafter Textbasis4 — mit einer Bindung des Urteils an eine zeitüberdauernd gültige „opinion droite“ nur zu einem Platonismus zweiter Klasse.5
Wie bei ihm so führt auch bei anderen Autoren, die noch eher verstehend als dekonstruierend verfahren, die Grundannahme, dass er — in je anderer Weise — ein leicht erklärbarer Autor sei, zu inadäquaten Einordnungen. In der Untersuchung von Genre und Funktion der λόγοι bei Isokrates lässt R. Nicolai sowohl dessen spezifisches Konzept der πολιτικοὶ λόγοι6 unbeachtet wie auch die Tatsache, dass er im programmatischen Proömium des ‚Panegyrikos‘ die Bestimmungen, die Platon Tisias und Gorgias zuschreibt, nicht einfach von diesen übernimmt (127), sondern mit Blick auf den von ihm eigens verstandenen werkprägenden καιρός entscheidend relativiert (§ 8/9). — H. Olivier scheint mit ihrer Zeichnung des Isokrates als eines demokratisch engagierten Intellektuellen im Stile eines Zola oder Sartre eher auf moderne Vorstellungen ausgerichtet. — Ausführlich stellt E. Lévy die Urteile über Sparta zusammen7, ohne tragendes Konzept und mit einem unpassenden Resumée (269), als ob Isokrates „Modell“ und „nachahmende Wirklichkeit“ in platonischer Weise unterschieden habe.
Weniger Verständnisbereitschaft erfahren die staatspolitischen Positionen. P. Demont und A. Bartzoka machen in je verschiedener Weise — der eine unter formalem, die andere unter inhaltlichem Aspekt — den Verfassungsentwurf im ‚Areopagitikos‘ mit seinem demokratischen Element, der Kontrolle der Regierenden durch das Gesamtvolk,8 zu einer Staffage für weitergehende geheimgehaltene Absichten, die Bartzoka mit denen des ‚Alten Oligarchen‘, des Vertreters radikaler Klassenherrschaft, identifiziert.
Mit der zu beliebigen Folgerungen einladenden Voraussetzung, dass er sich tarne, kann er auch als rigoroser Monarchist gesehen werden (N. Birgalias) und sein im ‚Panegyrikos‘ entworfenes Projekt eines Kriegs der geeinten Griechen gegen Persien als Manöver, die Alleinherrschaft sowohl in Griechenland wie in den einzelnen Städten vorzubereiten (218).9 Bedachtsamer, jedoch auch methodisch fragwürdig, lässt C. Bearzot den „antidemokratischen“ Isokrates (172) als Monarchisten erscheinen. Denn sie konfrontiert die Kritik am gegenwärtigen athenischen Gerichtswesen (insbesondere in der ‚Antidosis‘) nicht mit dem als real hingestellten Gegenbild der alten Demokratie, sondern mit den bloßen Forderungen an den Fürsten Nikokles, als ob im „roi juge“ ein generell verbindliches Modell läge (164f.; 173).
