BMCR 2016.03.14

Ursprung und Charakter der homerischen Jenseitsvorstellungen

, Ursprung und Charakter der homerischen Jenseitsvorstellungen. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh, 2015. 272. ISBN 9783506782328. €39.90.

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Die abendländische Literaturgeschichte in ihrer uns greifbaren Form beginnt bekanntermaßen mit einem Massensterben: Um die Beleidigung seines Priesters Chryses durch den panhellenischen Oberbefehlshaber Agamemnon zu rächen, schießt Apollon einen Pfeil ins Lager der Troja belagernden Achaier und löst somit eine tödliche Pestepidemie aus; damit nimmt der Streit zwischen Agamemnon und Achilleus seinen Anfang, der schließlich den Zorn des Achilleus auslöst, der „viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf“ ( Ilias 1.3). Gewalt und Tod bleiben in der Folge ein, ja das Wesensmerkmal, das den Gang der Handlung beider homerischer Epen bestimmt und vorwärtstreibt: hier der Krieg zwischen Achaiern und Troern, kulminierend in Achilleus’ Blutrausch, der Tötung Hektors und der anschließenden Auslösung seiner Leiche durch seinen Vater Priamos, damit Hektor in die Unterwelt eintreten kann ( Ilias 22-24); dort die Heimkehr des Odysseus nach Ithaka, die in dessen Tötung von Penelopes Freiern und deren Einkehr in den Hades gipfelt ( Odyssee 21-24). Somit ist auch die Frage nach Ursprung und Charakter der homerischen Jenseitsvorstellungen, die sich der Althistoriker Krešimir Matijević für seine Habilitationsschrift (Universität Trier 2013) zum Thema genommen hat, eine Fragestellung, die von zentralem Interesse für den an Homer wissenschaftlich Interessierten ist. In zehn Kapiteln unterschiedlicher Länge nimmt sich der Autor gemäß eigener Aussage die „Untersuchung der frühesten griechischen Ideen zu dem, was den Menschen im Jenseits erwartet“, vor, verbunden mit dem Anspruch, „den Ursprung der frühen griechischen Jenseitsvorstellungen zu untersuchen“ (Einleitung, S. 11). Anders gesagt: Matijevićs Arbeit ist ideengeschichtlich ausgerichtet und an der Methode der Einflussforschung orientiert; spezifisch literaturwissenschaftliche Ansätze fehlen. Der Autor sieht die Epen Homers primär mit den Augen des Historikers als ‚Dokumente‘, die die zu untersuchenden Jenseitsvorstellungen und ihre ‚Ursprünge‘ zu ‚bezeugen‘ vermögen. Wie noch zu zeigen sein wird, führt diese Optik an gewissen Stellen zu ‚blinden Flecken‘ vonseiten des Autors.

Im ersten Kapitel (S. 15-23), dessen Titel „Prolegomena zu den homerischen Epen“ sich an das Gründungsdokument der Homerforschung, Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum (1795), anlehnt, werden einige wichtige Prämissen der Studie vorgestellt. Während Matijević der neoanalytischen Position, „dass Homer nicht nur ausgewählt, sondern dezidiert ihm bekannte [Mythen-]Versionen verschwiegen oder im großen Umfang selbständig abgewandelt haben soll“ (S. 15, Anm. 1), ablehnend gegenübersteht (das Thema wird in Kap. 2.7 [S. 56-59] noch einmal ausführlicher behandelt), folgt er in seinem Ansatz der Schule, die von einer Einheit der Autorschaft von Ilias und Odyssee ausgeht. Dabei bleibt erstaunlicherweise unerwähnt, dass diese Position in der Homerforschung dieser Tage eine klare Minderheitenmeinung darstellt, wogegen die communis opinio von zwei unterschiedlichen Autoren ausgeht.1 Das Problem ist für Matijevićs Untersuchung jedoch insofern von untergeordneter Bedeutung, als er die ‚homerische Religion‘ ohnehin nicht als „eine vom Dichter konstruierte und folglich nur für ihn repräsentative Vorstellungswelt“ (S. 15-16) ansieht, sondern annimmt, dass das homerische Jenseitsbild im Großen und Ganzen als repräsentativ für eine ‚archaisch‘-‚panhellenische‘ Gesamtperspektive zu erachten sei.