Willkür gibt es nicht nur in der Deutung, sondern — gravierender — in der Präsentation von Textstellen und Tatbeständen. V. Azoulay konstruiert eine manipulative „Strategie der Rezeption“, so bei der Wiederverwendung der Rede ‚An Nikokles‘ in der ‚Antidosis‘ (112-4). Das „promonarchische Plädoyer“ werde dabei — adressatengemäß — zum „prodemokratischen Werk“ umgewandelt, zunächst durch Änderung des Titels, denn „die ältesten Handschriften“ hätten bei der Rede ‚An Nikokles‘ den in der ‚Antidosis‘ fehlenden Zusatz: περὶ τοῦ βασιλεύειν ἢ περὶ βασιλείας; weiter durch Weglassung der Einleitung, in der das erklärte Ziel, den Monarchien Gesetze zu geben (§ 8), das „fiktive“ athenische Publikum choquiert hätte; und durch eine Kürzung des zitierten Textes derart, dass u.a. der Ausdruck τύραννος zur Qualifikation von Nikokles’ Herrschaft verschwindet. Die Angaben sind falsch oder irreführend unvollständig. Die älteste Handschrift Γ hat für die Rede ‚An Nikokles‘ diesen Titel ohne Zusatz10; Isokrates charakterisiert in der ‚Antidosis‘ seine Rede ‚An Nikokles‘, bevor er aus ihr zitiert, sinngemäß als „Rat“ an den „König, wie man über die Bürger herrschen müsse“ (§ 67); auch der gekürzte Text bleibt mit klarem Bezug auf das „Königtum“ des Nikokles (§ 29; 31; 36/7) ein (weder promonarchischer noch prodemokratischer) ‚Fürstenspiegel‘. Schon im Ansatz ist die Konstruktion hinfällig, weil sie auf der verkehrten Voraussetzung beruht, beide Schriften seien nicht gleichmäßig an ein panhellenisches Publikum, den steten Adressaten seiner politischen Reden, gerichtet.11 Die Hilfshypothese, die gesamte ‚Antidosis‘ sei als Lehrstück der Manipulation für den internen Schulgebrauch geschrieben (114f.), verdreht für den augenblicklichen Zweck der Thesenbildung den immer wieder erörterten Sinn der Rede als grundlegende Darstellung von Isokrates’ Person und Bildungskonzept; und sie wird durch ihre bezeugte Wirkung widerlegt.12
Mit ähnlichem Verfahren demonstriert D. Lenfant in ihrer Studie über den Einfluss des Isokrates auf die westliche Sicht der griechisch-persischen Beziehungen an dessen Darstellungen der Schlacht bei Knidos (394) die „frappante“ „Manipulation“, mit der er das damalige Zusammenwirken beider Seiten unkenntlich gemacht habe (277). Dabei lässt sie im ‚Panegyrikos‘(§ 142) die klare Feststellung unberücksichtigt, dass die Soldaten des Großkönigs mit griechischer Hilfe gesiegt haben, und bestimmt für die Erzählung im ‚Philippos‘ (§ 62-64) als angeblich ernsthaft intendierten Gesamteindruck, Konon habe ohne persische Beteiligung „allein agiert“, während allerdings seine alleinige Initiative hervorgehoben, dabei aber auch ihre Bedeutung als Ursache persischen Eingreifens deutlich gemacht wird. Für die Darstellung im ‚Euagoras‘ beruft sie sich (Anm. 30) auf die Mitautorinnen A. Cannavó (243) und E. Bianco (233). Nur die letztgenannte nennt überhaupt die genaue Stelle (§55-7), jedoch ohne den sachlich dazugehörigen, für die These ungeeigneten § 55. Wo ist hier die Manipulation?
M. Bettalli geht in seinem Versuch, in Isokrates’Auffassung der Strategie eine klassenbedingte Ideologie und Verkennung des „Phänomens Krieg“ aufzuzeigen, nur in einem kleinen, bedingt aussagekräftigen Ausschnitt (§ 116-7) auf die breite Behandlung des Themas in der ‚Antidosis‘ (§ 107-128) ein (197 Anm.33); so fällt die der These widersprechende bedeutende Darlegung über den grundsätzlichen Vorrang der Politik vor der Kriegführung heraus.
In anderen Beiträgen werden Texte sinnentscheidend falsch übersetzt oder verwendet. P. Giovannelli-Jouanna lässt in ihrer Abhandlung über die ‚autobiographische Frage im Werk des Isokrates‘ ihn im Hinblick auf ‚Panathenaikos‘ (6/7) und ‚Antidosis‘ (1) von seiner Person ein Denkmal der „Einzigartigkeit“ errichten (100f.). Doch ‚ἄτοπος‘ heißt an diesen Stellen wie sonst bei ihm ‚befremdlich, unbegreiflich‘ und bezeichnet Eindrücke, die er abwehrt.13 Mit dieser Projektion übersteigerter Ich-Bezogenheit stellt sie Isokrates’ Erörterung über panhellenische Rhetorik und polisbeschränkte Gesetzgebungskunst ( Antid. 79ff.) als Selbstbild des hingebungsvoll loyalen Bürgers vor (101 Anm. 83) und sein Urteil über Timotheos, dass „er Urheber der größten Güter“ für die Stadt sei ( Antid. 135), als Aussage über sich selbst (102 Anm. 85). Das Programm, die Schüler nach seinem Vorbild in ihrer Fähigkeit zu ‚schöpferischer‘ Rede zu entwickeln, erhält in ihrer inkorrekten Übersetzung entsprechend neue Aspekte (102).14 — G. Cuniberti hingegen präsentiert Isokrates in seinen Darstellungen athenischer Geschichte des 5. Jh. als Vertreter populärer Auffassungen und verwendet dazu eine Übersetzung von ‚Panathenaikos‘ § 64, die den Sinn der Aussage in ihr Gegenteil verkehrt (211). A. Hourcade lässt ihre These von der konzeptionellen Einheit der Tätigkeiten ‚Überlegen‘ und ‚Beraten‘ bei Isokrates schon im angeblichen Zusammenfallen beider Bedeutungen im Verb συμβουλεύειν angelegt sein (137).
Die Sorglosigkeit gegenüber der Textgrundlage findet ihren geradezu prinzipiellen Ausdruck in der Behandlung der Rede ‚An Demonikos’. Völlig zu Recht stellt anfangs Martinelli Tempesta fest (23), dass sie unecht ist. Doch Hourcade benützt sie wie selbstverständlich als echt (141; 144); und der Mitherausgeber Chr. Bouchet setzt die ganze Frage als unerheblich beiseite angesichts der im ‚Demonikos‘ (§ 10) enthaltenen Entgegensetzung von φύσις und νόμος, die ihm für Isokrates passend erscheint (161). Er zitiert dabei auch G.Mathieu/E.Brémond, als verträten sie die Unechtheit der ganzen Rede allein deshalb, weil sie dieses sophistische Konzept im Gegensatz zu den Auffassungen des Isokrates sähen, als stünden ihre viel breiteren Darlegungen nicht in einer Forschungstradition, deren triftige Argumente nicht widerlegt worden sind,15 und als habe ein Beitragender im selben Band nicht in diesem Sinne geurteilt. Die Erstellung von Thesen erlaubt den souveränen Umgang mit den Texten, auch der Wissenschaft selbst.
Insgesamt bietet das Buch zu einem in seiner Schwierigkeit großenteils unterschätzten Gegenstand neben einigen guten Beiträgen zu spezifischen Themen eine Reihe disparater gesamthafter Deutungen mit zweifelhaften Voraussetzungen und Resultaten, unter ihnen auch solche, bei denen man über Solidität als Tugend des Banausen erhaben zu sein scheint.
Notes
1. J. Bons, Poietikon Pragma: Isocrates’ Theory of Rhetorical Composition, Nijmegen 1996; T. Poulakos; D. Depew (ed.), Isocrates and Civic Education, Austin 2004; T. Wareh, The theory and practice of life: Isocrates and the philosophers, Washington D.C. 2012.
2. C. Eucken, Isokrates. Seine Positionen in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Philosophen, Berlin; New York 1983, 6-18.