Das Elysion—ein für ausgewählte Menschen nach ihrem Tod vorgesehenes ‚Paradies‘, welches in den homerischen Epen konkurrierend neben der Hadesvorstellung steht—ist Gegenstand des zweiten Kapitels (S. 25-64). Matijević referiert und diskutiert verschiedene Thesen zur Herkunft dieses mit der verbreiteten homerischen Unterweltsvorstellung scheinbar unvereinbaren Jenseitskonzepts (es existieren Theorien, die wahlweise einen germanischen, minoischen, ägyptischen oder mesopotamischen Hintergrund annehmen) und zeigt dabei auf, dass die jeweiligen Thesen, die sich i.d.R. auf einzelne motivische Übereinstimmungen stützen, jedoch Differenzen allzu bereitwillig übersehen, höchstens bedingt zu überzeugen vermögen. Im Zusammenhang mit der Diskussion der minoischen Ursprungsthese (d.h. der von Ludolf Malten erstmals vertretenen und von Martin P. Nilsson popularisierten Auffassung, dass die homerische Elysionsvorstellung auf vorkretische [= minoische] ‚Spuren‘ verweise) macht Matijević zu Recht darauf aufmerksam, „dass widersprüchliche Glaubensvorstellungen nicht zwingend verschiedenen Kulturen entstammen müssen“, sondern „dass der Mensch zu antiken wie modernen Zeiten gerade auch im Bereich der Totenehrung gleichzeitig an unterschiedliche und sich—rational gesehen—widersprechende Aspekte glauben konnte“ (S. 36); denn „[u]nterschiedliche Vorstellungen können nebeneinander existiert haben, ohne in irgendeiner sinnvollen Weise miteinander kombinierbar zu sein“ (S. 43). Dies ist eine in ihrer Tragweite kaum zu überschätzende Grundsatzaussage, die zum einen weitreichende Konsequenzen bezüglich der Problematik der Einflussforschung hat (eine Erkenntnis, die sich in der Literaturwissenschaft längst durchgesetzt hat, wo Quellenforschung heute verpönt ist) und zum anderen auch eine generelle Einsicht in Denkmuster bietet, welche sich von rational-logischen Denkschemata unterscheiden. Das Denken des ‚sowohl—als auch‘—das Neben- und Miteinander von Widersprüchlichem ohne eine sich daraus ergebende Notwendigkeit, die Widersprüche rational aufzulösen—ist m.E. charakteristisch nicht nur für den Bereich des Religiösen, den Matijević untersucht, sondern für mythisches Denken überhaupt, welches mit dem Religiösen ja eng verwandt ist. An diesem Punkt besteht Bedarf nach weiterführenden Untersuchungen und Überlegungen.2

Priamos’ Gang zu Achilleus zwecks Auslösung von Hektors Leiche in Ilias 24 wird in der Homerforschung oft als ‚verkappte‘ Katabasis interpretiert. Matijević zeigt in seinem dritten Kapitel (S. 65-99), dass die hierfür vorgebrachten Argumente oft eher das Ergebnis von Überinterpretation sind und einer genaueren Prüfung nicht standhalten. So spricht (um nur ein Beispiel herauszugreifen) der Umstand, dass Priamos seine Reise in der Nacht antritt, kaum für eine im Hintergrund stehende Unterweltsreise, sondern ergibt sich schlichtweg aus dem äußeren Umstand, dass Priamos auf dem Weg ins Lager seiner Feinde möglichst unentdeckt bleiben will (Kap. 3.2, S. 79-82). Der Autor kommt somit zum Schluss, dass es „unter den vorgeblich zahlreichen Hinweisen auf eine symbolische Katabasis im letzten Buch der Ilias kein einziges überzeugendes Indiz für eine Unterweltsreise [gibt]“ (S. 90). Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wäre hier allerdings doch die Frage zu stellen, ob sich Anklänge an einen Unterweltsgang in jedem Punkt so klar ‚widerlegen‘ lassen; eine katabatische Lesart mag vielleicht nicht der ursprünglichen Autorintention entsprechen, doch ist eine solche Interpretation zumindest rezeptionsästhetisch gesehen auch wieder nicht völlig an den Haaren herbeigezogen: Wer wie Priamos, vom Alter geschwächt und von Verzweiflung getrieben, sich nachts ins Lager der Todfeinde begibt, macht sich auf eine Reise, die eine Grenzerfahrung mit sich bringt, welche (zumindest punktuell) durchaus Assoziationen an eine Unterweltsfahrt zu wecken vermag.