3. M. Trédé, Kairos. L’À-propos et l’occasion, Paris 1992, 260-282.
4. Der Beleg ( Hel.. 60) für die angeblich „sakralisierende“ Unsterblichkeit von Theseus’ Tatenruhm (314, Anm. 33) handelt in Wahrheit von der Vergöttlichung schöner Menschen. — Der Nachruhm in den weiteren zitierten Stellen (Anm. 34) heißt μνήμη, nicht δόξα, und bezieht sich auf verschiedene konkrete Personen und Leistungen, nicht auf gleiche abstrakte ,valeurs‘ (die auch vom Autor nicht näher definiert werden).- In Hel. 5 bedeutet ἐπιεικῶς δοξάζειν nicht — moralisch — „ehrenvolle Meinungen haben“ (313), sondern in Antithese zu ἀκριβῶς ἐπίστασθαι – erkenntniskritisch — ‚angemessen urteilen‘.
5. Vgl. die Bedeutung der ὀρθὴ δόξα in: Plat. Men. 97b ff.
6. C. Eucken, „Zum Konzept der πολιτικοὶ λόγοι bei Isokrates“, in: W. Orth (Hg.), Isokrates. Neue Ansätze zur Bewertung eines politischen Schriftstellers, Trier 2003, 34-42.
7. Die Ausführungen zu Paneg. 105 (256) sind verfehlt, da von Sparta hier nicht die Rede ist.
8. Dass eine Führung, Herrschaft oder Regierung im Sinne ihres eigenen Bestandes von den Untergebenen akzeptiert werden muss, ist eine innen- und außenpolitisch leitende Vorstellung des Isokrates; vgl. Hel. 32-37; Paneg. 104; Ad Nic. 21; Pac. 78; Phil. 95; Epist. 2,24; Panath. 148.
9. Die Dokumentation mit Text und Überlieferung ist teilweise falsch. In Panath. 130-131 soll gesagt sein (219), Theseus’ Monarchie sei ‚demokratisch’, während tatsächlich gesagt wird, dass das Volk die von ihm abgegebene Macht dazu nutzte, eine Demokratie, „die gerechteste und zuträglichste Verfassung“, einzurichten. — Die monarchischen Adressaten von Isokrates’ Einigungsprojekt werden kurzerhand vermehrt (220): mit Jason von Pherai, Euagoras und Nikokles von Kypros sowie Timotheos von Heraklea. — Die angebliche Geringschätzung aller großen „rassemblements populaires“ durch Isokrates soll aus der Bemerkung über die (zu politischen Entscheiden unbefugten) πανηγύρεις in Phil. 12-13 hervorgehen (221).
10. P. M. Pinto, Per la storia del testo di Isocrate, Bari 2003, 38; 103, auf den Azoulay verweist (113 Anm.20), gibt lediglich an, dass in der Handschrift Γ dieser Zusatz in der Subscriptio von anderer Hand hinzugefügt ist.
11. Dieser wichtigste Aspekt einer ‚Strategie der Rezeption‘ bei Isokrates ist bekannt; vgl. S. Usener, Isokrates, Platon und ihr Publikum, Tübingen 1994, 45.
12. Vgl. die Stellungnahme des Aristoteles zu Antid. 79-83 in EN 1181 a12-19 und F. Dirlmeier, Aristoteles, Nikomachische Ethik, Berlin 1974, 605.
13. Vgl. Antid. 74; Panath. 92; 149. — LSJ gibt die Bedeutung ‚singularity‘ nur der Stelle Plat. Smp. 215a.
14. In Isoc. Soph. 17/8 bedeutet φαίνεσθαι λέγοντας nicht “se reconnaître à leur expression“ (τῶν ἄλλων wird nicht übersetzt), und in § 12 ποιητικὸν πρᾶγμα nicht „une activité créatrice“ (für die er mit seiner Person steht), sondern ‚eine künstlerische Sache, bzw. Rede‘ (von wem auch immer).
15. G. Mathieu; E. Brémond, Isocrate I, Paris 1963, 109-117; Fr. Blass, Die attische Beredsamkeit, 2. Abt., Leipzig 1892, 278-284; E. Drerup, Isocratis opera omnia I, Leipzig 1906, CXXXIV-CXLI; C. Wefelmeier, Die Sentenzensammlung der Demonicea (Diss.Köln) Athen 1962.