Odysseus’ Gang in die Unterwelt in Odyssee 11, der sog. Nekyia, ist „zwar die ausführlichste Schilderung einer Unterweltsreise in den Gedichten Homers, in den Einzelheiten wird diese allerdings höchst kontrovers diskutiert, und auch in ihrer Gesamtheit ist sie von großen Teilen der Forschung ihrer zahlreichen Widersprüche wegen als nicht originärer, früherer oder auch späterer Teil der Odyssee angesehen worden“ (S. 101). Im vierten Kapitel von Matijevićs Arbeit (S. 101-122) wird in der Hauptsache gezeigt, dass die Nekyia ein in sich stimmiges Ganzes bildet, das einen integralen Bestandteil der Odyssee darstellt. Ferner wird die alte Streitfrage, ob es sich bei Odysseus’ Begegnung mit den Toten um eine ‚echte‘ Katabasis oder ‚bloß‘ um eine Nekromantie (oder aber um eine anfängliche Nekromantie, die im Verlaufe der Erzählung in eine Katabasis ‚übergleitet‘) handle, dahingehend beantwortet, dass „es nicht ausgeschlossen werden [kann], dass die Beschwörung der Toten ursprünglich eine conditio sine qua non der Katabasis gewesen ist, beispielsweise um unter den Heerscharen von Toten die ‚richtigen‘ herbeizurufen. Hierauf könnte hindeuten, dass Odysseus vor dem eigentlichen Opfer insbesondere Teiresias, den zu treffen ja das Ziel des Unternehmens ist, ein weiteres Opfer für die Zukunft verspricht“ (S. 111).

Es folgt sodann ein Kapitel zu „Jenseitsstrafen und Verfolgung aus dem Jenseits“ (Kap. 5, S. 123-142), wo gezeigt wird, dass der Hades als Ort der Bestrafung von Sündern entgegen anderweitiger Forschungsmeinung keineswegs im Widerspruch zum übrigen homerischen Unterweltskonzept steht. Dementsprechend ist der Umstand, dass Verstorbene im Hades trotz Verlust ihrer Körperlichkeit bestraft, ja gemartert werden können, kongruent mit der Vorstellung, dass sie zu Sinnesempfindungen fähig sind, ihre intellektuellen Fähigkeiten nach dem Tod nicht eingebüßt haben und sowohl miteinander wie auch mit Lebenden interagieren können (Kap. 6, S. 143-156). „Woran es den Bewohnern der Unterwelt fehlt, ist allein die notwendige körperliche Präsenz, um mittels der physischen Organe bzw. ‚Körper-Seelen‘ an der Welt der Lebenden teilnehmen zu können“ (S. 154).

Auf drei kurze Kapitel zur Rückkehrmöglichkeit aus dem Hades (Kap. 7, 157-159), zum Wort ψυχή (Kap. 8, S. 161-164) und zur Echtheitsfrage von Odyssee 24, der sog. Deuteronekyia (Kap. 9, S. 165-171; die Echtheitsfrage wird abschlägig beantwortet, da das vermittelte Hadesbild, im Besonderen aber die ‚unhomerische‘ Rolle des Hermes als ψυχοπομπός, auf eine spätere Abfassung hindeute), folgt das letzte und ausführlichste Kapitel, in welchem die alte Frage nach den mesopotamischen Einflüssen auf die homerischen Epen einer erneuten Prüfung unterzogen wird (Kap. 10, S. 173-212). Wie zu erwarten, steht dabei die Rolle des akkadisch-sumerischen Gilgamesch-Epos im Zentrum. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die einzelnen pro- und contra- Argumente aufzurollen und detailliert zu würdigen; es muss genügen, Matijevićs grundsätzliche Auffassung mitzuteilen, dergemäß Gemeinsamkeiten zwischen mesopotamischen Texten und den homerischen Epen oft „nur einer oberflächlichen Prüfung stand[halten]“, wohingegen „sich bei näherem Hinsehen deutliche Unterschiede [offenbaren], die eine direkte inhaltliche Verbindung äußerst unwahrscheinlich machen“ (S. 180). Im ‚Nachgang‘ der wegweisenden Arbeiten von Walter Burkert und Martin L. West in den 1990er-Jahren ist die Annahme einer ‚Abhängigkeit‘ frühgriechischer Texte von orientalischen ‚Quellen‘ (ja zuweilen sogar die eines ‚Dialogs‘ zwischen den Kulturen) heute wieder verstärkt en vogue, während eine kritische Haltung wie die Matijevićs eher eine Ausnahme darstellt.3 Der Rezensent ist selber nicht Spezialist auf diesem Gebiet und muss es deshalb unterlassen, die ‚Richtigkeit‘ der einen oder anderen Sichtweise abschließend zu beurteilen; aus der Optik eines Literaturwissenschaftlers möge man mir jedoch folgende Bemerkung erlauben: Ist es nicht erstaunlich (und zu einem gewissen Grad auch widersprüchlich), dass die Klassische Philologie die traditionelle Quellenforschung, die die ‚Abhängigkeit‘ eines griechischen oder lateinischen Textes von einem (zeitlich vorausgehenden) griechischen oder lateinischen Text aufgrund ‚positiver Befunde‘ zu untersuchen sich anschickt, heutzutage größtenteils ablehnt – eine weiter gefasste Altertumswissenschaft dasselbe Prinzip in einem anderen Kontext aber doch wieder anwendet, wenn es darum geht, den Einfluss von Motiven und Erzählstrukturen aus frühorientalischen Kulturen und Sprachen auf die frühgriechischen Epen nachzuweisen? In diesem Sinne muss ich Matijevićs methodologischer Grundsatzkritik zustimmen (S. 178-179): „Die weitaus größte Kritik an einer bloßen Gegenüberstellung von Details aus mesopotamischen und griechischen Texten liegt […] darin begründet, dass der Identifizierung von ‚Ähnlichkeiten‘ […] eine Definition der Kriterien, auf deren Grundlage diese Beobachtung beruht, vorangehen müsste. Was bedeutet ‚ähnlich‘ oder ‚exactly similar‘, und welche Voraussetzungen sind zu erfüllen, damit etwas mit Sicherheit oder einiger Wahrscheinlichkeit seinen ‚Ursprung‘ in einer anderen Kultur hat?“

Fazit: Matijević vertritt eine Minderheitenmeinung, wenn er in seiner Zusammenfassung schreibt, dass „[a]ls Ergebnis dieser Studie […] festzuhalten [sei], dass bislang keine überzeugenden Argumente vorgebracht wurden, die gegen einen genuin griechischen Kern der homerischen Jenseitsvorstellungen sprechen“ (S. 218). Man mag diese Schlussfolgerung teilen oder nicht – die grundsätzlichen methodologischen Bedenken des Autors sind in jedem Fall Ernst zu nehmen. Weiterzudenken bzw. in weiteren Zusammenhängen zu untersuchen wäre ferner Matijevićs Aussage bezüglich der Widerspruchsfähigkeit religiöser Vorstellungen innerhalb ein- und derselben Kultur und Vorstellungswelt. Künftige Untersuchungen, die sich mit Jenseitsvorstellungen in antiken Kulturen befassen, haben Matijevićs Arbeit zur Kenntnis zu nehmen und zu diskutieren. Eine Ausweitung der Perspektive auf spezifisch literaturwissenschaftliche Fragestellungen wäre m.E. zu begrüßen.

Notes

1. Prominenter Vertreter der These von nur einem Autor, der sowohl Ilias wie Odyssee geschrieben hat, ist Richard Janko; vgl.: „πρῶτον τε καὶ ὕστατον αἰὲν ἀείδειν: relative chronology and the literary history of the early Greek epos“, in: Øivind Andersen / Dag T.T. Haug (Hrsg.), Relative Chronology in Early Greek Epic Poetry, Cambridge (2012) 20-43.

2. Vgl. dazu z.B. Hans-Ulrich Rüegger, „Über die Entstehung der Arten. Philologische Gedanken über Schöpfung und Evolution“, in: Theologische Zeitschrift 70 (2014) 162-177 (Zitat: 172): „Sowenig wir von einem Schiff erwarten, dass es flugtauglich ist, so wenig können wir von einem Mythos erwarten, dass seine Aussagen nach den raum- zeitlichen Kategorien der geistigen Vernunft wahr seien. Mythen sind anders.“ Ich verwende für dieses Phänomen in meiner eigenen, in Arbeit befindlichen Habilitationsschrift ( Herakles in der griechischen und lateinischen Hexameterdichtung. Studien zur Narrativität und Poetizität eines Helden) den Begriff der ‚Widerspruchsfähigkeit des Mythos‘.

3. Walter Burkert, The Orientalizing Revolution. Near Eastern Influence on Greek Culture in the Early Archaic Age, Cambridge, Mass.; London (1992); Martin L. West, The East Face of Helicon. West Asiatic Elements in Greek Poetry and Myth, Oxford (1997). Neueren Datums ist die Monographie von Johannes Haubold, Greece and Mesopotamia. Dialogues in Literature, Cambridge (2013), die Matijević erstaunlicherweise nicht berücksichtigt. Eine kritische Haltung gegenüber der ‚Abhängigkeits-‘ und/oder ‚Dialogizitätsthese‘ zwischen den homerischen Epen und dem Gilgamesch-Epos nimmt in jüngerer Zeit auch Thomas A. Szlezák ein: vgl. dessen Ausführungen in Homer oder Die Geburt der abendländischen Dichtung, München (2012) 217-239.